Die älteste internationale Ausstellung der Welt rückt übersehene Künstlerinnen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ihre Werke kreisen um Surrealität, Verunsicherung und die Auflösung der Werte.
Blick in die Ausstellung „The Milk of Dreams. Biennale Arte 2022“ im Arsenale
Der Rundraum, mit dem die zentrale Ausstellung im Arsenale eröffnet wird: In der Mitte „Brick House“ von Simone Leigh, an den Wänden Belkis Ayons Druckserie „Resurreccion“.
Bild: Roberto Marossi; La Biennale di Venezia 2022
Venedig Alles ist anders bei der 59. Kunst-Biennale von Venedig. Statt in ungeraden Jahren findet sie Pandemie bedingt nun in geraden Jahren statt. Und der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine bleibt auch hier nicht außen vor. Der Russische Pavillon von 1914 ist geschlossen. Die Ukrainer haben in den Giardini eine Skulptur mit Sandsäcken geschützt, so wie sie es in der bombardierten Heimat tun. Drumherum finden Diskussionen und Begegnungen zwischen Besucherinnen und Künstlern statt.
Als Thema hat sich Cecilia Alemani, die Kuratorin der 59. Biennale von Venedig, passend zur Covid-Ära, die Fragilität des menschlichen Körpers gewählt und seine Verbundenheit mit der wandelbaren Natur. Beim Kapitel „Mensch und Maschine“ zeigt sie verblüffende Computerbilder der heute achtzigjährigen Schwedin Ulla Wiggen aus den sechziger Jahren. Oder die lustvolle Annäherung von Lenora de Barros an die Schreibmaschine von 1979.
Alemani arbeitet in New York als Direktorin der viel gelobten High Line Art, wo sie Kunst ins begrünte Gleisbett ehemaliger Güterzüge holt. Der Italienerin ist in Venedig eine bemerkenswert stimmige Zeitanalyse gelungen. Sie kann, anders als ihre Vorgängerin, große Räume inszenieren.
Cecilia Alemani spannt einen Bogen vom gefährlich grün gefärbten Abguss einer Elefantenkuh von Katharina Fritsch – ein bedrohtes Tier und nicht der Mensch auf hohem Sockel – bis zu einem in den nächsten Monaten wild wuchernden tropischen Garten. So attraktiv dessen Anlage scheint, Precious Okoyomon hat verschiedene Pflanzen gewählt, die für sie negativ konnotiert sind. Für die Künstlerin, Dichterin und Stammeschefin ist Zuckerrohr eng mit dem Sklavenhandel verbunden.
Zwischen diesen beiden Polen flanieren die Besucher allein in der zweiteiligen Hauptausstellung an 1500 Werken von 213 Künstlerinnen und Künstlern aus 58 Ländern vorbei. Der Charme von Alemanis Schau besteht darin, dass mehr Künstlerinnen denn je einen Auftritt bekommen. Und dass die einschlägigen Kunstmarktgrößen, nicht nur die männlichen, diesmal überwiegend das Nachsehen haben.
Piazza Ukraina
Die Ukrainer haben in den Giardini eine Skulptur mit Sandsäcken geschützt, so wie sie es in der bombardierten Heimat tun.
Bild: IMAGO/Matteo Chinellato/ipa-agency.n
„Wir leben in einer sexistischen Gesellschaft. Da kann von Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern leider noch keine Rede sein. Und auch die Biennale hat stets mehr Männer ausgestellt als Frauen“, sagt die Wahl-New Yorkerin dem Handelsblatt. Durch ihre den Diskurs über Diversität bereichernde Auswahl rücken übersehene Positionen ins Bewusstsein der Kunstszene.
Häufig gelingen Cecilia Alemani nicht nur Aneinanderreihungen, sondern überzeugende Gegenüberstellungen. Absolut einnehmend ist in den Giardini, wie die großen, einfarbigen Strickbilder von Rosemarie Trockel die irisierenden Glas-Skulpturen der Rumänin Andra Ursuta hinterfangen.
Rosemarie Trockel und Andra Ursuta
Im Ausstellungsteil in den Giardini gehen Ursutas irisierende Glas-Skulpturen mit Trockels Strickbildern eine gelungene Zwiesprache ein.
Bild: Marco Cappelletti; La Biennale di Venezia 2022; VG Bild-Kunst, Bonn 2022 für Trockel
Ursuta inspiriert sich in Horrorfilmen. Bei ihr wachsen den fragilen, durchschimmernden Frauenkörpern Tierklauen an Stelle der Füße, Luftballons ersetzen die Arme. Durch Trockel kommt der subversiv feministische Aspekt der Handarbeit von Frauen, ihrer kostenlosen Tätigkeit im Haushalt zum Bild der Tier-Frau dazu.
