Der Springer-Manager Christoph Keese reist in seinem neuen Buch durch Deutschland und Europa. Dabei sucht er nach Firmen, die das Leben wirklich verändern könnten.
„Life changer“
Christoph Keese sucht nach Unternehmen, die sich ganz in den Dienst des Fortschritts stellen.
Bild: Moment/Getty Images
München Reisen bildet, und manchmal bildet sich da sogar ein Lebensthema heraus. So jedenfalls war es vor einigen Jahren beim langjährigen Journalisten Christoph Keese. Den hatte sein Arbeitgeber Axel Springer als „Visiting Fellow“ für einige Monate ins Tal der digitalen Götter geschickt, nach Palo Alto im kalifornischen Silicon Valley, dorthin, wo der alten Sage nach in jeder zweiten Garage ein potenzielles Unicorn entsteht, also ein Start-up mit Milliardenbewertung.
Der Bildungsreisende aus Berlin hat von dem Trip ins „Love, Peace & Happiness“ des 21. Jahrhundert eine unstillbare Lust am Neuen mitgebracht, an der Innovation an und für sich. Das hat Keese sein drittes Buch zu diesem Thema schreiben und zum Geschäftsführer von Springers Sprunginnovationsagentur Hy GmbH werden lassen. Der Standort Deutschland, wo „California Dreaming“ lange Zeit nur ein Poplied mit Mama Cass war, hat sich als sehr aufnahmefähig erwiesen für spannende Geschichten aus dem digitalen Wonderland.
In seinem neuen Band nimmt uns Keese, ganz „Get Your Guide“, mit auf eine Reise durch Deutschland und Europa, immer auf der Suche nach dem definitiven „Lifechanger“. Das sind die Helden seiner Bühne. Wir müssen uns darunter Leute vorstellen, die mit ihren Jungfirmen die richtigen „Gamechanger“ für ein besseres Leben darstellen, die als gleichsam Unermüdliche unterwegs sind im Dienst des Fortschritts.
Es geht hier um „Change!“ wie 2008 bei Barack Obama, um das „Yes we can“ in der neudeutschen Wirtschaft. Es geht weniger um kapitalistische Verwertungslogik, obwohl man schon mal etwas von scharrenden Venturecapital-Strategen gehört hat, die junge Unternehmertalente zum „Exit“ drängen, also zur ganz frühen Altersvorsorge qua Börsengang oder Verkauf. Hier aber, in Keeses „Magical Mystery Tour“, zählt nicht der Zwang des Kapitals, sondern die Kraft der richtigen Idee, deren Zeit gekommen ist und die Probleme löst.
Als Beirat der Finanzfirma Lakestar kann Keese gut mitreden, ohne dabei Insidergeheimnisse zu verraten. Und hat nicht schon der 28-jährige Karl Marx vom Ideal gepredigt, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“? Technologie macht’s möglich, vermittelt das Buch. Bis dahin dann müssten wir noch unsere sechs menschlichen Urängste überwinden: die vor Armut, Kritik, Krankheit, Verlust eines geliebten Menschen, vor Alter und Tod.
Technologie ist das, was unser Wille dem blinden Wüten des Zufalls entgegensetzen kann. Christoph Keese
Inmitten all der derzeit kursierenden Problemgeschichten und apokalyptischen Krisenbücher wirkt diese Roadshow der Pioniere überaus mitreißend, inspirierend und motivierend. Man liest sich fasziniert fest. Auch weil zu spüren ist, dass der Autor an zweierlei glaubt: an das Gute und daran, dass sich das Gute auch noch durchsetzen wird.
