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02.09.2021

19:33

Interview

Katharina Grosse: „Die Geschichtsschreibung bildet die Kreativität von Frauen nicht ab“

Von: Peter Brors, Susanne Schreiber

PremiumDie Künstlerin spricht über Corona und den Kunstbetrieb, über bewusste Grenzüberschreitungen in ihrem Werk und darüber, warum der FC Chelsea im Champions-League-Finale große Kunst ablieferte.

Die raumgreifende Installation in der Halle des ehemaligen Hamburger Bahnhofs in Berlin setzt sich im Außenraum fort. Jens Ziehe / König Galerie / Gagosian / Galerie nächst St. Stephan R. Schwarzwälder / Staatl. Museen Berlin, Nationalgalerie / VG Bild-Kunst

Katharina Grosse „It Wasn’t Us“

Die raumgreifende Installation in der Halle des ehemaligen Hamburger Bahnhofs in Berlin setzt sich im Außenraum fort.

Berlin Gelegen auf dem ehemaligen Gelände einer Militärschneiderei mit seiner typisch preußischen Backsteinarchitektur hebt sich der Betonkubus markant von seiner Umgebung im Berliner Stadtteil Moabit ab. In ihrem Atelier braucht Katharina Grosse große Flächen für ihre oft raumgreifenden Bilder und Installationen. Das notwendige Tageslicht für ihre Arbeit liefern Dachfenster und sparsam eingefügte Fenster. Allerorten finden sich im Inneren angefangene und bereits vollendete Werke, die auf einen hohen Arbeitseinsatz schließen lassen.

Frau Grosse, hat Corona Ihre Schaffenskraft als bildende Künstlerin verändert?
Katharina Grosse: Wir haben die große Installation „It Wasn’t Us“ im Hamburger Bahnhof in Berlin mit viel mehr Zeit einrichten können. Das Berliner Museum ist vergangenen Sommer zu meinem Atelier geworden. Ohne diese Extrazeit hätten wir vor Ort die Styropor-Gebirge vor der Übermalung nicht so detailliert mit heißem Draht ausarbeiten können. Als Künstlerin hat mir Corona entsprechend zeitweise sogar geholfen.

Wo haben Sie den bislang letzten Lockdown erlebt?
Da war ich in Neuseeland, dort habe ich ein Haus. Meine Lebenspartnerin ist Neuseeländerin. In dem verlängerten Aufenthalt dort habe ich u.a. meine Ausstellung in Los Angeles in der Galerie Gagosian vorbereitet, die jetzt bald am 10. September eröffnet wird.

Klingt alles nach Entschleunigung?
Absolut. Alle meine Ausstellungen haben sich nach hinten verschoben. Außerdem reise ich seither nur noch bei wirklich wichtigen Anlässen. Die so eingesparte Zeit tut meinen verschiedenen Projekten gut. Ich kann jetzt endlich die Synchronizität meines Handelns wiederherstellen.

Was meinen Sie mit Synchronizität?
Genau übereinzustimmen mit dem, was ich momentan mache. Ich bin seit der Pandemie wieder mehr im Hier und Jetzt. Dadurch wird auch Berlin als Schaffensort wieder wichtiger, es gibt mehr Zeit, Freundschaften zu vertiefen.

ist eine Auftragsarbeit für die Helsinki Biennale, die bis 26.9. dauert. Maija Toivanen / Courtesy: König Galerie / Copyright: Katharina Grosse und VG Bild-Kunst, Bonn, 2021

Katharina Grosse „Shutter Splinter“

ist eine Auftragsarbeit für die Helsinki Biennale, die bis 26.9. dauert.

Spiegelt sich die außergewöhnliche Situation auch in Ihren aktuellen Werken wider?
Die gesteigerte Emotionalität führt zu einer anderen Entscheidungskette. Das ist neu. Manche Arbeit braucht einfach länger. Wenn sie fertig ist, sehe ich dann auch klarer warum. Die Kontrolle ist anders.

Sahen Sie die Freiheit der Kunst durch die Corona-Politik gefährdet?
Problematisch war sicher die Kategorisierung der Kunst als nicht gesellschaftlich relevant. Das ist aber nicht erst seit Corona ein Problem. Der privatwirtschaftliche Kunstbetrieb wird als Kapitalismus abgestempelt. Da wird falsch eingeschätzt, wie feinverästelt unsere Ökologie in viele Bereiche der Gesellschaft hineinwirkt.

