Die Umsatzskala von Vitaminpillen & Co. ist nach oben offen, bei der Sinnfrage aber wird es eng. Forscher raten, für Nahrungsergänzungsmittel kein Geld auszugeben.
Lebensqualität aus der Pille
Gesundheit, Balance, Leistungsfähigkeit, innere Schönheit – so lauten die Werbebotschaften für Nahrungsergänzungsmittel.
(Foto: Michele Blackwell on Unsplash)
Hamburg Wenn am 3. September die nächste Staffel von „Die Höhle der Löwen“ startet, ist mit Nils Glagau ein Unternehmer neu im Investoren-Team, der mit hoch dosierten Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) gut 100 Millionen Euro im Jahr umsetzt. Ein gesundheitlicher Wert ist wegen nicht nachgewiesener Wirkungen umstritten, doch das gilt für nahezu alle auf dem Markt befindlichen Produkte in dem Segment.
Eigentlich sollte dies längst bekannt sein, ebenso die konsequent daran gekoppelten Parolen „Essen Sie echt!“ und „Essen Sie bunt!“. Dennoch versorgt sich jeder vierte Erwachsene in Deutschland regelmäßig mit einer oder mehreren Pillen, mit Pulvern, Kapseln oder/und Liquids; in den USA sind es drei von vier Erwachsenen.
Warum? Das Marketing funktioniert. Also all die wohlklingenden Werbebotschaften, wonach NEM zu mehr Gesundheit, Balance, Leistungsfähigkeit, innerer Schönheit verhelfen – auch bei Krebs. Und es gibt ein ungeprüftes Vertrauen in vermeintlich geprüfte Sicherheit.
„Tatsächlich werden diese Produkte vor ihrer Markteinführung weder auf Wirksamkeit noch auf Sicherheit untersucht“, hat die Verbraucherzentrale NRW 2017 deutlich gemacht, als sie mit dem Internetportal Klartext Nahrungsergänzung an den Start gegangen ist. Übrigens aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. Mit dem Beschluss einer Zulassungspflicht der in aller Regel frei verkäuflichen Mittel tut sich die Politik dagegen schwer.
Vielleicht weil sie als Wirtschaftsfaktor eine immense Bedeutung haben. Allein mit Vitamin- und Mineralstoffpräparaten – die zwei Drittel des gesamten NEM-Markts ausmachen – wurden hierzulande im Jahr 2018 rund 1,44 Milliarden Euro umgesetzt, das entspricht 225 Millionen Packungen. Die Daten stammen vom Marktforschungsinstitut Insight Health, das alle zwei Jahre im Auftrag des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V. eine Analyse durchführt.
Bestseller sind bei den Vitaminen das Vitamin C, gefolgt von Multivitaminen (mit oder ohne Mineralien), Vitamin B12 allein, Vitamin A und D (rein oder kombiniert) und Präparaten mit allen B-Vitaminen, zu denen auch Folsäure gehört. Bei den Mineralien ist Magnesium am beliebtesten, gefolgt von Calcium, Eisen, Zink und Kalium.
Riesiges Angebot
Jedes Jahr kommen tausende neue Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt.
(Foto: SWR)
Die meisten Packungen werden in Drogeriemärkten gekauft. Onlineshops und Direktvertriebe laufen auch gut. Ein Hamburger Start-up, das Botanicals produziert und in der „Höhle der Löwen“ vor einigen Jahren einen Investor fand, hat sich derart positiv entwickelt, dass der Homeshopping-Sender Channel 21 es gerade gekauft hat. Wie die Mixturen aus Pflanzenauszügen, Algen, Wurzeln und anderen Substanzen miteinander reagieren oder wenn gleichzeitig Medikamente eingenommen werden – keiner weiß es.
Dass Konservierungsstoffe zu allergischen Reaktionen führen können, hat zumindest bei dem fränkischen Unternehmen Nestmann Pharma GmbH im August dieses Jahres zu einem Chargenrückruf geführt. Bei dem als entgiftend beworbenen Algenprodukt Nepro-Rella konnte ein Sulfitgehalt von mehr als 10 Milligramm pro Kilogramm nicht ausgeschlossen werden. Potenzielle Folgen sind asthmatische Symptome, Hautreizungen, Magen-Darmprobleme, schlimmstenfalls ein lebensbedrohlicher anaphylaktischer Schock mit Atemnot und starkem Blutdruckabfall.