Das Arsenale eröffnet Alemani mit einem Rundraum. An den Wänden hängt Belkis Ayons raffinierte Druckserie „Resurreccion“. In grandiosen Abstufungen von grau erzählt der bereits 1999 verstorbenen Kubaner vom Treiben einer afro-kubanischen Bruderschaft. In der Saalmitte ruht jene monumentale Schwarze Frauenbüste, die 2019 für die High Line in Auftrag gegeben wurde: „Brick House“ von Simone Leigh ist halb Afroamerikanerin, halb afrikanisches Haus.
Simone Leigh wurde mit vielen Preisen bedacht, 2018 mit dem Hugo Boss Preis. Doch den meistern Besuchern, dürfte erst durch die Biennale aufgehen, welche unvergessliche Bilder die 55-jährige Bildhauerin für Unterdrückung Schwarzer Frauen findet.
Blick in den Polnischen Pavillon
Małgorzata Mirga-Tas erzählt in zwölf genähten Bildern die Geschichte der Roma. Renaissance-Fresken aus Ferrara haben die raumhohen Werke inspiriert.
Bild: Daniel Rumiancew; Zachęta —National Gallery of Art
Leigh arbeitet in vielerlei Materialien, in Bronze, Keramik und Bast. Das zeigt der US-Pavillon sehr anschaulich. Erstmals darf ihn eine Schwarze Künstlerin bespielen. Der Rundgang macht klar, Leigh kennt die Kunstgeschichte von den alten Ägyptern bis zu Brancusi und Maillol sehr gut und macht ihre politische Botschaft durch Anverwandlung deutlich.
Zurück zum Arsenale und Alemanis Konzept. Etwas weiter hinten hängen markante schwarz-weiße Gemälde der Brasilianerin Solange Pessoa in Serie: bizarre Tiere und Mischwesen in betonter Kontur. Daneben entfaltet sich stark plastisch ein roter totemähnlicher Kopf in den Raum.
Für die drei Meter hohen, stark dreidimensionalen „Masken“ verwendet die 29-jährige Kanadierin Tau Lewis Stoffe, Leder, flauschiges Kinderspielzeug und Plastik. Sie sind aufgeladen mit Symbolen und der Magie afrikanischer Yoruba-Masken. Beide Künstlerinnen erzählen von Metamorphosen. Inszeniert sind diese so, dass der Flaneur etwas davon hat.
Blick in eine Zeitkapsel im Arsenale
Die replizierten, mannshohen Maskenfiguren des Ehepaars Lavinia Schulz und Walter Holdt setzen starke Akzente: Die „Toboggan Frau“ von 1924 oder die „Technik“ tänzeln geradezu auf ihrem Laufsteg.
Bild: Susanne Schreiber
Die Biennale-Kuratorin blickt aber nicht nur auf die Kunst von heute. Sie hat fünf optisch klar abgehobene „Zeitkapseln“ inszeniert und dazwischen gestreut. „Denn dieselben Themen finden sich auch bei älteren Künstlerinnen, die von der Kunstgeschichte weitgehend übergangen wurden,“ begründet Alemani ihren Rückblick.
Die erste Zeitkapsel mit sattgelbem Teppich und goldenen Wänden heißt „The Witch’s Cradle“. Sie widmet sich dem Surrealismus jenseits der Marktheroen. In Vitrinen geschützt sind Positionen der 1920er- bis 1960er-Jahre zu bestaunen, Bilder, Marionetten und Zeichnungen mysteriöser Verwandlungen von Remedios Varo, Edith Rimmington und Alice Rahon.
Im Arsenale gibt es Zeitkapseln zum Gedanken, dass der Körper ein Gefäß ist, und zur Verführung durch den Cyborg. In letzterer setzen die replizierten, mannshohen Maskenfiguren des Ehepaars Lavinia Schulz und Walter Holdt starke Akzente: Die „Toboggan Frau“ von 1924 oder die „Technik“ tänzeln geradezu auf ihrem Laufsteg.
Cecilia Alemanis Biennale-Beitrag ist ein überzeugender Parcours zum Thema Verwandlung. Viele starke Kunstwerke und Inszenierungen werden in Erinnerung bleiben. Doch so vielstimmig die Tour de Force auch ist, bisweilen mag sich ein Überdruss an Bildern gemalter Metamorphosen einstellen. Etwa wenn Bilder in naiver Bildsprache gemalt oder aus Perlen gestickt sind.
Spüren, was Künstler von heute bewegt. Seit 1895 lädt die Stadt an der Lagune zum Besuch der ältesten und wichtigsten Kunstschau der Welt.
Es gibt einige wenige Videos. Was aber fehlt, sind die packenden Filme, die Jeremy Shaw auf höchstem technischen Niveau realisiert hat. Zu sehen waren seine Videos zu menschlichen Metamorphosen jüngst in der Julia Stoschek Collection in Berlin und Düsseldorf.