Freiheit kann auch die Idee sein, die Sie in Ihrem Werk behandeln – oder?
Selbstverständlich. In meiner Arbeit überlege ich, wo überschreite ich eine Grenze? Wo wechseln die Hierarchien? Wie kann ich in den Bestand hinein etwas Neues erfinden, ohne diesen Bestand auszulöschen, der die Bedingung für meine Arbeit ist? Was ist also Freiheit? Es wäre super, wenn diese Diskussion selbstbewusst und in der Mitte der Gesellschaft geführt würde.

Können Sie uns ein Beispiel für eine derartige Grenzüberschreitung geben?
Nehmen wir ein bloßes Buch, das auf einem Tisch liegt: Da haben beide, das Buch und der Tisch, Objektgrenzen. Wenn ich aber beides mit Rot übermale, dann bilden Buch und Tisch mit dem verbindenden Rot zusammen ein Kunstwerk. Meine Aufgabe als Künstlerin ist es, einen Entwurf zu machen, der nicht denkbar ist für andere. Der ausgreift, z.B. in den Bereich hinter der Ausstellungshalle im Hamburger Bahnhof, und einen quasi toten Raum zwischen Museum und der benachbarten Wohnbebauung erlebbar macht. Für mich ist dieser Raum denkbar, weil das mein Spezialgebiet ist.

Die Installation ist in Aarhus heftig umstritten. René Dame; Courtesy: ARoS Triennial und König Galerie; Copyright: Katharina Grosse und VG Bild-Kunst, Bonn, 2021

Katharina Grosse „Asphalt Air and Hair“

Die Installation ist in Aarhus heftig umstritten.

Farben sind zentral für Ihre Kunst. Was können sie?
Farben sind emotional flexibel. Das hat sie lange diskreditiert: Dass sie weiblich wären und Stimmungen reflektierten und deshalb keine Aussagen treffen könnten, die uns hilft.

Das sehen Sie entsprechend komplett anders?
In der Kunstgeschichte wurde die Zeichnung, die Idee, lange Zeit höher bewertet als das Kolorit. In der Idee wurden Standpunkte verhandelt. Ich vertrete genau das Gegenteil. In den vergangenen 100 Jahren sind die großen Errungenschaften im Feld der Farbe gemacht worden. Farbe steht für die Möglichkeit der Transformation, sich immer wieder neu und ohne großen Aufwand zu wandeln.

Ständige Führungswechsel und permanent neue Perspektiven konnten die Besucher im Hamburger Bahnhof beim Entdecken Ihrer Werke erleben.
Genau. So könnten wir generell unsere Realität immer wieder neu bewerten und nicht negativ vermerken, dass unsere Planungen hinfällig geworden sind. Unser Nervensystem ist für den Prozess gemacht.

Was bedeutete der Titel „It Wasn’t Us“?
Es ist eine offene Aussage, die alles einschließt. Wir waren das nicht – das lässt sich verstehen im Sinne von: Es ist nicht unsere Schuld. Oder: Sie verwechseln uns gerade.

Sie sind kürzlich zur Biennale von Helsinki eingeladen worden. Welche Art von „Landschaftsbild“ haben Sie dort hinterlassen?
Es gibt eine Insel vor Helsinki, die immer wieder im Wechsel von schwedischen und russischen Soldaten besetzt gewesen ist. In deren geschütztem Ökosystem steht noch eine alte, verfallene Schule. Vor das Holzhaus habe ich eine Skulptur gebaut aus Ästen, die aussieht wie ein sternförmiger Splitter und beides übermalt. Auf den unterschiedlichen Materialien entfaltet die Farbe unterschiedliche Brillanz.

setzt die Spritzpistole im Innen- und Außenraum ein. Fabian Strauch/dpa; VG Bild-Kunst, Bonn

Katharina Grosse

setzt die Spritzpistole im Innen- und Außenraum ein.

Sie haben schon öfter an Küstenstrichen gearbeitet, etwa in der Nähe von New York, in Aarhus und jetzt in Helsinki. Spiegelt sich die Diskussion um den Klimaschutz in Ihrer Arbeit wider?
Sie können alles darin sehen. Die Arbeiten haben entsprechend verschiedenste Reaktionen hervorgerufen. Der bemalte Strand und Parkrasen in Aarhus sieht für manche toxisch aus.

