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01.02.2022

07:33

Zeitgenössische Kunst

Gerhard Richter: Der Meister, der permanent seinen Stil wechselt

Von: Susanne Schreiber

Kein Künstler aus Deutschland genießt weltweit mehr Ansehen als Gerhard Richter. Am 9. Februar wird der Wahl-Kölner 90 Jahre alt. Eine Verbeugung.

Die fünfteilige Arbeit hängt als Leihgabe in der Aquarell-Ausstellung der Galerie Schönewald. Gerhard Richter 2021

Gerhard Richter „Colmar I-V“

Die fünfteilige Arbeit hängt als Leihgabe in der Aquarell-Ausstellung der Galerie Schönewald.

Düsseldorf Gerhard Richter ist ein Ausnahme-Künstler. Keinesfalls weil seine Bilder zeitweise auf Auktionen die höchsten Bewertungen für einen lebenden Künstler nach sich zogen. In der Spitze erreichten sie 2015 für eine Abstraktion bei Sotheby‘s 46,3 Millionen Dollar. Eine Ausnahmeerscheinung ist der Maler vielmehr, weil er den permanenten Stilwechsel – anders als alle seine Kollegen – selbst zum Stilprinzip erhoben hat.

Der publikumsscheue Künstler, der nur selten Interviews gibt, macht fast alles anders. Eine Annäherung in sechs Schritten an den wichtigsten und einflussreichsten Maler der Gegenwart, der am 9. Februar seinen 90. Geburtstag feiert.

1. Regeln brechen: Gerhard Richter ist ein Künstler, der die Skepsis an dem, was Malerei heute kann, betont und sichtbar macht. Er ist ein Maler, der in seinen Landschaftsbildern gegen Kitsch und Romantik-Begriffe arbeitet; einer, der sich nicht die Wirklichkeit, sondern Medienbilder als Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Malerei nimmt. Einer, der verschwimmen lässt, was er soeben gemalt hat. „Ich verwische, um alles gleich zu machen, alles gleich wichtig und gleich unwichtig. Ich verwische, damit es nicht künstlerisch-handwerklich aussieht, sondern technisch, glatt, perfekt.“

Der Schönheit misstraut Richter. Und doch schafft er insbesondere bei den kontrastfarbigen Abstraktionen pure Schönheit. Er konstruiert und dekonstruiert zugleich, wenn er mit einem Rakel die verschiedenen Malschichten verwischt. Der Zufall ist genauso wichtig wie das freie Spiel von Aktion und Reaktion.

Die Liste jener Regeln für Maler, die Richter über den Haufen geworfen hat, ist lang. Erwähnt seien nur noch seine Aquarelle, von denen später noch die Rede sein wird. Für sie ist ihm schlichtes Schreibmaschinenpapier lieber als das klassische Büttenpapier. Darauf lässt er die Wasserfarben sich entwickeln und meint, vollkommen uneitel, das Entscheidende sei vor allem der Moment des Stoppens.

Die 2002-2010 entstandene Installation aus gestaffeltem Fensterglas verweigert das traditionell von einem Maler erwartete Bild und dessen Inhalt. Gerhard Richter 2021 (0165-2021), Foto_David Brandt, SKD

Gerhard Richter „9 Stehende Scheiben (879-3)“

Die 2002-2010 entstandene Installation aus gestaffeltem Fensterglas verweigert das traditionell von einem Maler erwartete Bild und dessen Inhalt.

2. Stile wechseln: Wüste „Vermalungen“ stehen grau in braun neben juwelenhaft leuchtenden Bildern. Riesige Farb-Abstraktionen stoßen auf leicht verwischte Bilder von Menschen. Überall hat der Zufall seine Hand im Spiel.

Mächtige Installationen aus gestaffeltem Fensterglas und spiegelnde Lack-Oberflächen verweigern das traditionell von einem Maler erwartete Bild und dessen Inhalt. Stattdessen konfrontieren sie die Ausstellungsbesucherinnen mit ihrem eigenen Abbild.

Gerhard Richter wechselt den Stil fortwährend und meisterhaft. Trotzdem hat er Erfolg auf dem Markt – eine Ausnahme. Denn üblicherweise will ein Künstler wie eine Marke wiedererkannt werden und produziert deshalb oft Jahrzehnte lang nur Variationen einer Bildfindung.

