Die alle fünf Jahre stattfindende Documenta hat an herkömmlicher Kunst wenig zu bieten. An ihre Stelle treten Interaktion und Projekte von Aktivisten.
The Nest Collective „Return to Sender“
Die Installation prangert den Müllexport, Umweltzerstörung und die Zerstörung der Tuchindustrie in Afrika an.
Bild: Andre Zelck
Kassel Aufgetürmte Ballen von Altkleidern formen in Kassels Auenpark einen Raum, in dem ein Video läuft. Davor macht kubisch zusammengepresster Computer- und Plastikschrott überdeutlich klar, worum es der Freiluftinstallation von The Nest Collective geht: Müllexport, Umweltzerstörung und die Zerstörung der Tuchindustrie in Afrika. „Return to Sender“ sei „visueller Aktivismus“, steht im Handbuch der Documenta 15 (d15).
Noch nie war die Documenta so weit weg vom Kunstmarkt wie 2022. Das ist Programm. Denn deren Auswahlkommission hat sich für Ruangrupa entschieden, ein Kollektiv aus Jakarta. Das hat nicht etwa Einzelkünstler eingeladen, Stars oder Kunstmarktgrößen, sondern weitere Kollektive, die wiederum weitere Gäste, Künstlerinnen oder Kollektive einluden. Nach dem „Lumbung“-Prinzip werden Geld, Netzwerke und Wissen geteilt.
So entstand eine Ausstellung, die sich in den kommenden 100 Tagen mehrfach wandeln wird, damit alle Projekte von Aktivisten gezeigt werden können. Wir sollen unsere Betrachtungsweise verändern. Die d15 pflegt erstmals und ausschließlich den Blick des globalen Südens.
Wir lernen in einem Projekt beispielsweise ein einzelnes Dorf kennen und dessen Überlebensstrategie im Kampf David gegen Goliath. Transmenschen können eine Voodoo-Nacht verbringen. LGTBQI-Aktivist*innen finden Videos im Osten von Kassel im Hübner-Areal. Wer afrikanische Musik liebt ist hier genau richtig.
Roma und andere Staatenlose dürfen sich im Fridericianum ausbreiten. Mit dabei die wundervollen Textil-Bildserien zur Roma-Geschichte der Polin Malgorzata Mirga-Tas, die auch in Venedig viele Blicke auf sich ziehen konnte.
Viele Aktivisten und Aktivistinnen, die bislang aus dem Kunstsystem fern Gehaltenen, finden Aufmerksamkeit. Dazu gesellt sich ein pädagogischer Impetus. Ruangrupa betreibt in Jakarta die Bildungsinitiative Gudskul. Auch sie kann man im Fridericianum studieren.
Kunst als Ermächtigungsstrategie im Slum, Kunst als Heilung oder Verköstigung von Migranten, Kunst als befriedender Kitt in Gemeinschaften, das sind Fähigkeiten der Kunst, die im – noch – privilegierten globalen Norden mit seinen Demokratien schnell beiseite gewischt werden. Und doch, die Welt darbt aktuell im Kriegs- und Krisenmodus. Sie muss „verbessert“ werden. Deshalb ist die d15 auch ein Kommentar zur Lage der Welt. Auch wenn nicht allen ihr Weltverbesserungston gefällt.
Aber Käfer zerstören die Baumriesen in Kassel wie in Kolumbien. Gleich neben dem zum kleinen Begegnungszentrum umgebauten Phantasie-Track von Más Arte Más Acción (Mama) sind Baumkletterer dabei, einen kaputten Baum zu fällen. Mama verschreibt sich der Klimagerechtigkeit und Biodiversität im Mangrovenwald von Kolumbien.
„Was bedeutet Fortschritt in einem von der Regierung vernachlässigten Gebiet?“, fragt Fernando Arias. Er hat Mama zusammen mit Jonathan Colin 2011 gegründet. Wir treffen beide vor der Eröffnung in der Karlsaue.
Fortschritt in einem von Drogenhandel, Armut und Ausbeutung der Erde geprägten Hafenstädtchen im Regenwald bedeute eben nicht, den Hafen zu vergrößern, erzählen sie. Fortschritt bedeute nicht, mehr Tropenholz zu exportieren, sondern sanften Tourismus und Fischerei zu stärken; um damit afrokolumbianische und indigene Gruppen, die seit Jahrhunderten mit den ökosensiblen Mangroven zu leben verstehen, zu stärken.