Toxisch?
In Aarhus gab es das Naherholungsgebiet mit Fahrradwegen, direkt daneben die vierspurige Küstenstraße und den königlichen Garten mit der Residenz der königlichen Familie. Dazwischen liegt ein ungepflegter Abraumbereich. Über all das habe ich gemalt.

Nur die Straße musste frei von Farbe bleiben, wie wir hörten?
Es war gut, dass mir die Behörden die Fahrbahn nicht erlaubt haben. Ich habe das Verbot gewendet und gesagt: Dann läuft die Straße eben über meine Arbeit. Solche Arbeiten bleiben nie lange zu sehen: Sie wachsen aus dem Gras heraus oder jemand mäht den Rasen.

Warum gab es dennoch scharfe Proteste gegen Ihren Eingriff in die Landschaft?
Es regte sich früh Protest, der Museumsdirektor organisierte Diskussionsforen, um der Frage nachzugehen: Warum stößt die Arbeit von Katharina Grosse auf so viel Abwehr? Die Empörten fragten: Darf eine Fremde hier in Dänemark so etwas tun? Zerstört sie nicht die Umwelt?

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Katharina Grosse

ist eine der renommiertesten Malerinnen der internationalen Gegenwartskunst. Sie setzt die Spritzpistole für Arbeiten im Innen- und im Außenraum ein. Von 2000 bis 2010 war sie Professorin in Berlin-Weißensee, bis 2018 an der Kunstakademie Düsseldorf.

„Repetitions without Origin“

heißt die Galerieausstellung mit neuesten Bildern in der Gagosian Galleryin Los Angeles . Sie läuft vom 11. September bis 23. Oktober 2021. Neben Gagosian vertreten die Künstlerin auch die König Galerie und die Galerie nächst St. Stephan. Auf dem Auktionsmarkt erzielen ihre Werke Preise bis zu 450.000 Euro.

„It Wasn‘t Us“: Katalog

zur Ausstellung 2020 im Hamburger Bahnhof, 216 Seiten, 172 Abbildungen, 44 Euro, Hatje Cantz Verlag.

Haben Sie mit derartiger Kritik gerechnet?
Ich habe keinen Einfluss auf die Reaktionen und spekuliere daher nie damit. Die Heftigkeit – auch des quasi körperlichen Angriffs – hat keiner antizipiert.

Und waren in Aarhus doch überrascht?
Das Problem bestand schon vorher. Ich schaute dort von einem wunderschönen Naherholungsgebiet geradewegs auf eine Raffinerie. Deren Umweltbelastung betrifft uns alle. Ich legte mit meiner ephemeren Wasserfarbenarbeit wie mit einer Lupe nur den Fokus auf diese Gegensätzlichkeit. Auch mein Eingriff ist eine Belastung, eine Zumutung.

Und setzten so ein Reizthema?
Meine Arbeiten fordern an jedem Ort auf: Lass uns da mal genauer hinschauen. Ohne die jeweilige Gemengelage wären sie keine Herausforderung für den Betrachter. Das Thema Umweltzerstörung wird aber nicht ausbuchstabiert. In Aarhus war viel freundliches Rosa dabei, die Menschen haben sich darin fotografiert.

Lernen Sie daraus für neue Projekte in der Landschaft?
Schon, aber ich wiederhole nichts. Und schon gar nicht male ich einen Felsen an wie von einer Schweizer Gemeinde aktuell gewünscht. Ich überschreibe Verstricktes und male nicht an. Kunst schafft immer Modelle für das Durchdenken von Grenzsituationen.

100 Frauen in der Kunst: Wie ein Buch den Augenöffner spielt

100 Frauen in der Kunst

Wie ein Buch den Augenöffner spielt

Etabliert, vergessen oder aufgestiegen: Das Buch „I Love Women In Art“ entwirft ein imaginäres Museum bedeutender Künstlerinnen.

Worin liegt die gesellschaftliche Relevanz von Kunst?
Allgemein gesprochen machen alle Künstlerinnen und Künstler Vorschläge für Alternativen. Für Nicht-Denkbares. Um zu zeigen, so könnte es auch sein. Wir sind entsprechend Reflektoren der Gesellschaft.

Das Besondere an der Kunst ist also...
..., dass durch sie vielschichtige und widersprüchliche Erfahrungen auf einmal für uns zugänglich werden, wie etwa bei der Einnahme eines scharfen Kräuterextraktes. Wir können Komplexes gut aufnehmen. Nur meist meinen wir, wir müssten Dinge isoliert betrachten, etwa nur Geschäftszahlen ansehen und nicht etwa die Folgen für die Menschen. Die Verstrickung ist in einem Kunstwerk spürbar.

