Handelsblatt App
Jetzt 4 Wochen für 1 € Alle Inhalte in einer App
Anzeigen Öffnen
MenüZurück
Wird geladen.

06.10.2022

11:44

Zeitgenössische und Alte Kunst

Freiheit einatmen oder Gift

Von: Frank Kurzhals

In der Ausstellung über das Atmen spiegelt die Kunsthalle Hamburg Themen unserer Zeit. Von der Luftverschmutzung über das Rauchen bis zur Black Lives-Matter-Bewegung.

Unter Wasser kommt der Atmen an seine Grenzen. Made with support from Arts Council England

Thomson & Craighead „Several Interruptions“ (Video)

Unter Wasser kommt der Atmen an seine Grenzen.

Hamburg Museen für zeitgenössische Kunst sind keine Orte der Schönheit oder gar des interesselosen Wohlgefallens. Sie sind stattdessen eine – mehr oder weniger – aktive Kommunikationsplattform für Diskurs und Dialog. Zu hören sind solche Diskussionen allerdings nicht. Sie sind aber zu sehen.

Mit der gerade eröffneten Ausstellung „Atmen“ ist die Kunsthalle in Hamburg jetzt zu einem der Hotspots für diese Form der geradezu systemrelevanten Diskussion geworden. In einer Zeit, in der das Atmen mit oder ohne Maske ein Politikum ist, werden 45 künstlerische Positionen präsentiert, die vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichen.

Sie mäandern als Skulptur, Malerei, Zeichnung, Video oder Lichtinstallation durch das vielräumige Museum. Die beiden Kuratorinnen Brigitte Kölle, Leiterin der Galerie der Gegenwart, und Sandra Pisot, sie ist für die Kunst vom 15. bis 18. Jahrhunderts zuständig, haben die Ausstellung inszeniert. Und beide haben offensichtlich keine Angst vor plakativer Provokation.

Am 19. November, nur für einen Tag, soll die Arbeit „In Memoriam“ der amerikanischen Lichtkünstlerin Jenny Holzer in Hamburg zu sehen sein. Auf der Fassade des Museums wird dann der Satz „I can‘t Breathe“ weit sichtbar in den Stadtraum hineinleuchten.

Es ist ein ikonischer Satz, der kaum symbolischer sein könnte. Die letzten Worte des Afro-Amerikaners George Floyd, bevor er bei einem Polizeieinsatz starb, sind auch die Parole der „Black Lives Matter“-Bewegung, die Polizeigewalt gegen Schwarze anklagt.

In einer Zeit, in der das Atmen mit oder ohne Maske ein Politikum ist, werden 45 künstlerische Positionen präsentiert, die vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichen. Vibha Galhotra; Nature Morte, Delhi

Vibha Galhotra „Breath by Breath“

In einer Zeit, in der das Atmen mit oder ohne Maske ein Politikum ist, werden 45 künstlerische Positionen präsentiert, die vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichen.

Politischer kann ein öffentlich gefördertes Museum kaum sein. „Atmen“ ist jedenfalls, darauf sind beide Kuratorinnen stolz, die „weltweit erste große Ausstellung zum Thema“, die Alte Meister und aktuelle Kunstproduktion zusammenbringt.

Es geht in einer Tour de Force um Luftverschmutzung, um das biblische Einhauchen von Leben, um den letzten Atemzug, den eines Menschen und den der Menschheit, um das Rauchen, um Schnappatmung und auch um das ‚mal die Luft anhalten‘. Damit haben sich beide Kuratorinnen zweifelsohne viel vorgenommen. Themenausstellungen können schnell beliebig wirken. Diese Gefahr umschifft die Hamburger Ausstellung, weil sie durchweg als Entdeckungsparcours konzipiert ist.

Von Jeppe Hein, dem international angesagten dänischen Künstler, stammt eine Wandinstallation aus pulverbeschichtetem Aluminium. In ihr spiegeln sich die davorstehen Besucher. Mal leuchtet ein „Inhale“, dann wieder ein „Hold“ und danach ein „Exhale“ auf. Wer länger davor steht, passt seinen Atemrhythmus automatisch den signalhaften Vorgaben der Arbeit an. Einatmen, Atem halten, Ausatmen, als ginge es um Atemtherapie.

In die Ohnmacht geküsst

Das ist Kunst, die sich direkt in das Leben der Betrachter einmischt, sie atmet mit uns, oder ist es umgekehrt? Lässt sie uns nach ihren Vorgaben atmen? Wer beeinflusst hier eigentlich wen? Solche Fragen sind es, mit denen die Besucher auf den Weg durch die Räume geschickt werden. Vorgefertigte Antworten gibt es nicht. Dafür einige Überraschungen voller Poesie.