Christoph Keese ist unbestreitbar ein „Rational Optimist“, so wie der Titel eines Buchs des konservativen Politikers und Klimawandelskeptikers Matt Ridley lautet, der hier oft zitiert wird. Man kann Keese auch als „Homo Faber“ sehen, für den Technologie noch immer eine Antwort gefunden hat. Das Handhaben der richtigen Werkzeuge macht aus dieser Sicht die im linken Spektrum diskutierten Strategien des Verzichts und des Verbots überflüssig. Asket will man nicht sein, dann schon lieber Sisyphos. Der Schlüsselsatz, bitte einrahmen: „Technologie ist das, was unser Wille dem blinden Wüten des Zufalls entgegensetzen kann.“
Dieser Optimismus scheint sich, so jedenfalls der erste Eindruck, bis zur letzten Seite durchzuziehen. Und so erleben wir wie in einem Live-Auftritt den zu einer kleinen Gruppe sprechenden Elon Musk, den Greentech-Guru der Grünheide, der anders als die üblichen „car guys“ nicht jahrelang marktforscherisch Bedürfnisse ergründet, die es dann doch gar nicht gibt, sondern als „Mister Tesla“ lieber gleich ein Musterwerk in den märkischen Sand, ins Sumpfgebiet von Schanghai oder sonst wohin an den Hotspots der Globalisierung setzt.
„Es geht einzig und allein darum, die beste Fabrik zu bauen. Alles andere kommt hinterher von ganz allein“, hat der Zauberer dem Autor erklärt. Der gebürtige Südafrikaner, der auch Kanadier ist, steht für die Idee des „First Principle“, des vom Großen ins Kleine abgeleiteten Denkens. Jean-Baptiste Say, ein im 18. Jahrhundert geborener Ökonom, hätte seine Freude daran gehabt. Gemäß seinem Theorem verschafft sich jedes Angebot seine eigene Nachfrage. „Letztlich ist alles eine Frage der Physik“, erfahren wir noch von Musk, aber das hat uns schon Angela Merkel beigebracht.
Christoph Keese: Life Changer – Zukunft made in Germany.
Penguin
München 2022
300 Seiten
24 Euro
Übersetzung: K. Dürr, U. Held, C. Stoll, K. Petersen
Mit diesem Nichts-ist-unmöglich-Geist infiziert, schweben wir zu Vorbildern wie Ugur Sahin von Biontech und seinem genialen mRNA-Corona-Impfstoff, zu den beiden Jungs von Sono Motors in München, die ihre Autokarossen mit Solarzellen vollpflastern, nach Augsburg zum Raketentriebwerk aus dem 3D-Drucker, zu Kernfusionsprojekten auf Basis des Halbmetalls Bor oder nach Oberbayern zum senkrechtstartenden Elektroflugzeug Lilium.
Wir sitzen allerdings auch in einem Lokal am Rosenthaler Platz in Berlin in der Nähe des ersten Coworking-Space „St. Oberholz“ herum und zählen kurz nach, in wie vielen Start-up-Storys wir seit Gründung dieses Latte-macchiato-Gründerparadieses schon davon gelesen haben.
Und die vom Autor bei dieser Gelegenheit dokumentierte Begeisterung für Lieferdienste, die da überall am Rosenthaler Platz herumschwirren, muss man auch nicht unbedingt nachvollziehen. Schließlich sind all die „Gorillas“ ökonomisch gesehen „Zwergschimpansen“, von denen es die meisten trotz der billigen Gig-Ökonomie in ein paar Jahren nicht mehr geben und man sich dann fragen wird, warum in Gottes Namen Fahrradkurier-Organisationen für „Technologiefirmen“ gehalten wurden.
Es geht bei den „Lifechangern“ ohnehin nicht um Fast-Lane-Food, sondern um richtig gesunde, gute Ernährung, und gerade dieses Thema ist Christoph Keese erkennbar sehr wichtig. Nirgendwo kommt der Veränderungswille des Verfassers so persönlich und so nachdrücklich rüber wie bei seinem Plädoyer für Fleischersatz und die hier aktiven Start-ups. Das Schicksal der Tiere in den Ställen hat ihn und seine Kinder nachhaltig berührt, und Burger aus pflanzlichen Stoffen schmecken angeblich sogar besser als die aus Rindfleisch.
