PremiumLouise Bourgeois war schon 92 Jahre alt. Da zeigte eine große Berliner Schau: Nicht sie ist die Spätzünderin. Der Markt hat allzu spät auf ihr tiefgründiges Werk reagiert.
Louise Bourgeois "Spider"
Die über sechs Meter hohe Skulptur setzt sich aus Stahl, Wandteppich, Holz, Glas, Stoff, Gummi, Silber, Gold und Knochen zusammen.
Bild: The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Erika Ede
Berlin Die Spinne ist ihr Markenzeichen, aber auch der weibliche Körper in existentiellen Stadien von der erotischen Pose über die Schwangerschaft bis zur Entbindung. Als die Akademie der Künste im Juni 2003 eine Werkschau der damals 92-jährigen Louise Bourgeois eröffnete, zeigte sich in aller Breite, dass ihr Gesamtwerk von den Stelen der vierziger Jahre bis zu den Zellen und Körpern der Spätzeit eine logische Folge von biografischen und erotischen Obsessionen war. Damals wurde klar, dass sie keine Spätzünderin war, sondern dass der Markt allzu spät auf ihre tiefgründigen Werke reagiert hatte.
Jetzt ist ihre Position als wichtigste Künstlerin an der Schwelle zum 21. Jahrhundert unbestritten und ein an wichtigen Originalen knapper Markt reagiert entsprechend euphorisch.
Zwölf Jahre nach der ersten Berliner Retrospektive widmet jetzt der Gropiusbau der 2010 verstorbenen Bildhauerin die Ausstellung „The Woven Child“. Sie konzentriert sich auf die textilen Arbeiten, die sich in Installationen, Skulpturen, Collagen, Zeichnungen und Drucken manifestieren. Der weibliche Körper ist ihr ein Medium persönlicher Erinnerung, aber auch universeller Ausstrahlung, in seiner biologischen und erotischen Präsenz.
Die hier gezeigten Werke sind bis auf zwei frühere Papierarbeiten in den 1990er- bis Zweitausender-Jahren entstanden. Das Spektrum reicht von der aus zwei Holzkugeln und einem an überdimensionaler Nadel hängenden Flachsstreifen bestehenden Skulptur „Needle“ von 1992 bis zu einer im Todesjahr entstandenen Assemblage. Darin flankieren auf einem Stahlgestell ruhende Garnspulen einen mit überdimensionalen Brüsten benähten Torso.
32 der ausgestellten Werke sind Leihgaben der New Yorker Easton Foundation, einer in den 1980er-Jahren von der Künstlerin gegründeten Stiftung. Die erbte ihr Haus mit der darin befindlichen Sammlung mit der Maßgabe, ein Studienzentrum zur wissenschaftlichen und kuratorischen Förderung des Werks zu errichten. Tausende von Archivalien, Tagebücher, Schriften, Briefe und elektronische Dokumente bieten umfassende Einsicht in Biografie und Werkkonzepte.
Louise Bourgeois "Couple IV"
Das kopulierende Paare in dunklem Tuch mit Bein- oder Armprothese gehört zu den Figurationen, die mit Intimität dem Verlust der Ganzheit begegnen.
Bild: The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Christopher Burke
Sechs substantielle Exponate stammen aus der Sammlung Ursula Hauser, die 1992 mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn Iwan Wirth die heute als globales Unternehmen wirkende Galerie Hauser & Wirth in Zürich gegründet hatte. Der Nukleus dieser Sammlung sind acht weibliche Künstlerinnen, zu denen auch Berlinde de Bruyckere und Maria Lassnig zählen.
Wer das im Gropiusbau in Szene gesetzte Spannungsfeld von zweidimensionaler und skulpturaler Kunst durchwandert, wird schnell erkennen, dass es der Künstlerin in ihrem plastischen Werk um Bewältigung von Lebenserfahrungen, Lebensängsten und Traumata geht. Schon dass sie zu dem Werkmaterial Stoff eine ausgeprägte Neigung hat, ist Teil ihrer Biografie.
Ihre Eltern hatten im 6. Arondissement in Paris eine Galerie für Tapisserien des Mittelalters und der Renaissance. Fragmente gewebter Stoffe über einem Aluminiumkorpus prägen, punktgenau platziert, das Erscheinungsbild dreier spät entstandener Köpfe. In ihnen wirkt das ornamentierte Antlitz anziehend und befremdlich zugleich.
1938, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, heiratete die Französin den amerikanischen Kunsthistoriker Robert Goldwater und zog mit ihm nach New York. Dort hatte sie 1945 ihre erste Einzelausstellung mit Gemälden. Erst ab 1949 konzentriert sie sich ganz auf die Skulptur, was ihr Lehrer Fernand Leger ihr schon in den 1930er-Jahren geraten hatte.
Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1951 vertieft sie sich in die Psychoanalyse und beginnt ihre problematische Beziehung zu ihm aufzuarbeiten. Ihr Schlüsselerlebnis war die Entdeckung, dass ihr Vater eine Affäre mit ihrer britischen Hauslehrerin hatte.
Louise Bourgeois
„In meinem Werk geht es nicht um Sex. Es geht um seine Abwesenheit.”
Bild: The Easton Foundation; Foto: Claire Bourgeois
Das Interesse am menschlichen Körper verstärkt sich. Brüste und Phallusformen werden zu Leitmotiven, eine kopflose Sphinx mit drei Brustreihen wird zum Symbol einer entmenschlichten Natur, in der Sexualität als Last empfunden wird. Zusammengenähte Stoffarbeiten symbolisieren Heilung und Zusammenhalt.
