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17.12.2022

13:00

Buchtipp

Der Duft der Bücher: Acht Romantipps für die Festtage

Von: Anja Holtschneider, Claudia Panster, Luisa Bomke, Julian Trauthig, Hans-Jürgen Jakobs, Tobias Gürtler, Isabelle Wermke, Alexander Möthe

Im Kerzenschein liest es sich am besten – besonders zu Weihnachten. Diese Buchempfehlungen eignen sich sowohl als Geschenk als auch zum Selberlesen.

Während der Weihnachtsfeiertage und den freien Tagen zwischen den Jahren gibt es Zeit für ein gutes Buch.

Weihnachtsstadt

Während der Weihnachtsfeiertage und den freien Tagen zwischen den Jahren gibt es Zeit für ein gutes Buch.

Düsseldorf Nur noch wenige Tage bis Weihnachten. Da droht der ein oder andere, in Stress zu geraten, weil noch nicht alle Weihnachtsgeschenke zusammen sind. Das muss aber nicht sein.

Das Handelsblatt stellt acht lesenswerte Romane vor, die sich mit aktuellen Themen unserer Zeit beschäftigen und unter dem Weihnachtsbaum für Freude sorgen. Und auch beim Selberlesen.

Ein schicksalhaftes Wochenende in Helsinki

Tuomas Oksari: Tage voller Zorn
Lübbe Verlag
Köln 2022
640 Seiten
24 Euro
Übersetzung: Nicolai von Schweder-Schreiner

Es gibt wenige Bücher, die einen von der ersten bis zur letzten Seite so fesseln wie Tuomas Oskaris Romandebüt. Hinter dem Pseudonym steckt der finnische Journalist Tuomas Niskakangas. Wie in seinem echten Berufsleben dreht sich im Roman alles um Politik und Wirtschaft.

Es ist das Jahr 2027: Finnlands Wirtschaft befindet sich in einer schweren Rezession, wenige Menschen teilen sich Vermögen und Macht, immer mehr Finnen rutschen in die Armut ab. Rechte und linke Parteien kämpfen um die Mehrheit im Parlament. In dieser schon explosiven Stimmung droht die Selbstverbrennung einer jungen Frau eine Revolution auszulösen.

Ministerpräsident Leo Koski bleibt nur ein Wochenende, um Finnlands Demokratie vor dem Untergang zu retten. Die Handlung des Thrillers zeigt eindrucksvoll, dass sich alles Gewohnte schlagartig ändern kann, wenn die richtigen Faktoren zur richtigen Zeit zusammenkommen.

Nichts ist, wie es scheint in diesem Roman – und das von Anfang bis Ende. Die kurzen Kapitel haben immer unterschiedliche Figuren im Fokus, und jede von ihnen verfolgt ihren eigenen Plan an diesem Wochenende. Das sorgt für eine spannende Handlung mit mehreren Wendepunkten, die jeder gute Thriller braucht.

Doch die eigentliche Genialität des Romans liegt woanders. Oskari knüpft so geschickt an wirkliche Ereignisse wie die Coronapandemie und die hohe Inflation an, webt reale Gebäude und Wirtschaftstheorien ein, dass die Handlung zwar überraschend ist, aber realistisch erscheint.

Und zwar so realistisch, dass die Leser ein solches Szenario auch im eigenen Land für möglich halten. Die fiktiven Ereignisse werden zum möglichen Zukunftsszenario in westlichen Ländern – eben auch, weil Oskaris sich gar nicht mehr so viel ausdenken musste. Damit ist das Buch auch eine Mahnung an die heutigen Gesellschaften, wachsam zu bleiben und es nie so weit kommen zu lassen wie an diesem einen Wochenende im Helsinki.

Der gefährliche Rhythmus des Geldes

Hernan Diaz: Treue.
Hanser Berlin
Berlin 2022
416 Seiten
27 Euro
Übersetzung: Hannes Meyer

Ein Mann namens Andrew Bevel war der mächtigste und erfolgreichste Mann an der Wall Street. Oder hieß er Benjamin Rask? Der Autor Hernan Diaz, für seinen Erstling „In der Ferne“ bereits für den Pulitzer-Preis nominiert, erzählt in seinem zweiten Roman „Treue“ ein und dieselbe Geschichte aus mehreren Perspektiven und lässt den Leser manchmal irritiert, meist staunend zurück.

„Treue“ – im Englischen doppeldeutig, und in diesem Falle passender „Trust“, steht der Begriff doch auch für den Zusammenschluss mehrerer Unternehmen unter einem Dach – ist zugleich Roman, Memoiren, Autobiografie und Tagebuch. Jedes Kapitel des Werks ist von einem anderen – fiktiven – Verfasser geschrieben.

