Das Kunst- und Geschichtsmuseum von Genf gab dem Kurator Jean-Hubert Martin freie Hand, die Schausammlung neu zu hängen. Der Franzose schuf Konstellationen zum Schmunzeln und Nachdenken.
„Condition humaine“
In der Sektion über die Lebensbedingungen des Menschen trifft die Skulptur „Denker“ von Auguste Rodin auf Ferdinand Hodlers „Philosophischen Arbeiter“.
Bild: J. Gremaud; Musée d’art et d’histoire de Genève, photo
Genf „Schauen, das ist das Wichtigste in dieser Schau“, sagt der Ausstellungsmacher Jean-Hubert Martin. Was so humorvoll wie didaktisch klingt, ist eine gern übersehene Tatsache. Die meisten Besucher blicken nur Sekunden auf ein Objekt. Das will der Franzose ändern.
Martin bekam „carte blanche“, also freie Hand, keine Vorgaben. Der Kurator hat die weit gefächerten Bestände des Genfer Musée d’art et d’histoire, des Kunst- und Geschichtsmuseums, aufbereitet mit dem frischen Blick des außenstehenden Gastes.
Der programmatische Titel der Schau heißt deshalb auch „Urteilen Sie selbst“. Jean-Hubert Martin ist auch in Deutschland bekannt. Er leitete sieben Jahre das Museum Kunstpalast in Düsseldorf.
Der Ausgangspunkt: Die Stadt Genf hat einen Neustart beschlossen. Die bisher getrennt inventarisierten Sammlungen sollen einheitlich nummeriert, das pompöse Museumsgebäude vergrößert werden. Um die Aufmerksamkeit auf den Museumsbau und seine 15.000 Jahre überspannenden Bestände zu lenken, stellte die Stadt Genf einen ideenreichen neuen Direktor ein, den Schweizer Marc Olivier Wahler.
Der holte sich nach der österreichische Künstlerin Jakob Lena Knebl, die derzeit bei der Biennale von Venedig Aufsehen erregt, einen zweiten „agent provocateur“. Wie Knebl stieß auch Jean-Hubert Martin von vornherein auf Kritiker, die ihn mit der Veröffentlichung seines Honorars diskreditieren wollten. Souverän wischte der erfahrene Kurator den Vorbehalt weg.
Ein Argument: Die Bezahlung von 100.000 Euro entspräche dem zweijährigen Halbtagsjob, der zur Vorbereitung der Ausstellung nötig war. Denn die Sammelgebiete des Museums umfassen bildende und angewandte Kunst, Grafik, Archäologie, Numismatik, Miniaturen, Waffen, Musikinstrumente, Uhrmacherei, Schmuck und historische Exponate, darunter eine Guillotine.
Jean-Hubert Martin und Marc Olivier Wahler
Der Direktor des Genfer Musée d’art et d’histoire (re.) lud den Kurator ein, die Schausammlung neu zu hängen.
Bild: B. Jacot-Descombes; Musée d’art et d’histoire de Genève
Die Guillotine ist ein schauriges historisches Exponat der Schau, in der sich Martin über Ausstellungskonventionen hinwegsetzt. Er inszeniert rein visuelle Assoziationen zwischen Kunstwerken und Objekten des Kunsthandwerks. Das setzt bei den Besuchern Sinn für Humor voraus und die Bereitschaft, sich auf Martins Vorschläge einzulassen, sich überraschen zu lassen und selbst nachzudenken.
Das Ergebnis der untypischen Werkauswahl ist eine Ausstellung, die sich über 3500 Quadratmeter im monumentalen Museumsgebäude erstreckt. Martin nutzt oft bestehende Vitrinen und etablierte Säle mit ihrem üblichen Bestand, fügt ihnen aber listig Werke mit ähnlicher Thematik hinzu.
Zum Beispiel nutzt er den riesigen Saal mit Waffen und Rüstungen, in dem auch die Guillotine steht, um ein Gemälde von Nicolas Régnier mit mogelnden Kartenspielern zu zeigen. Der Betrug beginnt beim Kartenspielen und kann bis zur Todesstrafe durch Enthauptung führen.
In dem Saal mit dem Titel „Vom Kreuz zur Weltkugel“ konfrontiert Martin die Besucher mit der geometrischen Form des Kreuzes. Es spielt in der christlich geprägten Zivilisation eine wichtige Rolle. Er stellt ihm die Form der Kugel und des Kreises gegenüber, die Vollkommenheit symbolisieren. Die Exponate reichen vom Mittelalter bis zur Land Art aus den 1960er-Jahren.
Höhepunkt der Ausstellung
Die ca. 350 Exponate für den langen, schmalen Saal wählte Jean-Hubert Martin ausschließlich nach Farbkriterien aus.
Bild: J. Gremaud; Musée d’art et d’histoire de Genève
Das Thema der „Condition humaine“, der Lebensbedingungen des Menschen, illustriert für Kurator Martin eine Skulptur von Auguste Rodin. Der Bildhauer hatte den „Denker“ dem Genfer Museum einst geschenkt. Jean-Hubert Martin setzt ihn in Bezug zu einem knienden Tischler, den Ferdinand Hodler dann aber als „Philosophischen Arbeiter“ malte.
Einen zeitgenössisch-philosophischen Aspekt brachte der 2020 verstorbene Schweizer Künstler Markus Raetz durch Geschenke in die Museumssammlung. Jean-Hubert Martin verteilt seine raffinierten Skulpturen und Graphiken auf mehrere Säle.
Raetz spielte gekonnt mit dem getäuschten Blickwinkel des Betrachters, mit Licht und Schatten, mit Linie und gedachtem Volumen. Das erschließt sich abermals nur dem Betrachter, der genau hinsieht.
Die zentrale Ausstellung zur Eröffnung der Neuen Nationalgalerie zieht viele politisch-historische Verbindungslinien. Die ästhetische Einordnung hat weniger Gewicht.
Der Höhepunkt der Ausstellung war ein langer, schmaler Saal, der ausschließlich nach Farbkriterien gestaltet war, ohne Rücksicht auf zeitliche, geografische oder kunsthistorische Vorgaben. Beginnend mit grün, blau, violett, rosa bis rot, braun und schließlich weiß, sah man etwa 350 Exponate, die kreuz und quer aus diversen Museumsabteilungen zusammengetragen wurden. Gemälde, Tapeten, Teppiche, Schachteln, Bekleidung und zuletzt ein Hochzeitskleid amüsieren mit diesem fröhlich-frechen Exponat-Mix in den Farben des Regenbogens. Ausgerechnet dieser Saal wurde noch vor Ende der Ausstellung für die nächste Schau benötigt.
Die Ausstellung „Pas besoin d’un dessin“ im Musée d’art et d’histoire in Genf läuft bis 19. Juni 2022.
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