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21.09.2019

11:04

Biografie

Wie aus der Einzelgängerin Sahra Wagenknecht eine Einzelkämpferin wurde

Von: Dietmar Neuerer

Sahra Wagenknecht gibt sich in einer aktuellen Biografie außergewöhnlich offen. Entstanden ist das Psychogramm einer hochintelligenten, aber widersprüchlichen Persönlichkeit.

Sich selbst bezeichnete Sahra Wagenknecht mal als „exotischen Vogel“, als „merkwürdige junge Frau mit seltsamen Ansichten“. dpa

Sahra Wagenknecht

Sich selbst bezeichnete Sahra Wagenknecht mal als „exotischen Vogel“, als „merkwürdige junge Frau mit seltsamen Ansichten“.

Berlin Es ist der vorläufige Endpunkt einer Ausnahmepolitikerin: Wegen eines Burn-outs Anfang des Jahres hatte sich Sahra Wagenknecht eine Auszeit genommen und dann angekündigt, nicht erneut als Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag zu kandidieren. „Das Denken muss erst wieder anspringen. Ich war leer“, bekennt die 50-Jährige in dem Buch „Sahra Wagenknecht – Die Biografie“, das jetzt erschienen ist.

Auf 272 Seiten zeichnet der Autor Christian Schneider ein bestechend tiefgründiges Bild einer sehr speziellen Persönlichkeit. Wagenknecht gewährt ihm dafür Zugang zu ihrem engsten Kreis, unter anderem zu ihrer Mutter. Und auch Wagenknecht selbst öffnet sich. In Gesprächen mit dem Autor im saarländischen Silwingen. Hier, in dem kleinen Merziger Ortsteil unmittelbar vor der französischen Grenze, wohnt Wagenknecht mit ihrem Ehemann Oskar Lafontaine.

Die Auszeit sei ihr vom Arzt verordnet worden, Wagenknecht habe in dieser Zeit sogar darauf verzichtet, ihre E-Mails zu lesen, schreibt Schneider in seinem Buch. Das ist deshalb einer besonderen Erwähnung wert, weil es so gar nicht in das „gehetzte Leben“ Wagenknechts passt. Ein Leben voller Wendepunkte und radikaler Einschnitte. Ein Leben ohne Vater, weil dieser, ein Iraner, nur vorübergehend in der damaligen DDR weilte. Am 16. Juli 1969 wird Wagenknecht in Jena geboren. Als sie zweieinhalb Jahre ist, kehrt ihr Vater wieder zurück in den Iran.

Dieses biografische Detail ist wichtig, um zu verstehen, warum Wagenknecht später oft aneckte, warum sie in ihrer Partei nie wirklich Fuß fasste. Von klein auf ist sie Einzelgängerin – auch weil sie anders aussieht als andere Mädchen. Das Optische sei „Teil des väterlichen Erbes“, wie Schneider bemerkt. Wagenknecht kapselt sich fortan ab und lebt „in ihrem eigenen Kosmos“, liest viel, entwickelt ein Faible für Mathematik und Zahlenrätsel. Als Einzelgängerin ist Wagenknecht zugleich Einzelkämpferin. Sie kämpft sich durch die klassische Philosophie, insbesondere der Hegels. Und sie hat Marx komplett studiert.

In gewisser Weise hat Marx ihr den Weg heraus aus der Theorie in die praktische Politik geebnet – mit seinem Satz: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Dass ihr Lebensweg schließlich ein politischer sein würde, hat viel mit dem Ende der DDR zu tun. Sie hat es, wie sie selbst einmal sagte, als „einziges Grauen“ erlebt, dachte sie doch der DDR-Sozialismus wäre noch zu retten. Ihr Biograf wertet diesen historischen Wendepunkt als „die Geburtsstunde der Politikerin Wagenknecht“.

Christian Schneider: Sahra Wagenknecht - Die Biografie
Campus Verlag, 272 Seiten, 22,95 Euro

Sie landet bei der „Kommunistischen Plattform“, wird als jüngstes Mitglied in den Vorstand der PDS gewählt, aber von Anfang an als „Störfaktor“ gesehen. Vor allem der damalige Parteichef Gregor Gysi empfindet sie so. Im Rückblick spricht Wagenknecht von einem „vergifteten“ Verhältnis. Ihr Biograf Schneider beschreibt diese Kluft mit viel Detailkenntnis.

Auch die Erschwernisse, die sich für Wagenknecht aus ihrem unbändigen politischen Eigensinn ergeben, werden kenntnisreich geschildert. Während Gysi die Partei gesamtdeutsch wählbar machen wollte, hielt Wagenknecht dem Marxismus und Sozialismus die Treue. Am Ende ist sie es, die verliert. Auf Drängen Gysis muss sie ihren Vorstandsposten räumen. Das war 1995.

