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21.05.2022

09:54

Ausstellung in Hannover

Objektkünstlerin Christiane Möbus: Balanceakt zwischen Abgrund und Alltag

Von: Frank Kurzhals

Hannover ehrt die Bildhauerin Christiane Möbus zum 75-Jährigen mit einer Retrospektive in gleich zwei Museen. Zu entdecken ist ein Werk voller Poesie und Anspielungen.

Das schwarz lackierte Ungetüm zieht zart gebauschten Tüll hinter sich her. Die Idee ist von 1994, die Umsetzung 2007. Mario Gastinger Photography, München; Christiane Möbus; VG Bild- Kunst, Bonn 2022

Christiane Möbus „Schneewittchen“

Das schwarz lackierte Ungetüm zieht zart gebauschten Tüll hinter sich her. Die Idee ist von 1994, die Umsetzung 2007.

Hannover Es gibt Künstler, die schaffen in einem überraschend aufgeräumten Atelier. Alles hat dort seinen erwartbaren Platz, die Arbeitsabläufe sind optimiert. Die Ordnung des Ortes spiegelt die Ordnung im Kopf und auch die ihres künstlerischen Werkes wider.

Aber dann gibt es auch die anderen. Die Beschreibung des wirr wirkenden Durcheinanders lautet ‚kreative Unordnung‘ -um dem Drunter und Drüber einen übergeordneten künstlerischen Sinn einzuhauchen. Die Steigerung kreativer Un-Ordnung wäre der Objekt-Tsunami, eine überbordende Welle von sich selber verschlingenden Dingen.

Die in Celle geborene Künstlerin Christiane Möbus zählt zu den unumstrittenen Hohepriesterinnen solcher überaus kunstvoller Tsunamis. Sie werden von ihr poetisch verklärend „Wanderdüne“ genannt. Einige ihrer Wanderdünen werden aktuell als großformatige Fotoarbeit in Hannover ausgestellt. Sie gewähren einen ausschnitthaften Einblick in ihr Atelier und ihre Wohnung.

Was den Ordnungsliebenden in Verzweiflung stürzen würde, treibt Möbus zur Kunst. Eben die wird jetzt mit einer berückend schönen Retrospektive im Sprengel Museum und dem Kunstverein Hannovers gefeiert.

Die zwei etablierten Kunst-Institutionen haben sich zusammengetan, weil das Werk von Christiane Möbus Raum fordert, viel Raum. Der Anlass ist ein äußerlicher. Christiane Möbus, die in Braunschweig an der Kunsthochschule studierte und dort später, wie auch an der Hamburger Kunsthochschule, eine Professur hatte, wird 75 Jahre alt.

Zu entdecken ist ein faszinierender Kosmos ganz eigener Art. Hoch poetische, Raumgewordene konkrete Poesie bevölkert die große und vor allem hohe Museum-Halle und die lichten Räume im alten Kunstverein.

Die Objektkünstlerin erhielt zum 75-Jährigen die längst überfällige Retrospektive. Dirk Meußling; Kunstverein Hannover

Christiane Möbus

Die Objektkünstlerin erhielt zum 75-Jährigen die längst überfällige Retrospektive.

Die Ausstellung in Hannover kommt einer Wiederentdeckung gleich und war schon längst überfällig. Möbus nahm bereits 1972 neben Lee Krasner und Louise Bourgeois an der Ausstellung „unmanly art“ im New Yorker Suffolk Museum teil. Ihr Münchener

Galerist Rupert Walser vermutet sogar, dass der Begriff „Women-Concept-Art“ von Möbus stammt. Erfunden wurde er, als es 1973 um eine von Lucy Lippard kuratierte Ausstellung ging, an der auch Laurie Anderson und Alice Aycock teilnahmen. Aber warum sind all die Anderen international bekannte und vielfach ausgestellte Künstlerinnen geworden, und nicht Christiane Möbus?

Die Ausstellung geht nicht darauf ein. Zu vermuten wäre aber, dass es ein ganz schlichter Grund ist: die Sprache. Selten nur hatte Möbus englischsprachige Publikationen. Ihr Werk hätte mehr internationale Beachtung verdient, die Ausstellung liefert raumweise Gründe.

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Wer mit kleinerem Einsatz sammeln möchte, sollte klug wählen: Werke, die nicht in Mode sind, aber kunsthistorische Bedeutung haben.

Faszinierend ist die im Sprengel Museum ausgestellte tonnenschwere und vollkommen schwarz lackierte LKW-Fahrerkabine. Die Idee dazu hatte sie 1994, verwirklicht wurde das Objekt 2007. Der Titel: „Schneewittchen“. Bauschenden schwarzen Tüll, wie eine Verwirbelungsschleppe, zieht der Stummel-Truck hinter sich her.

