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21.03.2020

22:08

Buchrezension

Sind demokratische Staaten beim Kampf gegen das Coronavirus im Nachteil?

Von: Moritz Koch

In einem lesenswerten Buch analysiert der Philosoph Julian Nida-Rümelin die Krise der Demokratie. Einen praktikablen Ausweg präsentiert er aber nicht.

Der Philosoph hat sich für sein neues Buch auch mit ökonomischen Theorien auseinandergesetzt. imago/Future Image

Julian Nida-Rümelin

Der Philosoph hat sich für sein neues Buch auch mit ökonomischen Theorien auseinandergesetzt.

Berlin Niemand weiß, wie lange sich das gesellschaftliche Leben dem Kampf gegen das Coronavirus unterordnen muss. Wochen, Monate – vielleicht, wie einige Epidemiologen warnen, mehr als ein Jahr. Etwas Gutes lässt sich der Notlage nicht abgewinnen. Es bleibt nichts anderes als der Versuch, Sorgen etwas zu verdrängen und das Übel des Stillstands erträglicher zu machen.

Wer keine kleinen Kinder betreuen muss, hat jetzt zumindest Zeit zu lesen – und kann sich vielleicht auch Themen widmen, die normalerweise etwas sperrig wären. Der politischen Philosophie zum Beispiel.

Der Münchener Philosoph und ehemalige Kulturstaatssekretär Julian Nida-Rümelin hat dieser Tage eine umfassende Analyse über die Krise der Demokratie vorgelegt – das wohl wichtigste Thema der öffentlichen Debatte, bevor die Pandemie alle anderen Sorgen in den Hintergrund rücken ließ. Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen.

Der Ausgangspunkt der Analyse ist die Beobachtung, dass der Siegeszug der liberalen Demokratie, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in drei „Wellen der Demokratisierung“ (Samuel Huntington) vollzogen hat, zum Halt gekommen ist. Schon vor zwölf Jahren diagnostizierte der Stanford-Professor Larry Diamond, die Welt befinde sich in einer „demokratischen Rezession“.

Dazu muss man sagen: Die liberale Demokratie ist eine eingehegte Demokratie in dem Sinne, dass sie der Mehrheitsherrschaft Grenzen setzt. Genauso wesentlich wie freie Wahlen ist für die liberale Demokratie der Rechtsstaat, der Minderheiten schützt und Willkür verhindert. Die liberale Demokratie garantiert Bürgerrechte, sie steht für Pressefreiheit und freie Meinungsäußerung.

Doch in immer mehr Ländern gehen diese Elemente der demokratischen Herrschaft verloren. Der Populismus ist auf dem Vormarsch und mit ihm die „illiberale Demokratie“. Der US-Organisation Freedom House zufolge ist der Anteil der Staaten, die als frei gelten, in den vergangenen zehn Jahren um drei Prozent zurückgegangen.

Woran liegt das? Und was lässt sich dagegen unternehmen? Diesen Fragen geht Nida-Rümelin in seinem Buch nach. Er zieht dabei, das macht dieses Buch besonders, auch volkswirtschaftliche Erklärungsmuster heran.

Julian Nida-Rümelin: Die gefährdete Rationalität der Demokratie.
Edition Körber, Zürich 2017, 304 Seiten, 22 Euro

Es gibt nicht viele zeitgenössische Philosophen, die sich die Mühe gemacht haben, ökonomische Theorien zu durchdringen. Nida-Rümelin hat es getan. So kann er sich kenntnisreich mit den wirtschaftlichen Funktionsbedingungen beschäftigen, von denen der Erfolg demokratischer Systeme abhängig ist.

Die liberale Demokratie, so die These des Philosophen, ist durch die Aushöhlung des Sozialstaats und den Kontrollverlust nationaler Entscheidungsträger in die Krise geraten. Dieser Kontrollverlust ist Folge der Globalisierung – und mündete in die Finanzkrise 2008.

„Die Zweifel sind seitdem gewachsen, ob Nationalstaaten überhaupt noch in der Lage sind, die notwendigen Regulierungen der Finanzmärkte und generell der Märkte der Waren und Dienstleistungen durchzusetzen“, schreibt Nida-Rümelin.

Seine Forderung: „Eine liberale Weltordnung als Strategie des Staatsabbaus und der finanzwirtschaftlichen Globalisierung muss durch eine kosmopolitische Weltordnung, die auf globale Rechts- und Sozialstaatlichkeit setzt, ersetzt werden.“

Unter einer kosmopolitischen Weltordnung versteht Nida-Rümelin nicht die Überwindung des Nationalstaats. Die kosmopolitische Weltordnung muss vielmehr den Raum dafür schaffen, dass sich die Sozialstaaten im nationalen Rahmen entfalten und ihre Eigenart bewahren können.

Der Kosmopolitismus, für den Nida-Rümelin plädiert, ist eine „globale Rechtsordnung“, die auf einen „normativen Konsens“ gestützt die Einhaltung der Menschenrechte garantiert. Internationale Gerichte könnten dieses System absichern.

Demokratie: Sind andere Staatsformen überlegen?

Das ist natürlich eine Wunschvorstellung. So erstrebenswert die kosmopolitische Ordnung auch sein mag, so unrealistisch ist sie derzeit. Der Autor skizziert ein Ideal, keinen praktikablen Lösungsansatz.

Das Coronavirus bestärkt diesen Befund, denn es stellt die liberale Demokratie vor eine weitere Bewährungsprobe. Die Krise zeigt, wie schwer sich Demokratien mit den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen tun, die im Kampf gegen eine Pandemie notwendig sind. Das Ergebnis ist, dass zu langsam und zu zögerlich gehandelt wird.

Sind andere Staatsformen also überlegen? Dieser Debatte muss sich die liberale Demokratie stellen. Mit China ist ihr erstmals seit dem Kollaps der Sowjetunion wieder ein Systemkonkurrent erwachsen. Peking, das ist jetzt schon abzusehen, wird die Krise nutzen, um das eigene Herrschaftsmodell anzupreisen: den Hightech-Autoritarismus.

Doch die Beschäftigung mit den Defiziten demokratischer Gesellschaften sollte eines nicht verdecken: Autoritäre Staaten fürchten die Wahrheit, auch das belegt die Coronakrise.

Wenn die chinesischen Machthaber das neue Virus nicht wochenlang geleugnet, wenn sie Warnungen von Medizinern in der Provinz Wuhan ernst genommen und nicht unterdrückt hätten, wäre der Welt die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg wohl erspart geblieben.

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