Mit acht Ausstellungen gleichzeitig will der Sammler Andrew Hall beweisen, welches Potenzial in seinem Schloss Derneburg bei Hildesheim steckt.
Anselm Kiefer „Untitled“ von 1973
Der Maler war einer der wenigen zeitgenössischen Künstler, die die deutsche Geschichte zum eigenen großen Thema machte.
Bild: Hall Art Foundation
Derneburg Kunstsammler sind schon lange einflussreiche Ermöglicher von Ausstellungen. Unterstützen sie doch mit Leihgaben und Spenden staatliche Museen, die ohne diese Mithilfe noch unbeweglicher wären. Vom Ausstellungs-Ermöglicher entwickelten sich die Großsammler seit 2000 zu Ausstellungsmachern weiter, die aus ihren Archiven und Lagern heraus viel beachtete Präsentationen inszenieren.
Bernard Arnault ist dafür ein Paradebeispiel. Sein Luxus-Konzern LVMH errichtete ein kontrovers diskutiertes, spektakuläres Museumsgebäude in Paris, das sich vor allem aus der großen Sammlung der Louis Vuitton Stiftung speist. Das Haus ist seit 2014 eine machtvolle Institution geworden.
Spätestens seitdem ist unübersehbar, dass sich die großen Privatsammler auf Augenhöhe mit ebenso großen, öffentlichen Museen bewegen. Letztere werden wegen schrumpfender Ausstellungsbudgets leichtgewichtiger, die Privatmuseen indessen immer agiler.
Das im Niedersächsischen gelegene Kunstmuseum Schloss Derneburg nahe Hildesheim ist das deutsche Vorzeigebeispiel dieser Entwicklung. Mit 10.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zählt es zu den international größten Ausstellungshäusern. Der Park mit seinen 85.000 Quadratmetern bietet luxuriös viel Platz für Skulpturen; knapp 100 Innenräume aller Größenordnungen bilden das großzügige Gegenstück dazu.
Das angloamerikanische Sammlerehepaar Christine und Andrew Hall – er machte sein Vermögen als Rohstoffhändler – kaufte das Schloss 2006 dem Künstler Georg Baselitz ab. Aus dem renovierten Schloss, das in seinem Gründungsjahr 1213 zuerst ein Kloster war, wurde ein veritables Schmuckstück. Deutlich mehr Understatement als Protz.
Blick in die Anselm Kiefer-Ausstellung auf Schloss Derneburg
Auch selten gezeigte Künstlerbücher, Fotografien, Holzschnitte und Aquarelle aus den Jahren 1969 bis 1982 sind zu sehen.
Bild: Hall Art Foundation
Und weil Halls weltweit zu den bedeutenden Sammlern zeitgenössischer Kunst gehören, ist das von idyllischer Einöde umgebene Schloss Derneburg jetzt eines der größten Privatmuseen für zeitgenössische Kunst.
In den USA haben Halls noch zwei weitere Museen. Die Häuser bespielen sie mit ihrer Sammlung von über 6000 Werken. Einer ihrer Schwerpunkte ist deutsche zeitgenössische Kunst.
Insgesamt sind es acht umfangreichere Sonderausstellungen, die in diesem Sommer nach Derneburg locken und die jedem Museum der öffentlichen Hand Ehre erweisen würden. Die einzige Themenausstellung mit dem doppeldeutigen Titel „The Passion“ ist der christlichen Bildwelt gewidmet. Sie präsentiert unter anderem 50 Arbeiten des kürzlich verstorbenen Wiener Aktionskünstlers Hermann Nitsch.
Dass Halls mit ihrem Interesse für deutsche Kunst auch bei Anselm Kiefer landen, einem der sicher deutschesten Künstler, ist zu erwarten. Aktuell zeigen sie rund 40 frühe Werke von Kiefer. Dazu gehören selten ausgestellte Künstlerbücher, Fotografien, Holzschnitte, Aquarelle und Ölbilder, die zwischen 1969 und 1982 entstanden.
Gleich zu Beginn wird der Besucher mit deutscher Geschichte konfrontiert, mit einem übergroßen Selbstporträt des Künstlers. Kiefer hatte sich schon während seines Studiums an der Kunsthochschule in Karlsruhe mit der Kriegsvergangenheit seines Landes und seiner Landsleute beschäftigt. Er begann als einer der ersten, die deutsche Geschichte zu seinem eigenen großen Thema zu machen.
