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19.09.2020

08:49

11. Berlin Biennale

Eine Ausstellung postuliert die Menschenwürde und fordert Solidarität

Von: Christian Herchenröder

Der 11. Ausgabe der Berlin Biennale fehlt es nicht an Brisanz. Die Ausstellung geißelt den Kapitalismus, die Abholzung der Wälder und überdenkt die Geschlechterrollen.

Die Installationsansicht zeigt Werke lateinamerikanischer Künstler aus dem Museo de la Solidaridad Salvador Allende. Schauplatz ist der Gropius-Bau in Berlin. Mathias Völzke

Politischer und kultureller Widerstand

Die Installationsansicht zeigt Werke lateinamerikanischer Künstler aus dem Museo de la Solidaridad Salvador Allende. Schauplatz ist der Gropius-Bau in Berlin.

Berlin Das Video hat es in sich. Eine argentinische Dragqueen tanzt in einer Müllhalde einen einsamen, bis zur Erschöpfung führenden Tanz. Was auf den ersten Blick folkloristisch anmutet, ist eine intensive choreographische Klage. Der Gesang, der diesen Tanz begleitet, geißelt den Kapitalismus, die Abholzung der Wälder, den Rassismus, die Auslöschung der indigenen Wurzeln. Die Ambivalenz von Tanz und Ton wird aufgehoben durch die Sprengkraft der Aussage. Diese Videoarbeit im Gropius Bau ist ein eindringlicher Beitrag zur 11. Berlin Biennale, die den prägnanten Titel trägt „Der Riss beginnt im Inneren“.

Es ist die gesellschaftspolitisch fesselndste aller Berlin Biennalen. Die drei südamerikanischen Kuratorinnen Maria Bérrios, Renata Cervetto, Lisette Lagnado und der Spanier Agustin Pérez Rubio haben für die vier Stationen der Schau Kunst ausgewählt, die sich gegen jede Art von Diskriminierung richtet. Viele der ausgestellten Werke sprengen die Grenzen von Öffentlichem und Privatem und überdenken Geschlechterrollen. Sie überwinden die Grenzen von Fiktion und Realität, feiern das Nonkonforme, fordern Solidarität und postulieren Menschenwürde.

Feministische Positionen und die Auflösung des traditionellen Männerbildes sind das Thema zahlreicher Arbeiten, die sich von der stark vertretenen Zeichnung bis zur raumgreifenden Installation spannen. Die interessantesten Werke sind im gesamten zweiten Stock des Gropius Baus und im KW Institut ausgestellt. Hier gewinnt das Überzeugende Bildkraft, was in den zum Teil verquasten Texten der Kuratorinnen eher abschrecken könnte.

Wer kann schon mit solchen Stilblüten etwas anfangen: „Emanzipatorische Kosmologien und Sexualitäten bauen private und kollektive Gegenkirchen, queere und transfeministische Tempel, die sich der Taktik der Angst und des Fanatismus der Autokrat*innen und ihren makabren Prozessionen stellen.“

Von diesem Gesinnungspathos sollte man sich nicht beirren lassen. Denn immer wieder fesselt die Bildkraft der Ausstellung. Die mutierten kopulierenden Wesen in den großformatigen Zeichnungen der Argentinierin Florencia Rodriguez Giles rahmen im großen Saal des KW Instituts einen Kreis in Kreuzigungs-Haltung liegender Figuren. Diese Arbeit des Südkoreaners Young-Jun Tak verkörpert die religiösen Fanatiker, die alljährlich die Pride Parade in Seoul blockieren. Diese „Gekreuzigten“ sind mit Hetzflyern aus Gemeinden, Kirchen und medizinischen Einrichtungen ummantelt, die queere Lebensformen attackieren.

Die Installation „Lost Memory“ aus dem Jahre 2018 ist im KW Institut zu sehen. Silke Briel

Małgorzata Mirga-Tas

Die Installation „Lost Memory“ aus dem Jahre 2018 ist im KW Institut zu sehen.

In den oberen Räumen überzeugen noch andere Arbeiten. In figurativen Patchwork-Wandschirmen porträtiert die Polin Malgorzata Mirga-Tas Frauen mit Vorbildfunktion, die in starken Farben als Protagonistinnen der Roma-Geschichte figurieren.