Eine Niederlage ist das für Wagenknecht aber keineswegs. Im Gegenteil: Sie wird danach immer bekannter, Medien interessieren sich für sie. Die „Marke jung und wild“ kommt an – und auch der eigentümliche Politikertypus, den Wagenknecht verkörpert. Ihr Biograf Schneider beschreibt sie treffend als eine „Ausnahmeerscheinung“ in der deutschen Politik: Mit ihrer Schüchternheit und gleichzeitigen Wortgewalt „fällt sie aus dem Schema der routinierten Berufspolitikerin ebenso heraus wie aus dem der Aufstiegskarrieristin“.

Für Außenstehende mag das sympathisch wirken, im Haifischbecken der Politik kann das aber schnell zu einer Belastung werden – körperlich wie psychisch. Wagenknecht bekommt das immer wieder zu spüren, vor allem in ihrer eigenen Partei.

Aufgeben ist für Wagenknecht aber keine Option. Sie kokettiert mit ihrer Sonderrolle als „exotischer Vogel“, als „merkwürdige junge Frau mit seltsamen Ansichten“, wie sie sich selbst einmal bezeichnete. Dabei genießt die studierte Volkswirtin selbst bei der politischen Konkurrenz Ansehen. CSU-Mann Peter Gauweiler etwa zeigte sich nach der Lektüre ihres Buchs „Reichtum ohne Gier“ angetan von ihrer „Kunst des klaren Denkens“. Die Linken-Politikerin rechnet darin mit einer in schwere Schieflage geratenen Finanzwirtschaft ab.

„Nie wirklich Berufspolitikerin“

Ihre Analysen sind fundiert und rhetorisch brillant. Trotzdem gelingt es ihr nicht, daraus ein praxistaugliches Politikkonzept zu entwickeln. Wagenknecht prangert zutreffend etliche Mängel des Kapitalismus an. Doch ihre Kritik an Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Verfehlungen der Wirtschaft in nationalem und internationalem Kontext bleibt in der Analyse hängen. Wohl auch, wie ihr Biograf konstatiert, weil sie ihre Kräfte „nicht immer mit dem professionellen Geschick, das viele Politiker auszeichnet“, einsetzt. Schneider zieht daraus den Schluss, dass Wagenknecht „nie wirklich Berufspolitikerin geworden“ sei.

Mit Lafontaine an ihrer Seite ändert sich zumindest ein Stück weit Wagenknechts Blick auf die Veränderungsmöglichkeiten von Politik. Er hilft ihr heraus aus ihrer „seminar-marxistischen“ Sichtweise. Dass sie sich nicht, wie es ihr Biograf ausdrückt, „in abstrakten Modellen und Utopien verliert, sondern ihre Gedanken so formuliert, dass sie auch immer mehr der Frage nach der praktischen Umsetzung gerecht werden“. Doch die Politiklandschaft ändert sich. In einer Weise, dass Regierungsoptionen in weite Ferne rücken. Mit der Bundestagswahl 2017 zieht erstmals die AfD in den Bundestag ein. Damit ist die Aussicht auf eine linke parlamentarische Mehrheit dahin. Für wie lange? Wer weiß das schon.

Wagenknechts Antwort auf diesen herben politischen Dämpfer lässt ein Jahr auf sich warten. Dann startet sie ein neues politisches Projekt: die linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Doch der Versuch, damit die Linke wieder stark zu machen, scheitert grandios. Wagenknecht gibt sich selbst die Schuld dafür. Was ihr größter politischer Fehler gewesen sei, fragt sie ihr Biograf: „Aufstehen“ nicht gut vorbereitet zu haben, antwortet sie lapidar.

Vielleicht war es zu diesem Zeitpunkt auch schon schlicht zu viel für sie. Der ewige politische Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten, die nicht enden wollenden Konflikte mit innerparteilichen Gegnern. Mit der heutigen Parteispitze verbindet sie bis heute: nichts. All das geht nicht spurlos an ihr vorüber. Nur wenige Monate nach dem Start von „Aufstehen“ zieht sie sich aus der Führungsspitze der Bewegung zurück, kurz darauf erklärt sie auch ihren Rückzug aus dem Fraktionsvorstand der Linken. Ihre Krankheit, der Burn-out, erzwingt, wie Schneider in seinem Buch schreibt, „die dringend notwendige Auszeit eines gehetzten Lebens“.

Wie es für Wagenknecht politisch weitergeht? Schneider wagt eine vorsichtige Prognose. Dass sie an der Spitze der Linkspartei nochmals eine wesentliche Rolle spielen wird, glaubt er nicht. Er sieht ihre künftige Funktion eher als „öffentlich denkende Person, die durch ihre theoretischen Anstöße möglicherweise neue Formen des Politischen initiieren kann“.

Schneiders Wagenknecht-Buch ist über weite Strecken lesenswert. Aber auch schwere Kost. Besonders dann, wenn der gelernte Sozialpsychologe und Psychoanalytiker tief in die Theorienwelt der Politikerin einsteigt. An der Qualität des Buches ändert das aber nichts. Schneider hat ein sehr gelungenes Porträt verfasst, das auch für die deutsche Zeitgeschichte einen wichtigen Beitrag leistet.

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