Sammlerpaar mit Ambitionen
Stellten sich im Juni 2017 der Fotografin: Andrew und Christine Hall vor Schloss Derneburg.
Bild: Helen During; Hall Art Foundation | Schloss Derneburg Museum
Der Künstler nahm die Wehrmachtsuniform seines Vaters und fotografierte sich darin vor bedeutenden Denkmälern. Immer mit dem längst geächteten, verbotenen Hitlergruß. Die Fotos übertrug er in Malerei. Und eines davon begrüßt jetzt die Besucher. Die großen Mythen der Deutschen, „Vater Rhein“, „Brunhildes Tod“ und auch die „Hermannschlacht“, figurieren in der beeindruckenden, klug gehängten Ausstellung.
Der englischsprachige Katalog ist vorbildlich informativ. Aber mit schwer lastender Lektüre sollen sich die Besucher nicht durch die Ausstellung schleppen. Stattdessen bieten QR-Codes – oftmals skurril zwischen Lichtschaltern und Steckdosen platziert – den Weg zu Informationen.
Der ehemalige Rohstoffhändler Andrew Hall und seine Frau Christine verwandeln das opulente Schloss Derneburg in eines der größten Privatmuseen Europas.
Neben der gerade eröffneten Kiefer-Schau sind noch die faszinierenden Arbeiten des Franzosen Eugène Leroy (1910–2000) zu sehen: gut ein Dutzend Gemälde aus vier Jahrzehnten, von den frühen 1960er-Jahren bis Ende der Neunziger. Es sind Farbschichtenbilder, allerdings ganz anders als bei Kiefer.
In Leroys Bildern verliert sich die gegenständliche Welt in einen vielschichtigen, überlebendigen Lichtraum, bei Kiefer erscheint die Welt aus den sie verdeckenden Schichten von Farbe, tritt aus der Dunkelheit dräuend ans Licht.
Die in der Nähe platzierte Überblicksschau der US-Amerikanerin Susan Rothenberg (1945–2020) ist ein zarter Parcours der Poesie. Einige ihrer sensibel gezeichneten Pferdemotive sind Gegenstand und gleichzeitig abstrakte Linie. Sie werden in Derneburg zum ersten Mal seit 40 Jahren wieder öffentlich zugänglich gemacht.
Eine umfangreiche Helmut Middendorf-Ausstellung lässt die wilde deutsche Malerei der späten 1979er- und den 1980er-Jahren wieder auferstehen. Große „Blumengemälde“ von Jorge Galindo, die in Zusammenarbeit mit Pedro Almodóvar entstanden, öffnen in einem freistehenden Gebäude im Park einen wieder anderen Blick auf aktuelle Themen der Gegenwartskunst.
Noch fährt der Kunsttourist, wenn er denn nach Niedersachsen reist, zuerst nach Hannover, geht ins Sprengel Museum, in die renommierte Kestner-Gesellschaft und vielleicht auch in den Kunstverein der Stadt, um sich zeitgenössische Kunstproduktion anzusehen. Dann geht es nach Derneburg. In einigen Jahren könnte das schon andersherum sein.
Ein privates Kunstmuseum ist entstanden, das eigene Ausstellungen in Museumsqualität zeigt, Diskussionen veranstaltet, und zukünftig Forschung ermöglichen möchte. In Planung sind noch ein Kunst-Kino und ein Hotel. Die große Forschungsbibliothek ist bereits im Aufbau.
Durch die Corona-Pandemie haben die Halls ihre Öffentlichkeitsarbeit verändern müssen. Vor Corona war eine Besichtigung nur über die Teilnahme an einer kostspieligen Führung möglich. Jetzt stehen überall freundliche Aufsichten und jeder Besucher kann sich frei bewegen. Zeitfenster für einen Besuch müssen trotzdem noch reserviert werden. Es muss nicht immer ein Neubau sein, um zeitgenössische Kunst angemessen präsentieren zu können. Diesen Beweis ist mit Schloss Derneburg erbracht.
Mehr: Sammlung Torsten Kunert: Wo Egon Krenz die Hecke schneidet
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