Gerhard Richter

Gerhard Richter

Geboren am 9. Februar 1932 in Dresden

1961 Flucht in die Bundesrepublik

Bis 1964 Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, dort Professor von 1971 bis 1994

2021 Gründung der Kunststiftung Gerhard Richter

2022 Vollendung des sechsbändigen Werkverzeichnisses im Hatje Cantz Verlag

Richters Begründung für den Stilwechsel: „Ich möchte, dass sich der Inhalt aus der Form entwickelt (und nicht umgekehrt für eine literarische Idee eine Form gefunden wird).“

Nicht der Realität gilt sein Interesse, sondern dem Schein der Realität. Deshalb malt er Landschaften und Porträts nicht nach der Natur, sondern nach Fotos und Vorlagen. Nimmt man alle seine Stile zusammen, dann lehren sie die Betrachter, welche Möglichkeiten die Malerei heute hat. Richter will unsere Wahrnehmungs- und Erkenntnisgrenzen erweitern.

Das „Selbstportrait (836-1)“ entstand 1996 (Aussschnitt). Gerhard Richter 2021

Gerhard Richter

Das „Selbstportrait (836-1)“ entstand 1996 (Aussschnitt).

3. Geschichte reflektieren: „Gerhard Richter ist ein nachdenklicher Künstler, der nicht nur ästhetisch hochsensibel reagiert, sondern auch historisch denkt und sein bildnerisches Schaffen theoretisch durchdringt.“ Das schreibt der Kunsthistoriker Armin Zweite in der großen Monografie von 2019 aus dem Schirmer Mosel Verlag. Zweite schreibt mit großer Kenntnis. Schließlich hat der einstige Direktor des Museum Lenbachhaus in München seit 1973 mit dem Künstler arbeiten können.

Ausgehend von der eigenen Familiengeschichte und Schwarzweißfotos reflektiert Gerhard Richter 1965 den Nationalsozialismus. Er malt ein verwischtes Porträt von „Tante Marianne“, die zwangssterilisiert, dann getötet wurde. „Onkel Rudi“ wird in Wehrmachtsuniform porträtiert. Er porträtiert in „Herr Heyde“ nach einem Pressefoto den Mediziner, der für Massenmorde an Behinderten verantwortlich ist.

Ausstellungen & Bücher

Berlin

„Künstlerbücher“: In der Neuen Nationalgalerie Berlin von 10. Februar bis 29. Mai 2022. Bücher sind für das Verständnis von Gerhard Richters Arbeit und sein Selbstbild als Künstler unverzichtbar. Denn Richter griff immer auf eigene Bildmotive zurück und experimentierte.

Dresden

„Porträts. Glas. Abstraktionen“: Im Albertinum in Dresden von 5. Februar bis 1. Mai 2022. 40 Bilder und Objekte, die von Gerhard Richter selbst ausgewählt und installiert wurden. Viele Werke besitzen eine persönliche Bedeutung für ihn.

Düsseldorf

„Gerhard Richter. Birkenau-Zyklus, Zeichnungen, Übermalte Fotos“ ist bis zum 24. April in der Kunstsammlung NRW im K21 zu sehen. Der Künstler hat die kleine Ausstellung des gewichtigen Zyklus ergänzt durch einen Raum mit Zeichnungen. Die jüngsten entstanden im Juli 2021.

„Aquarelle 1977 – 1997“

In der Galerie Schönewald, Lindenstraße 182 in Düsseldorf bis 19. Februar 2022. Es erscheint ein Ausstellungskatalog, in dem Dietmar Elger die Aquarelle im Gesamtwerk einordnet.

„Zeichnungen 1963 – 2020“

In der Galerie Sies + Höke, Poststraße 2+3, Düsseldorf bis 26. Februar 2022. Im umfangreichen Katalog erscheint ein Text von Dieter Schwarz, Herausgeber des Werkverzeichnisses von Gerhard Richters Zeichnungen.

Armin Zweite: Das Denken ist beim Malen das Malen.

Gerhard Richter – Leben und Werk, 480 Seiten, 251 Farbtafeln, 162 Abb., 2019, Schirmer/Mosel Verlag, 128 Euro.

