Bis Mitte der Sechziger stand Ernst Wilhelm Nay für die Freiheitsfähigkeit der Deutschen. Eine Retrospektive in der Kunsthalle Hamburg bringt nun auch die Schattenseiten des heute wieder geschätzten Künstlers zum Vorschein.
Ernst Wilhelm Nay „Astral“ 1964
Vor allem späte Werke begeistern eine neue Generation von Kuratoren, Künstlern und Sammlern (Ausschnitt aus einem Hochformat).
Bild: farbanalyse, Köln; Ernst Wilhelm Nay Stiftung; VG Bild-Kunst, Bonn
Hamburg Ernst Wilhelm Nay zählt mit seinen starkfarbigen Abstraktionen zu den bekanntesten Künstlern der deutschen Nachkriegskunst. Und trotzdem gibt es erst jetzt, nach Jahrzehnten nationaler Abstinenz, wieder eine Retrospektive. Die Hamburger Kunsthalle versammelt 76 Gemälde und 38 Werke auf Papier, die einen nahezu umfassenden Überblick ermöglichen.
Der Kunstmarkt hat die Relevanz des Gesamtwerks von Nay (1902–1968) bereits früher wiederentdeckt und eine Neubewertung vorgenommen. Sie spiegelt sich in deutlichen Preissprüngen wider.
Aurel Scheibler, Galerist und Nays Stiefsohn, kann das bestätigen. „Es wird langsam deutlich, dass Nay eben nicht nur als ein ‚Nachkriegskünstler‘ zu sehen ist, sondern schon ab Anfang der 1930er-Jahre mit einem eigenständigen Werk, das sich zwischen Figuration und Abstraktion bewegt, in den Kanon der Kunstgeschichte eintritt.“
Scheibler, der auch Nays Werkverzeichnis herausgegeben hat, nimmt an, dass ein Geschmackswandel die Neuentdeckung befördert hat. „Seine der farbigen Setzung gewidmete Kunst, insbesondere seine späten Bilder, sprechen eine neue Generation von Kuratoren, Künstlern und eben auch Sammlern an.“
Diesen Wandel in der Wahrnehmung beobachtet Robert van den Valentyn, Auktionator im Kölner Auktionshaus Van Ham, schon ab 2010. „Spitzenpreise wurden in den vergangenen Jahren vor allem für die Sechzigerjahre erzielt, wobei die Fünfziger langsam nachziehen.“
Ernst Wilhelm Nay, „Glanz vom grünen Feuer“
Das Bild von 1953 ist eine Leihgabe der Neuen Galerie in Kassel (Ausschnitt).
Bild: Arno Hensmanns; Ernst Wilhelm Nay Stiftung; VG Bild-Kunst, Bonn
Den relevanten Markt sieht auch van den Valentyn bislang noch in Deutschland, wobei es nur einer relevanten Museumsausstellung in den USA bedürfe, um den dortigen Markt zu erwecken und somit eine ganz andere Preisspirale in Gang zu setzen.
Einen Vorgeschmack auf eine mögliche Preisspirale bot im vergangenen Jahr das Auktionshaus Ketterer. Nays 1967 entstandenes Gemälde „Doppelspindel Rot“ aus der Sammlung der Deutschen Bank, das auf 200.000 Euro geschätzt war, erstand ein Bieter aus Deutschland für 2,25 Millionen Euro mit Aufgeld; „Scheiben und Halbscheiben“ von 1955, geschätzt auf 250.000 Euro, wurde bereits 2017 für 2,3 Millionen Euro versteigert. Ein Höchstpreis, der für Aufmerksamkeit sorgte.
Im Mai 2018 bewilligte ein Bieter bei Christie’s in New York 1,45 Millionen Dollar für „Eisblau“ von 1961 aus der Sammlung von Peggy und David Rockefeller. Und das fünf Jahre früher entstandene Gemälde „Vom aufsteigenden Blau“ wechselte in London für 848.750 Pfund den Besitzer.
Christiane zu Rantzau, Chairman Christie’s in Deutschland, hat dabei schon einen weiteren verlockenden Markt im Visier: „Die Einführung Nays auf dem asiatischen Markt steht noch aus und könnte für Überraschungen sorgen.“
Nays kometenhafter Aufstieg begann mit der ersten Documenta-Ausstellung 1955 in Kassel, wo er mit viel Geschick inszeniert und zum deutschen Vorzeigekünstler stilisiert wurde. Er stand mit seinem abstrakten Werk für die neue Freiheit in der deutschen Kunst, die nach der Geiselhaft der Künste durch den Nationalsozialismus nun endlich wieder Anschluss an die internationale Kunst fand. Nay wurde von den beiden Documenta-Machern Arnold Bode und Werner Haftmann auch bei den nächsten Kasseler Großausstelllungen 1959 und 1964 äußerst publicityträchtig in Szene gesetzt.