Eine große bis an die Decke des Museums reichende ausgestopfte Giraffe, die auf einem schwebenden Podest balanciert, grüßt den Besucher mit dem rätselhaften Titel „Küsse vom König“ (2001/2007); und eine klavierlackglänzende übergroße Tischsituation mit darauf platzierten fotografierten Händen nennt sie schmunzelnd „Kriminalstück“.

Möbus‘ Werk ist anspielungsreich, immer fantasievoll, gleichzeitig konkret und surreal, konzeptionell und sinnlich. Bei ihr treffen einzelne Objekte in Konstellationen zusammen wie bei einer Teegesellschaft der Gegensätze, die sich hochinteressant findet und gleichzeitig über sich konsterniert ist. Diese Spannungen halten ihre Objektgeschichten lebendig, lassen sie balancieren zwischen Abgrund und Alltag.

Die raumfüllenden Rettungsboote, entstanden 2001, sind beladen mit Strohballen, als wären sie Containerschiffe. Dirk Meußling; Kunstverein Hannover; VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Christiane Möbus „rette sich wer kann“.

Die raumfüllenden Rettungsboote, entstanden 2001, sind beladen mit Strohballen, als wären sie Containerschiffe.

Ein überaus sinnlich aus der Wand ragender lackierter Autokotflügel heißt nach einem polnischen Busenwunder „Chesty Morgan“ (1988); und eine 1977 entstandene Bodenarbeit aus Riemen, Ruder und einer Eisenscheibe hat sie mit „man kann ja nie wissen“ handschriftlich betitelt. Das ist der Spruch, der auch auf dem Grabmal des Dadaisten Kurt Schwitters steht, dem international berühmtesten Künstler, den Hannover hervorgebracht hat.

Von befremdlicher Aktualität ist ihr 2001 entstandenes „rette sich wer kann“. Es sind raumfüllende Rettungsboote aus Holz, beladen mit Strohballen, als wären sie Containerschiffe. „Hurrikan Harvey“, Konzeption 1992 und für die Ausstellung im Kunstverein erstmalig umgesetzt, haut die Besucher geradezu um. Machtvolle Baumwurzeln, herausgerissen aus ihrem Naturleben, treffen auf zwei anekdotisch wirkende alte Scheunenklappen. Das wirkt stärker als jedes Bild aus den Nachrichtensendungen.

Früh kontroverse Themen aufgegriffen

Auch ihr Berliner Galerist Volker Diehl beobachtet, dass es hauptsächlich deutsche Sammler sind, die sich für Möbus interessieren, glaubt aber, dass sich das demnächst ändern dürfte. Sein Argument: „Mich hat immer fasziniert, dass Christiane Möbus sehr früh gesellschaftliche kontroverse Themen auf gegriffen hat, zum Beispiel Feminismus oder Umweltprobleme. Und da sie nie didaktisch oberlehrerhaft ist, sind ihre Arbeiten auch so zeitlos.“

Das könnte tatsächlich funktionieren, zumal die Preise noch moderat sind. Bei Rupert Walser liegen die „sehr großen Werke im sechsstelligen Bereich, große Arbeiten werden im fünfstelligen Bereich gehandelt. Kleinere Werke wie die Multiples und einzelne Fotoarbeiten liegen zwischen 4000 und 9000 Euro.“ Bei Diehl sind Fotografien bereits ab 2000 Euro zu haben.

Ausstellung in New York: Bisher unbekannte Gemälde von Spinnen-Künstlerin Louise Bourgeois ausgestellt

Ausstellung in New York

Bisher unbekannte Gemälde von Spinnen-Künstlerin Louise Bourgeois ausgestellt

Gigantische Spinnenskulpturen sind ihr Markenzeichen. Doch nun ist in New York zu entdecken, dass Louise Bourgeois auch ein malerisches Werk hinterlassen hat.

Der Titel der Ausstellung entspringt einem ihrer Gedichte. „30. August 1983 auf dem Weg von Ost nach West / Jahrhundertsommer / Bei mir ist auch im Sommer Winter. / Ich arbeite seit einigen Jahren / An ‚seitwärts über den Nordpol‘, / und es gibt / zunächst keine Hoffnung auf besseres Wetter.“

Die einzelnen Etappen dieser großen Lebensreise hat die Retrospektive klug zusammengestellt. Die Ausstellung ist eine Einladung an die Besucher, diese Reise ins Ungewisse zu begleiten. Man kann ja nie wissen.

Die Ausstellung „Christiane Möbus. seitwärts über den Nordpol“ läuft im Sprengel Museum Hannover bis 11. September, im Kunstverein Hannover bis 24. Juli 2022. Der Katalog erscheint am 29. Mai 2022.

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