Gerhard Richter Catalogue Raisonné I-VI

hg. v. Dietmar Elger im Hatje Cantz Verlag, Einzelband 258 Euro; bei Abnahme der Reihe 198 Euro pro Band. Geplant sind noch zwei weitere Bände: VII.a Gesamtübersicht und VII. b Biografie, Ausstellungen, Literatur sowie neueste Forschungsergebnisse.

1988 wendet sich Gerhard Richter der RAF zu und malt fünfzehn Gemälde unter dem Titel „18. Oktober 1977“. Der Zyklus wurde 1995 vom Museum of Modern Art in New York angekauft.

2014 entstehen vier Großformate, der „Birkenau“-Zyklus. Anlass waren Aufnahmen, die aus dem KZ Birkenau herausgeschmuggelt werden konnten. Leichen, Aufseher und entkleidete Gefangene hat Richter unter vielen Schichten überwiegend grauer Farbe unkenntlich werden lassen. Das Grauen ist nicht darstellbar.

„Birkenau“ ist bestimmt für einen der Haupträume im Neubau am Kulturforum für die Kunst des 20. Jahrhunderts, den die Architekten Herzog & de Meuron bis 2027 in Berlin fertig stellen sollen. Zurzeit ist er im K21 in der Kunstsammlung Düsseldorf ausgestellt.

Der Birkenau-Zyklus ist für Richter unverkäuflich, er wollte ihn dauerhaft Deutschland wissen. Das Metropolitan Museum in New York hätte ihn gern erworben. Doch Richter entschied sich für eine Stiftung.

4. Nachlass selbst ordnen: 2021 machten Gerhard Richter und seine dritte Ehefrau, die Malerin Sabine Moritz, öffentlich, dass sie die Gerhard Richter Kunststiftung gegründet haben. Mit 127 Werken und einem substanziellen Geldbetrag. Darin enthalten ist auch der „Birkenau“-Zyklus.

Gerhard Richter ist der unangefochtene Meister unter den Malerstars. Unter den erfolgreichsten Künstlern tritt er ohne Allüren auf. Auch darin ist er eher Ausnahme als Regel. Sehr bald schon ist er in den USA begehrt, in Museen weltweit vertreten, aber auch in vielen großen Corporate Collections deutscher Unternehmen, Versicherungen und Banken präsent. Immer wieder ist ihm ein Museum nur für sein Werk angetragen worden. Aber das wollte der im Umgang zurückhaltende, intellektuelle Künstler nicht. Ein Museum wäre ihm vorgekommen wie ein Grabmal, gab er zu Protokoll, zu statisch. Die Stiftung sei da dynamischer, erlaube Ausleihen und fördere die Arbeit mit dem Werk.

Gerhard Richter im Museum: Dem Künstler über die Schulter geschaut: Richter überrascht mit drei Zyklen auf Papier

Gerhard Richter im Museum

Dem Künstler über die Schulter geschaut: Richter überrascht mit drei Zyklen auf Papier

Zwei gelungene Gerhard Richter-Ausstellungen in Zürich und München legen offen, was den Malerstar im Innersten bewegt. Dabei sieht der Betrachter dem Künstler beim Malen quasi zu.

5. Kontrolle und Transparenz: Seit Jahrzehnten arbeitet Dietmar Elger an Richters Catalogue Raisonné. Der sechste, abschließende Band erschien kürzlich im Hatje Cantz Verlag. Insgesamt werden 4118 Werke auf 3536 Seiten vorgestellt mit allen technischen Angaben, Ausstellungen und Besitzern. Das ist außergewöhnlich. Denn nur wenige Künstler kümmern sich kontinuierlich um ihr Werkverzeichnis, das in Urheberrechtsfragen die höchste Instanz darstellt.

Gerhard Richter, der 1961 nach einem Studium an der Akademie in Dresden nach Düsseldorf floh, lässt das für ihn gültige Werk erst 1962 mit dem Gemälde „Tisch“ beginnen. Frühwerke aus der DDR haben für ihn keinen Bestand.

Der sechste Band endet mit der Werknummer 957. Sie gilt den Glasfenstern der Benediktinerabtei in saarländischen Tholey. Als sie2020 gefertigt wurden, verkündete der Künstler, mit dem Malen von Bildern aufzuhören. Dafür wendet sich jetzt intensiv den Zeichnungen zu.

