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09.01.2020

16:51

Shirin Neshat

Frauenpower aus dem Orient

Von: Olga Grimm-Weissert

Die Exiliranerin Shirin Neshat ist eine der wichtigsten Künstlerinnen der Gegenwart. Ihr Blick auf den Iran sucht die Mehrdeutigkeit – und stellt die Frau in den Vordergrund.

„The First Thing About Love“, eine Farbfotografie aus dem Jahr 2018 (Ausschnitt). Shirin Neshat. Courtesy Noirmontartproduction, Paris

Shirin Neshat

„The First Thing About Love“, eine Farbfotografie aus dem Jahr 2018 (Ausschnitt).

Paris Die Woche beherrschte der Iran die Schlagzeilen. Auf die Tötung des iranischen Generals Ghassem Soleimani im Irak durch amerikanische Drohnen vergangenen Freitag folgten Vergeltungsanschläge auf amerikanische Stützpunkte im Irak. Im Iran gerieten auch die tagelangen Gedächtnisfeiern für den Getöteten zu landesweiten, gigantischen Straßenumzügen für einen verehrten Märtyrer.

Was für ein Land ist der Iran? Eine Antwort auf die Frage bietet die Kunst von Shirin Neshat. Museen in Paris, im tunesischen Dorf Sidi Bou Said und in Los Angeles feiern die amerikanisch-iranische Künstlerin mit Ausstellungen und einer Retrospektive.

Neshat ist Fotografin, Videokünstlerin und Filmemacherin von Weltgeltung. Sie erhielt prestigeträchtige Preise wie den Goldenen Löwen der Kunstbiennale in Venedig 1999, den Silbernen Löwen der Filmfestspiele von Venedig 2009 und 2017 mit dem japanischen Praemium Imperiale quasi den Nobelpreis für Kunst.

Zentrales Thema in Neshats Œuvre ist die Lage der Frau in der muslimischen Welt. Schwarz-Weiß-Fotografien verschleierter Frauen, auf deren Haut Botschaften in perfekter Farsi-Schrift kalligrafiert sind, sorgten ab den 1990er-Jahren in der Kunstszene für Aufsehen. Damals bildete sich Neshat auch selbst ab: Schwarz verschleiert, mit stark geschminkten Augen richtete sie gelegentlich eine Pistole auf den Betrachter.

Die Doppeldeutigkeit vieler Arbeiten, die das Frauenschicksal unter dem schwarzen Tuch zwar denunzieren, aber ästhetisch verschönern, ist zentral für ihr Werk. Dazu meint sie: „Ich kann keine iranische Kunst machen, weil ich nicht dort lebe.“

Sie sei in der Fiktion und erfindet ihren Iran deshalb: „Ich bin glücklich in dieser Form von Surrealismus und Symbolismus, weil ich die Realität nicht wiedergeben kann.“ Im Gespräch mit dem Handelsblatt fasst sie ihre Haltung so zusammen: „Am Anfang war meine Arbeit politischer, inzwischen ist sie mehr Imagination und Traumvision, getragen von Emotionen. Sie müssen meine Werke als Poesie auffassen“.

Die Sängerin versetzt ihr Publikum in Trance. Abgebildet ist eine farbige Fotoarbeit aus dem Jahr 2018. Shirin Neshat. Courtesy Noirmontartproduction, Paris

Shirin Neshat: „Oum Kulthum“

Die Sängerin versetzt ihr Publikum in Trance. Abgebildet ist eine farbige Fotoarbeit aus dem Jahr 2018.

Schön wie die ägyptische Königin Nofretete, strahlt die Künstlerin im Gespräch Würde und jugendlichen Charme aus. Nostalgisch-melancholische Momente verlagert die Powerfrau in ihr Werk, weniger ins Gespräch. Der Pariser Verein Azzedine Alaïa zeigte im Pariser Stadthaus des verstorbenen gleichnamigen Modeschöpfers die neuesten Werke von Shirin Neshat: „Looking for Oum Kulthum“. In Alaïas Haus in Sidi Bou Said ist die Ausstellung noch bis 17. Mai zu sehen.

Die 62-jährige Neshat und ihr iranischer Lebenspartner Shoja Azari erarbeiteten zuerst den – in Deutschland gedrehten – Spielfilm über die ägyptische Ausnahmesängerin Oum Kulthum. Der wird jetzt durch zwei neue Videos und acht großformatige Farbfotos ergänzt. Darin imaginiert Shirin Neshat die intime und die öffentliche Seite im Leben der Starsängerin mit der tiefen Stimme. Neshat bezeichnet die von ihren Fans vergötterte Kulthum im Gespräch mit dem Handelsblatt als die „bedeutendste Künstlerin des 20. Jahrhunderts im Orient“.

Erfolge in Europa

Kulthum lebte von 1898 bis 1975 und galt als die Maria Callas Arabiens, die Arm und Reich, Frau und Mann, Jung und Alt zugleich begeisterte. Und auch in Europa feierte sie Erfolge. Klug und sozialpolitisch bewusst, setzte sie ihren Einfluss auf die ägyptischen Machthaber von König Faruk bis Gamal Abdel Nasser ein.

Shirin Neshat wählte Kulthum, weil sie „kraftvolle Frauen faszinieren“, wie sie sagt. „Oum Kulthums Erfolg war einzigartig. Sie lebte in einer von Männern dominierten Gesellschaft und war trotzdem als Frau anerkannt.“ Vor allem den Betrachtern im Westen möchte Neshat „die Wirkung dieser Frau auf ihr Publikum“ vermitteln.

„Auf Arabisch gibt es das Wort ‚Teab‘ für den Zustand der Trance, der Ekstase. Die Konzertbesucher befanden sich in einem von ihrer Stimme, von der Musik hervorgerufenen orgiastischen Moment wie unter Drogen.“ Das Video mit dem Titel „Remembrance“ zeigt einen zehnjährigen Jungen, der die im Zenit ihrer Karriere angelangte Sängerin vor einem Konzert hinter den Kulissen beobachtet: „Er sieht ihre Einsamkeit, ihr schreckliches Leiden. Künstler müssen ihren Kummer und ihre Zweifel verheimlichen.“

Möchte Neshat Einfluss auf Betrachter ausüben? Sie reagiert distanziert: „Ich kann nur Fragen stellen, die vielleicht interessant sind, aber keine Antworten formulieren. Es soll ganz einfach ein Dialog sein“.

Mehr: Kunst als Gesellschaftskritik: Lesen Sie hier, wie arabische Künstler die Grenze der freien Meinungsäußerung ausloten.

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