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19.01.2023

11:58

Ausstellung „Femme fatale“

Madonna, wie findest du dich selbst?

Von: Johannes Wendland

Mit der Ausstellung „Femme fatale“ stellt die Kunsthalle Hamburg überkommene Rollenbilder auf den Prüfstand. Ein vielfältiges Vermittlungsprogramm nutzt dafür spielerisch auch Chatbots.

Im späten 19. Jahrhundert pflegten insbesondere die englischen Präraffaeliten ein Faible für die „Femme fatale“. Elke Walford; Hamburger Kunsthalle, bpk

Dante Gabriel Rossetti „Helena von Troja“

Im späten 19. Jahrhundert pflegten insbesondere die englischen Präraffaeliten ein Faible für die „Femme fatale“.

Hamburg Ein neuer Blick auf das Bild der Frau in der Kunst und ein ungewöhnlich vielfältiges Vermittlungsprogramm; die Ausstellung „Femme fatale“ in der Hamburger Kunsthalle geht gleich in doppelter Hinsicht neue Wege.

Alles beginnt mit der Loreley. Die Jungfrau mit dem langen Haar, die hoch oben auf dem Felsen über dem Rhein sitzt, ihr betörendes Lied singt und reihenweise die Schiffer ins Unglück reißt – ein deutscher Mythos. Über die Gedichte von Clemens Brentano und Heinrich Heine wanderte er weiter in die Malerei der Romantik, etwa von Carl Joseph Begas. In dessen Werk „Die Lureley“ von 1835 verführt die junge Frau vor allem mit ihren körperlichen Reizen und entblößter Brust.

Für Markus Bertsch, Kurator der sehenswerten Hamburger Ausstellung, ist dieser Mythos ein frühes Beispiel für den künstlerischen Topos der „Femme fatale“ – jener verführerischen Frau, die die Männer fasziniert und zugleich ins Unglück zieht. Ein Topos, der im Zeitraum etwa zwischen 1860 und 1920 künstlerische Strömungen wie die Präraffaeliten in England, die Salonmalerei und den Symbolismus in Frankreich und Belgien sowie den deutschen Impressionismus prägte. Was die Darstellungen fast immer eint, ist ein Spiel mit dem Schauwert des nackten Frauenkörpers.

Aus dieser Epoche sind in Hamburg jetzt zentrale Werke zu sehen – von Gustave Moreau „Ödipus und die Sphinx“, von Franz von Stuck „Sphinx“, von Lovis Corinth „Salome II“ oder von Edvard Munch „Vampir“. Das Panorama gelingt dank großartiger Leihgaben aus New York, Paris, Leipzig, Oslo.

Dem gegenüber stehen Arbeiten von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, die sich kritisch oder dekonstruierend mit Werken der überwiegend männlichen Künstler früherer Generationen auseinandersetzen. Im Loreley-Kapitel sind das etwa ein Video von Gloria Zein und abstrakte, graue Bilder von Aloys Rump. Zeins Video zeigt die Künstlerin beim Kämmen auf ihrem Großstadtbalkon. Rumps Arbeiten wurden aus zermahlenem Rheinschiefer gemalt und gespachtelt. Sie erinnern nur noch entfernt an den Loreleyfelsen.

Der voyeuristische Blick auf den Akt machte das Motiv von Anfang an recht beliebt. Städel Museum, Frankfurt am Main

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Der voyeuristische Blick auf den Akt machte das Motiv von Anfang an recht beliebt.

Eine ganze Epoche der Kunstgeschichte wird in der Ausstellung auf den Prüfstand gestellt. Das Maß setzt heute eine Betrachtungsweise, die für eine sexualisierte Darstellung von Frauen sensibilisiert ist, tradierte Geschlechterrollen hinterfragt und auch Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern viel stärker berücksichtigt.

Dabei geht es um nichts weniger als um den Kanon. In Hamburg ist das Video einer Performance von Sonia Boyce zu sehen, das 2018 gedreht wurde. Damals ließ die britische Künstlerin das Werk „Hylas und die Nymphen“ des Präraffaeliten John William Waterhouse von den Wänden der Manchester Art Gallery abhängen. Das heute allzu süßlich wirkende Bild zeigt sieben nackte, mädchenhafte Nymphen, die einen jungen Mann zu sich ins Wasser ziehen möchten. Blanker Sexismus, so lautete der Vorwurf.

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Die Künstlerin spricht über Corona und den Kunstbetrieb, über bewusste Grenzüberschreitungen in ihrem Werk und darüber, warum der FC Chelsea im Champions-League-Finale große Kunst ablieferte.