Die Biennale in Venedig ebnete schon 1948 den Weg für die internationale Wahrnehmung von Nays Werk. 1956 war der Maler das Highlight im deutschen Pavillon. Seitdem gehört mindestens eines seiner zwischen 1954 und 1962 entstandenen Scheibenbilder in jede gut sortierte Museumssammlung.
Mit der Documenta III von 1964 begann sein Stern zu sinken. Die internationale Leuchtkraft ließ nach. Warum? Eine nächste Künstlergeneration drängte mit viel gesellschaftlichem und politischem Engagement in die Ausstellungsforen, und mit einem Mal sah sich Nay mit dem Vorwurf konfrontiert, seine Arbeiten seien „dekorative, inhaltsleere Abstraktionen“. So bringt es die Kuratorin Karin Schick in ihrem kenntnisreichen Katalogbeitrag auf den Punkt.
Ernst Wilhelm Nay „Sinus“
Solche Spätwerke haben schon siebenstellige Preise erzielt.
Bild: Städel Museum; Ernst Wilhelm Nay Stiftung; VG Bild-Kunst, Bonn
Bis zu dieser Documenta jedoch war sein Werk noch ein wohlfeiles Kommunikationsinstrument für Kuratoren, um damit die Fahne der Demokratie weithin sichtbar zu schwenken. In den USA war es die CIA, die den abstrakten Expressionismus förderte, um ihn als Werbemaßnahme für das freiheitsliebende Amerika einzusetzen.
In Deutschland wurde Nay dafür ausgesucht, die Freiheitsfähigkeit der Deutschen zu demonstrieren. Das Auswärtige Amt förderte entsprechend die Auslandsausstellungen Nays als Botschafter eines neuen Westdeutschland.
Und Werner Haftmann lenkte in Kassel mit Nay-Großformaten von seiner eigenen dunklen NS-Vergangenheit ab.
Nays Lebensgeschichte wurde wie die von so vielen in dieser Zeit geglättet. Die aktuelle Ausstellung bringt die ausgebügelten Falten wieder zum Vorschein. Sie macht deutlich, wie Nay sich „als sein eigener Geschichtsschreiber“ klitternd etablierte. Und wie er immer wieder versuchte, Kritik in Wohlwollen zu verwandeln.
Allerdings wurde er trotz seiner anhaltenden Versuche um Anerkennung von den Nationalsozialisten 1937 als „entartet“ gebrandmarkt. Er argumentierte sofort liebdienerisch dagegen: „In meiner Familie ist weder väterlicherseits noch von Seiten der Mutter auch nur der geringste Tropfen jüdischen Blutes.“ Und „Blut und Erkenntnis (…), aus diesen Kräften erheben sich die Urkräfte, die mythische Verankerung. Nach dieser allein strebe ich.“
Damit versuchte Nay erneut, Anerkennung zu finden, und legte der Reichskammer der bildenden Künste Arbeiten von einer Studienreise nach Norwegen vor. Die sorgten dann für zumindest halbherzigen Respekt. Aus der Reichskammer hieß es: „Seine Arbeiten lassen den Schluß zu, dass er sich aus einer allerdings etwas abseitigen Einstellung heraus sehr ehrlich bemüht, sich mit den gegebenen künstlerischen Erfordernissen auseinanderzusetzen.“ Also anzupassen. Geholfen haben dabei auch seine zwei Bildnisse von Adolf Hitler und seine Nähe zu Ernst Jünger.
Nach 1945 wurde vor allem gesehen, dass sich Ernst Wilhelm Nay „eine archaische Ursprünglichkeit und mythische Wirklichkeit, die jenseits nationaler Grenzen anzusiedeln war“, erarbeitet hatte, resümiert Dorothea Schöne in ihrem Katalogbeitrag die weitere Entwicklung. Das machte ihn nicht nur vorzeigbar, sondern geradezu attraktiv. Ein Maler ohne nationale Grenzen. Marktorientiert blieb Nay weiterhin. Um auf dem französischen Markt zu reüssieren, betitelte er seine Werke schon zuvor französisch.
Der Katalog, der all das versammelt, ist schon jetzt zum Standardwerk geworden, ohne dieses Wissen wird man Nay zukünftig nicht mehr sehen können. Sein Werk hat dadurch nicht verloren, vielmehr hat es eine weitere Tiefendimension gewonnen. Die überwältigende Farbkraft seiner Arbeiten, das kontinuierliche Deklinieren von Kräfteverhältnissen als Grundelement seiner Kompositionen, all das bleibt schlichtweg hinreißend.
Mehr: Künstler-Nachlass: Drehbuch für den posthumen Ruhm
Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.
Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.
×