Nun wurde eine der sich hartnäckig haltenden Hoffnungen erneut weitgehend zunichte gemacht: dass die zusätzliche Dosis Fischöl in Kapseln die Funktionen von Herz und Kreislauf unterstützen und „traditionell“ der allgemeinen „Arterienverkalkung“ entgegenwirken können.
Am 9. Juli 2019 hat das renommierte amerikanische Fachmagazin Annals of Internal Medicine die Ergebnisse einer Auswertung veröffentlicht, die rund 300 Studien mit knapp einer Million Teilnehmern zu 16 Nahrungsergänzungsmitteln und acht Diäten umfasste. Ein ehrgeiziges Projekt, mit dem die Autoren schlüssige Antworten auf die Dauerbrenner-Frage gesucht haben: Können Supplemente einen Herzinfarkt, Schlaganfall oder eine koronare Herzerkrankheit (KHK) verhindern?
Antwort: Meist nicht, manche sind sogar schädlich. So ist „gering gesichert“, dass Omega-3-Fettsäuren aus Fischöl bei Erwachsenen das Risiko für eine KHK und einen Herzinfarkt sowie Folsäure das für einen Schlaganfall minimal senken können. Die Kombination Calcium plus Vitamin D hingegen kann tatsächlich „mäßig gesichert“ die Gefahr für einen Schlaganfall erhöhen. Ebenfalls „mäßig gesichert“ ist weniger Salz in der Ernährung für die Herzgesundheit aller, auch bei Bluthochdruck. Ebenfalls„mäßig gesichert“ ist weniger Salz in der Ernährung für die Herzgesundheit aller, auch bei Bluthochdruck.
Sämtliche andere Umsatzrenner wie Vitamin B6, Vitamin A, Multivitamine, Antioxidanzien, Calcium allein, Vitamin D allein oder Eisen haben keine nennenswerten Effekte. Das gilt auch für verschiedene Diätformen, sei es low fat oder low carb. Selbst die gute alte Mittelmeerkost, die keine Diät ist, reicht als alleiniger Faktor nicht.
In einem Kommentar des angesehenen Londoner Science Media Center schreibt die Ernährungswissenschaftlerin Susan Jebb, University of Oxford: „Alles in allem ändern diese Ergebnisse nichts an der aktuellen Empfehlung, dass die Bevölkerung der reichen Industrienationen im Allgemeinen keine Nahrungsergänzungsmittel braucht.“
Oder anders: Jede Pille, die nicht genommen wird, ist die beste Entlastung für den, der gut mit sich umgeht. Als Ausnahmen nennt Jebb die Prävention oder Korrektur eines Mangels an Vitamin D – dem „Knochen- und Muskelvitamin“ zum Schutz vor Stürzen und Brüchen im Alter –, und Folsäure in der frühen Schwangerschaft gegen Fehlbildungen des Neuralrohrs, der Grundlage des Gehirns.
Der Erstautor der Studie selbst, Safi U. Khan, Assistenzprofessor für Innere Medizin an der West Virginia University, rät kein Geld für NEM zu verplempern: „Wenn Sie das Herz-Kreislauf-System stärken wollen, befolgen Sie einfach ein sehr simples Verhaltensschema: Essen Sie aus nährstoffreichen Quellen, gönnen Sie sich Bewegung, rauchen Sie nicht, trinken Sie keinen Alkohol und vermeiden Sie einen sitzenden Lebensstil.“
Dieses Statement könnte man als gähnend langweilig bezeichnen, wäre es nicht seit eh und je gültig. Zeitgemäß lässt es sich noch um den Begriff der „positiven Gesundheit“ erweitern, mit Faktoren wie Lebensqualität, Handlungsfähigkeit, emotionale, soziale und Umweltkompetenz – sodass am Ende ein ganzheitliches Programm herauskommt, das das eigene Wohl fördert und nicht das der Wirtschaft. Schwerpunkte sind:
1. Qualitativ hochwertige, vielseitige Ernährung. Esskultur ist sexy und inzwischen Teil der Identität.
2. Körperliche und mentale Fitness durch Bewegung, täglich 30 Minuten.
3. Keine „Genussgifte“.
4. Optimale Hirndurchblutung durch Bewegung und Entspannungstechniken.
5. Genügend und guter Schlaf.
6. Herzhaft lachen, täglich mindestens einmal.
7. Seelisch-soziale Gesundheit durch Selbstführung.
8. Ausreichender Impfschutz.
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