Cecilia Alemanis Biennale-Beitrag lohnt gleichwohl eine Reise nach Venedig, viel mehr als die Länderbeiträge in den Pavillons. Die enttäuschen oder langweilen reihenweise. Die Wahl-Schweizerin Latifa Echakhch will mit angesengten und verbrannten Spanholz-Figurinen im Schweizer Pavillon den Frühlingsanfang feiern. Doch solches Brauchtum kennen nur die Zürcher und die Düsseldorfer. In Kriegszeiten aber wirkt das Spiel mit dem (reinigenden) Feuer deplatziert.
Frankreich erzählt die Lebensgeschichte der Filmregisseurin Zineb Sedira aufwendig nach, mit Filmstudio, Tangotänzern und Büchertapete. In Frankreich von algerischen Eltern geboren und aufgewachsen, stehen in „Träume haben keinen Titel“ am Beispiel von Sediras Biografie Entwurzelung, Diskriminierung und Rassismus im Mittelpunkt.
Im Japanischen Pavillon spielt das Kollektiv Dumb Type mit Laserschrift - unverbindlich, zeitenthoben, nichtssagend. Der Spanische Pavillon dürfte Puristen gefallen: Nichts als weiße Wände, von denen Ignasi Aballi einige um zehn Grad versetzt hat. Kaum wahrnehmbar.
Blick in den Österreichischen Pavillon
Die Rauminstallation „Soft Machine“ von Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl greift auf die 1970er-Jahre, ihre Mode, Design und Farbwelten zurück.
Bild: Jakob Lena Knebl and Ashley Hans Scheirl; VG Bild-Kunst für Knebl
Tiefschürfend geht es im Deutschen Pavillon zu. Die Konzeptkünstlerin Maria Eichhorn hat in „Relocating a Structure“ den kleinen Ursprungsbau, den Bayerischen Pavillon von 1909, freilegen lassen. Der Putz ist abgeschlagen, der Boden aufgerissen und ausgebuddelt. 1938 haben die Nazis den Bau stark erweitert zu seiner heutigen Form. Damit stellt sich Eichhorn sehr direkt in eine Linie mit Hans Haackes schollenartig aufgehacktem Fußboden von „Germania“ im Jahr 1993 am gleichen Ort.
Dystopisch ist der Blick auf eine Familie von Landwirten im Dänischen Pavillon. Uffe Isolotto hat Vater und Mutter als Zwitter zwischen Pferd und Mensch hyperrealistische Skulpturen gestaltet. Schon bevor man die Toten entdeckt, ist die Atmosphäre dräuend unheimlich.
Der Deutsche Pavillon
Die Konzeptkünstlerin hat in „Relocating a Structure“ den kleinen Ursprungsbau, den Bayerischen Pavillon von 1909, freilegen lassen. Der Putz ist abgeschlagen, der Boden aufgerissen und ausgebuddelt. 1938 haben die Nazis den Bau stark erweitert zu seiner heutigen Form.
Bild: Maria Eichhorn / VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Jens Ziehe
Ganz anders, bunt, fröhlich die „Soft Machine“ im Österreichischen Pavillon. Die Künstler*innen Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl gestalten „Begehrensräume“ mit einem Rückgriff auf die 1970er-Jahre, ihre Mode, Design und Farbwelten.
Zum ersten Mal darf mit Malgorzata Mirga-Tas eine Roma im Polnischen Pavillon ausstellen und die oft Übersehenen sichtbar machen. Die 44-Jährige geht von der Struktur des zwölfteiligen Renaissance-Freskenzyklus im Palazzo Schifanoia in Ferrara aus. Sie übernimmt in ihrem Akt des Re-Framing und der Überschreibung nur die mittigen Tierkreiszeichen.
Die oberen Bildfelder für die Heldenstory ersetzt die Künstlerin durch den stereotypen Blick auf Roma wie ihn der Kupferstecher Jean-Jacques Callot geprägt hat. Die unteren zeigen Alltagsszenen aus der Familie und dem Dorf der Künstlerin. Mirga-Tas lässt alle 36 Bilder von Familienangehörigen als Bildteppiche nähen und porträtiert diese dann auch.
Die Welt hängt momentan an einem seidenen Faden. Da ist bemerkenswert, dass etliche Künstlerinnen erzählerische, aber auch abstrakte Bilder nähen oder weben. Bei den meisten Arbeiten bleibt die alte Forderung an das Kunstwerk nach Fortschritt und formaler Erneuerung auf der Strecke. Aber zurzeit dreht sich der Diskurs um Diversität und Inklusion derer, die bislang am Rand zu stehen hatten.
„Milk of Dreams“ hat Cecilia Alemani ihre Biennale überschrieben. Das ist der Titel eines Kinderbuchs der Surrealistin Eleonora Carrington. Er eignet sich als Motto, weil er die Verunsicherung unserer Zeit und die Auflösung der Werte im milchigen Nebel ziemlich gut trifft. Surreales ist längst Realität geworden.
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