Immer wieder wird in Werkinterpretationen eine Fixierung auf das Unterbewusste hervorgehoben. Aber die Künstlerin lässt sich nicht ganz darauf festlegen: „Der Gegenstand entspringt unmittelbar dem Unterbewußtsein, die Form muss vollkommen streng und rein sein. Ich glaube, ohne dessen jedoch absolut sicher zu sein, dass meine direkte Verbindung zum Unterbewusstsein nicht aus Träumen resultiert, sondern über den Umweg des täglichen Lebens geschieht.“
Die Spinne erscheint schon 1947 in einer Zeichnung und findet sich dann vielgestaltig in einer 1995 entstandenen Folge von Radierungen wieder. Die erste der großen Bronzespinnen entsteht 1996, ein Jahr später die in Berlin ausgestellte monumentale „Spider“. Sie ruht über einer mit Tapisserie-Fragmenten bestückten Zelle. Als eine „Ode auf meine Mutter“ charakterisiert die Bildhauerin diese Werkgruppe.
Der Akt des Webens und Reparierens, der mit den Gliederfüßern verbunden ist, stiftet Ganzheit und wehrt sich gegen den Zerfall. Die seit den 1960er-Jahren entstandenen „Cells“ sind Käfige, in die fetischhafte Relikte früheren Lebens eingeschlossen sind.
Der Mensch als fragiles, mehrgesichtiges, fragmentiertes Wesen erscheint in vielen Exponaten als Stoff, aus dem Träume und Albträume sind. „Do not abandon me“ ist der Titel einer in rosafarbiger Wolle genähten Gebährenden, in der die Nabelschnur des Neugeborenen sich auf den Mutterbauch windet.
Louise Bourgeois „Untitled“
Der Kopf mit seinen Fragmenten gewebter Stoffe wirkt anziehend und befremdlich zugleich.
Bild: The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Christopher Burke
Die Puppe einer Schwangeren, kopulierende Paare in dunklem Tuch mit Bein- oder Armprothese, ein blauer Körper, der sich sexistisch windet, eine kopflose kopfüber Hängende in grauem Tuch: Das alles sind Figurationen, die dem Verlust der Ganzheit begegnen und das Intime (Mutterschaft, Geburt, Koitus) objektivieren.
„In meinem Werk geht es nicht um Sex. Es geht um seine Abwesenheit“, sagt die Künstlerin. Und verweist damit auf persönliche Urängste, die dem Betrachter die Möglichkeit geben sollen, seiner eigenen Ängste bewusst zu werden.
Der Markt für die Werke von Louise Bourgeois beginnt sich in den 1980er-Jahren zu beleben. Die New Yorker Galerie Robert Miller, dem sie bis 1989 die Treue hält, zeigt 1982 eine Einzelausstellung. Im selben Jahr richtet das New Yorker Museum of Modern Art die erste große Retrospektive aus. Wanderausstellungen in Amerika (1987) und Europa (1989 bis 1991) folgen. Auch die New Yorker Galerie Chaim & Read engagiert sich bis zu ihrer Schließung 2018 für die Künstlerin.
1992 folgt die Einladung in die Documenta IX. Die Kölner Galerie Karsten Greve zeigt ihre Werke in Einzelausstellungen und auf Messen bis 2018. Da hat die Zürcher Galerie Hauser & Wirth, die Louise Bourgeois seit dem Jahr 1997 repräsentiert, schon längst die Marktregie übernommen. Ihr jüngster Coup ist der Verkauf einer der großen Spider-Bronzen auf der Art Basel 2022 zum Listenpreis von 40 Millionen Dollar an einen europäischen Sammler.
Seit dem Jahr 2017, als eine der mittelgroßen Skulpturen im Format 185 x 57 cm bei Christie’s 11,5 Millionen Dollar erlöste, sind die Spinnen die teuersten Werkbeispiele. 2019 erzielte im selben Haus eines der sieben Meter umfassenden Riesenexemplare 32 Millionen Dollar, eine Auktionsrekord, der noch heute gilt.
Immer sind es die auf den ersten Blick fesselnden Skulpturen, die hohe Preise bringen. Zu ihnen zählt auch die polierte Bronze „Nature Study“. Diese in sechs Exemplaren gegossene kopflose Sphinx, von der es auch Varianten in Porzellan und in rotem Gummi gibt, wurde 2011 bei Christie’s für 2,2 Millionen Dollar zugeschlagen. Neun der zehn teuersten versteigerten Werke von Louise Bourgeois waren Spinnen.
Die meisten der verkauften Werke sind Grafiken der Preisklasse bis 5000 Dollar. Eine der mit Stoff überzogenen „Arches Figures“, in Bogenform schwebende Körper, brachte im Juli 2022 bei Sotheby’s mit knapp 1,6 Millionen Dollar das Dreifache der Schätzung.
In den letzten Jahren versuchen Hauser & Wirth und die Easton Foundation die Werke auf Papier zu fördern, die im Marktschatten stehen. Späte Gouachen verkaufte die Galerie während der Art Basel Hongkong 2019 für 150.000 bis 750.000 Euro an asiatische Sammler. Einer von ihnen gab im April 2022 bei Sotheby’s in Hongkong 16,5 Millionen Dollar für eine mittelgroße Spinne aus. Es war die teuerste bis dato in Asien versteigerte zeitgenössische Skulptur. Auch das ist ein Beleg für die Fixierung ultrareicher Kunstkäufer auf wohlbekannte Marktrophäen.
Die Ausstellung im Gropiusbau läuft bis zum 23. Oktober. Der Katalog ist im Verlag Hatje Cantz erschienen und kostet 38 Euro.
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