Parallel zum gewichtigen Catalogue Raisonné veröffentlicht der Richter-Fan Joe Hage seit vielen Jahren das Werkverzeichnis online. gerhard-richter.com ist kostenlos zugänglich. Die vorzügliche Website liefert nicht nur alle Werke, sondern auch eine detaillierte Biographie, Ausstellungsverzeichnisse und viele autorisierte Zitate.

Bei diesem „Florenz III“ betitelten Aquarell aus der Ausstellung bei Schönewald sind die Spuren der Rasierklinge deutlich zu erkennen. Gerhard Richter 2021

Gerhard Richter

Bei diesem „Florenz III“ betitelten Aquarell aus der Ausstellung bei Schönewald sind die Spuren der Rasierklinge deutlich zu erkennen.

6. Fortgesetztes Experiment: Gefeiert wird der 90. Geburtstag des ebenso bekannten wie beliebten Malers in drei Museen und in zwei Galerien. Annähernd zehn Jahre hat Paul Schönewald, Kunsthändler in Düsseldorf, für seine aktuelle Ausstellung „Aquarelle 1977 bis 1997“ gesammelt. Unterstützt wurde er dabei von seinem Kollegen Anthony Meier aus San Francisco und von Privatsammlern wie Thomas Olbricht und anderen.

Richter hat sich in bestimmten Phasen intensiv mit Wasserfarben und ihren Möglichkeiten beschäftigt. Insgesamt sind nur knapp 400 Blätter entstanden. Von 51 Exponaten sind bei Schönewald bis 19. Februar 19 überwiegend leuchtend farbige, hinreißend attraktive Aquarelle käuflich zu erwerben.

Statt der Rakel, die Richter bei den Leinwandbildern über die Oberfläche zieht, um Farben zu durchmischen, bedient er sich bei den Aquarellen einer Rasierklinge. „So konnte er einen ähnlich fleckigen Abrieb der Farben erzeugen“, schreibt Dietmar Elger im Katalog der Galerie Schönewald. „In einigen Beispielen unterlegte er den Wasserfarben Strukturen in Pastellkreiden, auf denen das Aquarell deutlich abperlt.“ „Florenz III“

Abendauktion bei Ketterer in München: Gudrun und Robert Ketterer: Die Millionenjäger

Abendauktion bei Ketterer in München

Gudrun und Robert Ketterer: Die Millionenjäger

Ketterer bleibt 2021 Deutschlands umsatzstärkstes Auktionshaus für moderne und zeitgenössische Kunst. Allein die jüngste Abendauktion erlöste über 30 Millionen Euro.

Elger ist seit der Gründung des Gerhard Richter Archivs in Dresden im Jahr 2006 dessen Leiter und als Herausgeber des erwähnten Werkverzeichnisses, einer der besten Kenner des Oeuvres.

Die Preise der Aquarelle rangieren bei Schönewald zwischen 165.000 und 390.000 Euro. Aus der Folge „Florenz III“ kostet das am 7.2.84 datierte Blatt 350.000 Euro. Unverkäufliche Leihgabe ist hingegen die juwelenhaft leuchtende Serie „Colmar (I-V)“. Diese Folge aus fünf starkfarbigen Aquarellen aus dem wichtigen Jahr 1984 wurde im vergangenen Dezember bei Ketterer mit Folgerecht und Mehrwertsteuer für 951.900 Euro versteigert.

Das Spannungsverhältnis von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit, von Bedeutung und Banalität bestimmt Richters malerisches Schaffen. Es schlägt sich aber auch in seinen Zeichnungen nieder. „Auch hier arbeitet Richter gegen Bildnormen an, wobei die farbige Enthaltsamkeit der meisten Zeichnungen wie ein Brennglas die Reduktion auf das Wesentliche bewirkt“, schreiben Alexander Sies und Nina Höke.

Das Düsseldorfer Galeristenpaar zeigt bis 26. Februar „Zeichnungen von 1960 bis 2020“. Den Katalog hat Dieter Schwarz verfasst, Herausgeber des Werkverzeichnisses von Gerhard Richters Zeichnungen. In der gehaltvollen, dichten Schau lernen Besucherinnen und Besucher einen Künstler kennen, dessen Werk geprägt ist von der fortwährenden Suche nach einem neuen und unverbrauchten künstlerischen Ansatz.

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