Die Aktion, die im Video als durchaus spielerisch und alles andere als verbissen erscheint, hatte damals weltweit Schlagzeilen gemacht und war rasch unter Cancel-Culture-Verdacht gestellt worden. Die von Sonia Boyce aufgeworfene Frage bleibt dennoch akut: Wie sollen Museen künftig mit Werken wie etwa John Colliers Darstellung der „Lilith“ umgehen?

Das Bild zeigt eine nackte, üppige Frau mit wallendem Haar, um deren Körper sich eine Schlange windet – nicht bedrohlich, sondern nahezu wie in einem Liebesakt? Ein Werk wie viele in dieser Ausstellung, das einen männlichen, stark sexualisierenden Blick auf den Frauenkörper zeigt und einer kunstgeschichtlichen Neubewertung harrt.

Noch einen Schritt weiter gehen Künstlerinnen und Künstler, die auf die zeitgenössische Auflösung des binären Geschlechterverständnisses reagieren. Wie Nan Goldin mit ihren Fotos aus der Dragqueen-Szene in Boston und New York. Dort wird durch Kostümierung und bewusste Rollenübernahme mit den alten Motiven der „Femme fatale“ gespielt – in diesem Fall von Männern, die sich nicht mehr eindeutig als Mann definieren.

Die verführerische Frau, die die Männer fasziniert und zugleich ins Unglück zieht, ist ein Topos der Kunst zwischen 1860 und 1920. Was die Darstellungen fast immer eint, ist ein Spiel mit dem Schauwert des nackten Frauenkörpers. Wolfgang Fuhrmannek, HLMD; Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland

Franz von Stuck „Sphinx“

Die verführerische Frau, die die Männer fasziniert und zugleich ins Unglück zieht, ist ein Topos der Kunst zwischen 1860 und 1920. Was die Darstellungen fast immer eint, ist ein Spiel mit dem Schauwert des nackten Frauenkörpers.

Die Ausstellung wirft bewusst viele Fragen auf – und schafft ein großes Aufgabenfeld für die Kunstvermittlung. Die Hamburger Kunsthalle ist dabei diesmal in die Vollen gegangen. Neben den üblichen Führungen und Audiotouren gibt es jetzt auch spezielle Audiobeschreibungen und Tastkopien von zentralen Exponaten, mit deren Hilfe sich Blinde oder Sehbehinderte die Ausstellung erschließen können. Tastkopien sind Kopien von Werken, in denen die Umrisse erhaben sind und erfühlt werden können.

Dass die Femme fatale lange ein fester Topos im Kino war, zeigt eine begleitende Filmreihe im kommunalen Kino Metropolis. Und in einem Begleitheft zur Ausstellung, das zusammen mit dem feministischen „Missy Magazine“ produziert wurde, werden die Schönheitsnormen der Bilder in der Ausstellung kritisch hinterfragt und vor allem für eine deutlich jüngere Leserinnenschaft aufbereitet.

Ein Chatbot beantwortet Fragen zu „Medusa“ und „Madonna“

An ganz junge Ausstellungsbesucher wendet sich ein Chatbot, der in Zusammenarbeit mit einer Stadtteilschule entwickelt wurde und über die App der Kunsthalle zugänglich ist. Sechs Bilder aus der Ausstellung – darunter die „Madonna“ von Edvard Munch und die bizarre „Medusa“ von Franz von Stuck – lassen sich persönlich in Form eines schriftlichen Chats befragen.

Der Chatbot arbeitet mithilfe von Künstlicher Intelligenz und lernt bei jeder Verwendung. Aktuell, zu Beginn der Ausstellungslaufzeit, empfiehlt es sich, vorgegebenen Fragen zu folgen. Madonna, wie findest du dich selbst? „Ich bin hinreißend. Alle Frauen wollen sein wie ich, alle Männer wollen mich.“ Du bist ganz schön eingebildet: „Weißt du, in meinem Dasein als weibliche Figur ist mir aufgefallen, dass ein bisschen Selbstverliebtheit den meisten Frauen ganz gut tun würde.“

Einfache Informationen über den Maler und das Motiv lassen sich bereits gut mit dem Chatbot erfragen. Schwierigere, hintergründigere Fragen stießen anfangs häufig noch auf maschinelles Unverständnis. Das sollte sich bis zum Ausstellungsende am 10. April noch ändern, die App lernt ja schließlich täglich hinzu.

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