Wiederzuentdecken ist die Malerei der Jungen Wilden Galli (Anna-Gabriele Müller), die mit fragmentierten Körpern und Gliedmaßen eine elementare Körperlichkeit heraufbeschwört. Sie ist kraftvoller als vieles, was zur gleichen Zeit von ihren männlichen Kollegen geschaffen wurde.

Kampfsport im Brokatgewand

Von der Inuit-Kultur geprägt sind die Farbzeichnungen der Kanadierin Shuvinai Ashoona, die surreale Visionen mit traditionellen Motiven verbindet. Eine Dreikanal-Video-Installation der Peruanerin Elena Tejada-Herrera zeigt Frauen in Brokatgewand, die sich im Kampfsport stählen.

Mit Arbeiten der von Sandra Gamarra Heshiki beginnt der Rundgang im Gropius Bau. Die Peruanerin übt fundamentale Kritik an dem europäischen Blick auf die Artefakte ihrer Vorfahren. Zweidimensionale Abbilder von Inka-Keramiken, die sie in Museumsvitrinen ausbreiten, sind auf der Rückseite mit geringschätzigen Bezeichnungen der indigenen Völker Südamerikas beschriftet.

Ein dunkler Raum mit magischen Lichtquellen ist die Installation der Brasilianerin Aline Baiana, die mit fünf schweren Steinen das Sternbild „Kreuz des Südens“ nachstellt, Sinnbild einer ökologisch verheerenden Ausbeutung von Bodenschätzen.

Auch Museumsstücke erscheinen in dieser Schau. Eine Kollektion von Gemälden und Papierarbeiten des brasilianischen Museu de Arte Osório Cesar gibt Patienten und Patientinnen aus psychiatrischen Kliniken eine Stimme. Auch hier steht die Diskriminierung indigener Menschen und ihre oktroyierte Anpassung im Blickpunkt.

Vom Leben in den Tod

Bewegend sind die Kreideporträts von Flávio de Carvalhos sterbender Mütter, die krasse Momente des Übergangs vom Leben in den Tod festhalten: sehr persönliche Leidbewältigung. Gegenüber sind Grafiken von Käthe Kollwitz aufgereiht, in denen zentrale Blätter zum Bauernkrieg und zum Weberaufstand das Volk als aufbegehrende Masse zeigen.

Eine starke kollektive Würdigung erfahren Werke lateinamerikanischer Künstler aus der Periode 1971-1973, die während der Amtszeit Salvador Allendes in das in Chile entstandene Museo de la Solidaridad aufgenommen wurden. Nach dem Sturz des Politikers wurde dieser Bestand in alle Winde zerstreut, 1975 bis 1989 als Exilmuseum auf Wanderschaft neu aufgebaut und nach der Re-Demokratisierung des Landes 1992 als Ausstellungsinstitut wiederbelebt.

Drei Arbeiten der „Jungen Wilden“ Galli alias Anna-Gabriele Müller. Silke Briel; VG Bild-Kunst, Bonn für Galli

Wiederentdeckung

Drei Arbeiten der „Jungen Wilden“ Galli alias Anna-Gabriele Müller.

Der Fokus der Berliner Auswahl liegt auf Werken, die dem kulturellen und politischen Widerstand verpflichtet sind. Ein acht Meter breiter Blickfang der Ausstellung ist das aus farbigen Stoffstücken zusammengenähte Revolutionsbild „Menschenmenge III“ von 1982, in dem das Volk als untrennbare Einheit erscheint.

Mit solchen Werken, die starke lateinamerikanische Positionen fördern, den kollektiven und privaten Blick gleichermaßen berücksichtigen, das Unterbewertete und Unterdrückte thematisieren, hat diese 11. Berlin Biennale einen starken Aufklärungseffekt. Sie stellt Themen und Künstler zur Diskussion, die eines zweiten Blickes wert sind und die seit September 2019 in einem von der Biennale belebten Raum bei Ex-Rotaprint in Berlin-Wedding erarbeitet wurden. Man darf davon ausgehen, dass diese Ausstellung noch lange nachwirken wird.

Die 11. Berlin Biennale läuft bis zum 1. November 2020. Der Führer kostet 7 Euro.

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