Das Bild von 2021 wird in Beverly Hills in der Gagosian Gallery gezeigt. Jens Ziehe / VG Bild-Kunst, Bonn, 2021

Katharina Grosse „o.T.“

Das Bild von 2021 wird in Beverly Hills in der Gagosian Gallery gezeigt.

An der Möglichkeit, dass mehr Frauen Führungspositionen in Politik und Gesellschaft wahrnehmen, arbeitet Deutschland seit vielen Jahren. In der Galerieszene hat sich die Präsenz der Frauen mit Ihrer Generation geändert. Steht alles zum Besten?
Die Geschichtsschreibung bildet die Kreativität von Frauen nicht ab. Für die großen Sammlungen muss viel mehr von Künstlerinnen angekauft werden. Wir können nur das halbe Bild sehen.

Und allgemein?
Wir brauchen viel mehr Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung und Zugewandtheit unter den Geschlechtern, den Herkünften, den Einheimischen und den Neuangekommenen. Schließlich prägten 12 Millionen Geflüchtete die deutsche Nachkriegsgesellschaft und haben viele kulturelle Prägungen mitgebracht. Deutsche denken, indem wir auf ein Ziel direkt zugehen, könnten wir effizient sein. Wir sind nicht geübt, Umstände mitzudenken. Das könnte ein Grund sein, warum es schwer ist, sich auf das Andere einzulassen.

Was würden Sie sich von der Bundesregierung wünschen?
Zeitgenössische Kunst und Kultur zu nutzen, um immer wieder ungedachte Möglichkeiten für unser Zusammenleben zu finden.

Wie steht es um das Thema „Equal Pay“ in der Kunstszene?
Ich sehe immer noch große Unterschiede. Die vermeintlich fortschrittliche Kunstszene ist genauso konservativ und hinterher wie die Gesellschaft. Es gibt aber in der nächsten Generation glücklicherweise auch Künstlerinnen, die, was die Bezahlung betrifft, fordernder sind. Wenn eine Hälfte der Gesellschaft immer von Privilegien ausgeht und auf Kosten der anderen diese Privilegien nutzt, beeinflusst das beide Seiten und schreibt sie fest.

Sie sind in vielen Museumsausstellungen, Privat- und Firmensammlungen vertreten und haben einen hohen Marktwert. Wie werden Sie bezahlt?
Die meisten meiner Arbeiten im Freien verschwinden wieder. Mit ihnen entwickele und teste ich meine Arbeit. Davon lebt man aber nicht. Diese Projekte werden ermöglicht von Museen, Sponsoren oder den Galerien. Die Gemälde auf Keilrahmen dagegen haben einen Marktwert, der sich durch den Verkauf bestätigen muss. Dadurch entwickelt sich der Preis von Jahr zu Jahr.

Sie haben drei Ateliers in Berlin und eines in Neuseeland. Kann man erkennen, welche Werke aus Neuseeland kommen?
Ich arbeite an allem gleichzeitig, den Modellen, Entwürfen oder im Studio an Bildern. Die Modelle reisen oft in Koffern hin und her mit mir. Die Bilder tragen viel von der Luft, dem Licht und der Atmosphäre der subtropischen Landschaft in sich.

Wie wir hörten, sind Sie auch ein veritabler Fußballexperte…
Ich liebe Ballspiele, weil der Ball fliegen kann und Menschen können das nicht. Der Ball kann, was das Auge kann, nämlich Distanzen und Hindernisse elegant und leichtfüßig überbrücken.

Und?
Eine plötzliche Drehung kann den Spielausgang stürzen. Wie konnte Trent Alexander Arnold bloß im Champions-League-Halbfinale zwischen Liverpool und Barcelona mit dem überraschend kurzen Eckball Divock Origi finden, der dann freistehend das entscheidende Tor erzielte? Voller Mut und Witz. Und haben Sie gesehen, wie Thomas Tuchel als Trainer von Chelsea im Champions-League-Finale mit einer ganz neuen Raumaufteilung das Spiel quasi gestohlen hat? Ich war absolut begeistert – und jetzt freue ich mich, dass der VfL Bochum aus meiner Heimat wieder Bundesliga spielt. Vielleicht gehe ich bald mal wieder ins Stadion an der Castroper Straße.

Frau Grosse, vielen Dank für das Gespräch.

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