Christoph Keese
2016 erhielt er den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis.
Bild: imago/Sven Simon
Der Schwung dieses gut geschriebenen Buchs, das auch Ausflüge ins Politische und Tagesphilosophische wagt, wird allen gefallen, die sich näher mit Start-ups, Forschung und Veränderungskultur beschäftigen. Das sind ja auch die Kernelemente der Reformagenda dieses Landes, die man vor lauter Krieg zuweilen vergessen hat.
Ein wenig fehlt in der Tour d’horizon eine Blaupause dafür, wie wir all die tollen Nachwuchskräfte von den Universitäten, die Forscher, den Staat und die Unternehmer so zusammenbringen können, dass der Rahm am Ende dank amerikanischen Venture-Capitals nicht wieder im Silicon Valley oder in Seattle abgeschöpft wird.
Immerhin zirkulierte 2021 ein stattlich gestiegenes Risikokapital in Höhe von 17,4 Milliarden Euro in deutschen Landen. Das hat sich Keese vor Jahren so nicht vorstellen können. Aber wir hielten ja auch Miniminuszinsen und permanenten Anlagenotstand nicht für möglich. Ein Fragezeichen muss man schließlich hinter seine – normativ und moralisch zu begrüßende – Aussage setzen, dass Kreativität am besten in einer freien Wirtschaft gedeihe, während Einparteiendiktaturen Innovationen regelmäßig abwürgen würden. Ja, das wünschen wir uns alle, aber die vielen Patente „made in China“ sprechen eine andere Sprache.
Gerade hat man sich bei der Lektüre damit abgefunden, dass Keeses Glaube an lebensverändernde Innovationen und an die Planetenrettung schier unendlich ist, da dreht er auf Seite 204 doch noch eine Pirouette.
Nach dem Gespräch mit einem Freund, der ihn an seinen 2004 gezeigten Riesenoptimismus bezüglich der einigenden Kraft des Web 2.0 erinnert, findet Keese nach längerem Nachdenken plötzlich, dass er da wohl dem „Pro-Innovation-Bias“ aufgesessen war, also versehentlich die rosarote Brille bei der Beschau der Welt aufgesetzt hatte. Eine Betrachtung, ob das derzeit diskutierte „Web 3.0“ ein dezentraler „Lifechanger“ gegen die Übermacht von Big Tech sein könne, schließt sich daran leider nicht an.
Als Lehre aus seiner Web-2.0-Übereuphorie empfiehlt Keese nunmehr „die habituelle Ausübung des kritischen Schulterblicks“. Führe man eine neue Technologie ein, erklärt er, dann sei gleichermaßen damit zu rechnen, dass sie früher oder später für alle erdenklichen Zwecke genutzt werde und „sich eben nicht nur in Richtung des erwünschten Fortschritts entwickelt“. Es gibt eben auch Nebenwirkungen. Und es gibt Innovationen, die negative Auswirkungen auf die Gesellschaft haben, während manche ganz einfach ihre Versprechen in Euro und Cent nicht einhalten.
Etwas selbstironisch fragt man sich, ob das mit dem „Pro-Innovation-Bias“ vielleicht auch für Keeses kecke Prognose gilt, handgesteuertes Autofahren werde in Zukunft „zu den verlernten Kulturtechniken gehören“, schließlich wisse ja auch kaum noch jemand, wie man Grünkohl oder Kartoffelklöße zubereitet, weil beides vorgekocht überall zu haben ist und ohnehin besser schmecke, als man denkt. Das muss er mal jemandem in Niedersachsen oder Oberbayern erklären.
Aber ehe wir ins Grübeln kommen, blättern wir zurück und lesen eine Botschaft: „Wir schaffen das. Eine neue Epoche technischer Durchbrüche hat begonnen.“ Das ist die Formel dieses Buchs: „Obama plus Merkel plus Hightech“. Die Zeiten sollen, so lernen wir, trotz allem ganz gut sein für „Lifechanger“.
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