Kollektiv Ruangrupa
Die Macher der Documenta 15 leben in Jakarta. Sie luden keine Einzelkünstler ein, sondern weitere Kollektive, die wiederum weitere Gäste, Künstlerinnen oder Kollektive einluden.
Bild: Andre Zelck
Doch nicht jede Bezugnahme auf Kassel gelingt: Das Video über Milchströme und -tropfen bleibt banal, das Leben am Fluss in Vietnam und Hessen Behauptung. In der Documenta-Halle ist dann aber „Wrapped Reality“ von Lawrence Shabu Mwangi zu entdecken. Der Künstler wurde von Wajukuu Art Project eingeladen.
Die Installation unterscheidet sich von dem benachbarten Kampf der Kubaner gegen Zensur, Haft und Folter durch seine Bildmächtigkeit und Vielschichtigkeit. Vor rostigem Wellblech wie in einem Slum liegen zwei menschliche Gestalten gefangen in einer Reuse über Spiegeln und rotem Sand.
Deren „Gefängnis“ ist ein Geflecht, mit dem im Slum von Nairobi Hühner zum Markt gebracht werden. „Wir sind alle gefangen in der modernen Welt des Konsums auch in Deutschland. Wir sehen den anderen als Feind“, erzählt Mwangi. Und predigt wie viele Ausstellende, mit denen ein Gespräch möglich war, dass wir doch als interaktive Wesen, nicht als Individuen leben sollten. Das ist die Leitlinie, die Ruangrupa offenbar vorgab. Zu ihr muss sich jeder Besucher verhalten.
Feinnervige Zeichnungen von Mensch, Natur und der Wasserknappheit im Palästinensergebiet sind in der Grimmwelt ausgestellt. Sie stammen von der Palästinenserin Jumana Emil Abboud.
Dass kein einziger Israeli eingeladen wurde, aber etliche Gruppen aus arabischen Kulturen, auch mit Kontakten zum BDS, hat der Zentralrat der Juden vor der Eröffnung kritisiert. Die Initiative BDS (Boykott, Desinvestition und Sanktionen) wurde vom Bundestag als antisemitisch eingestuft.
Soweit bei den Pressetagen zu sehen, gab es aber nirgends eine Überschreitung der im Grundgesetz verbürgten künstlerischen Freiheit. Die abgesagt Reihe „We need to talk“ indes sollte die Documenta schnellsten nachholen. Allein, weil sich das in Demokratien so gehört.
So berechtigt das sozial-politische Anliegen der Beiträge ist, die Kunst geht verloren, wenn sie nicht als Qualität und sondern als Prozess verstanden wird. Aber bei Ruangrupa sind die Künstler in der Minderheit. Überhaupt, wer erwartet, drängende Zeitfragen in Ästhetik übersetzt zu finden, wird von der d15 schwer enttäuscht sein.
Ruangrupa geht es darum, unseren Blick zu verändern: Weg von Egoismus und Individualismus, hin zu Gemeinschaftssinn, Netzwerkstrukturen und Nachhaltigkeit. Diese lernende, zuhörende Haltung können die Besucher und Besucherinnen am besten einüben, wenn sie sich konzentrieren; wenn sie nicht mehr alle d15-Beiträge sehen wollen, sondern wenige zuvor aussuchen, um an Workshops und Gesprächsrunden teilzunehmen.
In der gerne als „wichtigste Kunstschau der Welt“ titulierten Documenta 15 wirkt Kunst nur mehr als Hebamme: für Ausgegrenzte, politisch Übergangene und Graswurzelbewegungen. Sie verschaffen sich in Kassel Gehör; und berichten, wie ein Hafenausbau im Regenwald in Kolumbien verhindert werden konnte, um dem Raubbau an der Natur wenigstens an diesem einen Ort, Einhalt zu gebieten. Das kann ein Argument sein, vom globalen Süden zu lernen.
d15 18.6. bis 25.9 , täglich 10 bis 20 Uhr.
Tickets: 27 Euro (1 Tag), 45 (2 Tage), 129 (Dauerticket)
Katalog im Hatje Cantz Verlag 25 Euro
www.documenta-fifteen.de
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