Im Lichthof der ‚Galerie der Gegenwart‘ schweben sanft schillernde Seifenblasen auf die Besucher nieder, es ist Form gewordene Luft, die auf dem Weg nach unten schon bald banal zerplatzt. Dazu gesellt sich der „Seifenblasende Junge“ eines holländischen Meisters aus dem 18. Jahrhundert. Beides zeigt Vergänglichkeit in einer anschaulichen Metapher.

Bilderlehre über den Rausch: Links an der Wand die fotografischen Porträts von Cannabis-Pflanzen von Koester, rechts der Raucher als Allegorie der Vergänglichkeit Nicolai Wallner, Kopenhagen; Rijksmuseum Amsterdam

Joachim Koester und Altmeister Hendrick van Someren

Bilderlehre über den Rausch: Links an der Wand die fotografischen Porträts von Cannabis-Pflanzen von Koester, rechts der Raucher als Allegorie der Vergänglichkeit

Anderswo in der Ausstellung ist ein „Raucher“ zu sehen, um 1615 gemalt von Hendrick van Someren. Daneben hängen Bilder von Natalie Czech, die sich mit den selig machenden Versprechungen der Tabakindustrie beschäftig. Auf den Zigarettenstummeln sind Marken-Aufdrucke wie „True“ oder „Fact“ zu lesen. Rauchen wird hier zum Einatmen großer Werbeversprechen.

Das Thema „Atmen“ ist in der Ausstellung sehr weit gefasst. Ein Querpfeife spielender junger Mann von Hendrick ter Brugghen aus dem Jahr 1621 ist genauso zu sehen, wie eine Aufzeichnung von Marina Abramovic, die sich zusammen mit ihrem Partner Ulay in die Ohnmacht küsst. Die Nasenlöcher beider haben sie zuvor mit Zigarettenfiltern verstopft.

Sauerstoffkur mit Platanen

Dass sich die Ausstellung auch selber Luft zum Atmen gönnt, wird in einem sonst sehr verschachtelten Raum im ‚Hubertus Wald Forum‘ deutlich. Für die aktuelle Ausstellung wurde er von seinen Stellwänden befreit. Auf einer der Seiten hängen jetzt wunderbare kleinformatige Wolkenstudien der deutschen Romantik.

Sie werden mit einer übergroßen Videoprojektion, den „Cloud Studies“ der Rechercheagentur Forensic Architecture kontrastiert. Sehnsuchtsvolle Wolken-Studien treffen damit auf Wolken, die von einem brutalen Tränengas-Angriff am 20. Dezember 2019 auf dem Plaza de la Dignidad 2020 in Chile berichten. Die einen atmen Freiheit, die anderen bringen Gift.

Vor der Kunsthalle Richtung Hauptbahnhof stehen große Platanen. Deren Samen hat der in Aachen geborene und in Berlin arbeitende Künstler Andreas Greiner vor einem Jahr genommen, um neue Platanen zu züchten, in kleinen weltraumtauglichen Kunststoffsäcken. Die schweben nun im Eingangsbereich von der Decke als Living Sculpture und sind die Sauerstoffkur, bevor der Weg weiter zu der sauerstoffarmen Welt der Forensic Architecture führt.

Das deutsche Privatmuseum der Hall Art Foundation: Ausstellungsmarathon im Schloss Derneburg

Das deutsche Privatmuseum der Hall Art Foundation

Ausstellungsmarathon im Schloss Derneburg

Mit acht Ausstellungen gleichzeitig will der Sammler Andrew Hall beweisen, welches Potenzial in seinem Schloss Derneburg bei Hildesheim steckt.

Atmen ist eine Notwendigkeit, um zu leben zu können. Aber ohne Sauerstoff ist alles Atmen sinnlos.

Atmen und Riechen sind Zwillinge. Ein Phänomen, dass die aktuelle Hamburger Ausstellung ganz grundsätzlich ausspart. Leider. Dabei ist doch auch das Nicht-Riechen können ein zwingender Teil des Atmens. Die Nase zuhalten, das geht nur eine begrenzte Zeit. Ohren oder Augen sind weniger nachtragend, wenn sie ausgeschaltet sind.

„Atmen“ folgt den Themenschauen „Besser scheitern“ (2013), „Warten“ (2017) und „Trauern“ (2020). Alle haben den herkömmlichen Kunstbetrieb durch ihre eher ungewöhnlichen Fragestellungen aufzumischen versucht.

Zu einer intelligenten Diskussionsplattform ist die Kunsthalle trotzdem noch nicht geworden. Denn nach dem Sehen in der Kunsthalle gibt es, neben einigen Vorträgen, kaum weiterreichende Formate, solche, in denen anspruchsvoll diskutiert und gedacht werden kann. So lange bleibt das Museum eben doch noch ein Ort, in dem Kunst schön angeschaut werden kann, auch wenn es keine schöne Kunst mehr ist.

Direkt vom Startbildschirm zu Handelsblatt.com

Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.

Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.

×