Und im Roman heißt genau der Mann, der erst Andrew Bevel ist, eben Benjamin Rask. In allen Kapiteln geht es um den Reiz des Geldes. Um einen Finanzmogul während des Börsencrashs 1929, der in dieser Zeit unfassbaren Reichtum anhäuft und gar im Verdacht steht, den Crash verursacht zu haben. Und um die Beziehung zu seiner Frau, eine Kunstmäzenin, vermeintlich schmückendes Beiwerk, die in einem Sanatorium in der Schweiz weilt – und stirbt.

Die Kapitel unterscheiden sich jedoch sowohl in den Details als auch in der Sprache, teils bleiben sie Fragmente. Gemeinsam erst, und das ist das Besondere und Intelligente an Hernans Herangehensweise, ergeben sie ein allumfassendes Bild der Figuren und ihrer Rollen.

Der Roman zeichnet die Hauptfigur als verschrobenen Wall-Street-Mogul; in der anschließenden Autobiografie versucht dieser selbst, jenes Bild geradezurücken. Die wirklich entscheidenden Kapitel aber sind die beiden letzten, aus Sicht der Frauen geschriebenen: die Erinnerungen der Sekretärin und das Tagebuch der Ehefrau.

Hier fügt sich das Puzzle erst zu einem großen Ganzen zusammen und zeigt: Schon damals waren die Frauen deutlich mehr als „schmückendes Beiwerk“.

Weltrettung mit Eichhörnchen

Ulla Hahn: Tage in Vitopia
Penguin Verlag
München 2022
256 Seiten
24 Euro

Besorgte Eichhörnchen, die einen Kongress zur Abwendung der Klimakatastrophe organisieren, der am Ende eines Regenbogens stattfindet. Die Forderung der Tiere: kein Töten von Tieren mehr, ein Ausbau erneuerbarer Energien, eine ethische Berücksichtigung von Cyborgs, die Beendigung aller Kriege – und das Einsetzen eines sogenannten „Paxgenoms“, einer friedensstiftenden Komponente in unserer DNA.

Was klingt, wie ein bizarrer Witz, ist die Handlung in Ulla Hahns Roman „Tage in Vitopia“ – und ein Gegenmodell zu jeglichen bisherigen dystopischen Klimawandelerzählungen. Der Erzähler: das Eichhörnchen Wendelin Kretschnuss.

Aus seiner Unterkunft in einem Baum beobachtet es mit seiner Familie die Menschen in einer Hamburger Villa an der Alster – mit denen die Eichhörnchenfamilie alsbald eine Demonstration zur Rettung des Hambacher Forsts besucht. Die Einheit der Menschen und Tiere zieht sich fortan durch den gesamten Roman. Hinzu gesellen sich auch bereits verstorbene, historische oder erfundene Persönlichkeiten.

So lautet etwa ein Auszug des Kongressbeginns: „Galilei, Kepler, Kopernikus, Ptolemäus stemmten die Milchstraße hoch mit einem winzigen schwarzen Loch, Schrödingers Katze war mal hier und nicht hier, und da war sie auch nicht, tot oder lebendig. Einstein jagte ihr mit E=mc² vergeblich hinterher.“

Stellenweise muss sich der Leser durch die bunte und fantasievolle Erzählform bemühen, das eigentliche Thema nicht aus dem Sinn zu verlieren. Immerhin sagt das Eichhörnchen Wendelin dem Leser auch, dass man ruhig ein paar Seiten überspringen kann.

Auch die Überlegung, ob der Zeitpunkt für einen solch verspielten Roman über die Probleme unserer Zeit richtig ist, muss erlaubt sein. Im Großen und Ganzen ist „Tage in Vitopia“ jedoch ein herrlich utopischer Roman, der dem Leser gleichzeitig eine Menge Spaß bietet – und doch die Dringlichkeit der Gegenwart betont.

Wenn die Cloud das Gewissen speichert

Jennifer Egan: Candy Haus
Fischer Verlag
Frankfurt 2022
416 Seiten
26 Euro
Übersetzung: Henning Ahrens

Lust am Erzählen schließt bei Jennifer Egan die Lust am sprachlichen Experiment ein, das Ausprobieren neuer Formen, so wie digitale Medien Kommunikation verändert haben. In diesem Geist legt die US-Schriftstellerin einen mitreißenden Episodenband vor, ein „companion book“ zu ihrem Erfolgswerk „Der größere Teil der Welt“ (2010).

Standen damals Rockmusiker im Mittelpunkt, die die Welt retten wollten, aber im Rummel endeten, sind es nun die Super-Nerds des Silicon Valley. Mit ihrem Technizismus legen sie die gleiche Paradiso-Religiosität an den Tag, haben jedoch entschieden mehr Wirkung.

Die hochkreative Autorin, der Kurzzeitfreund Steve Jobs einst einen Macintosh neben das Bett stellte, legt weder eine Dystopie vor noch eine strukturelle Abrechnung mit den Giganten der Neuzeit, sondern ein flirrendes Kaleidoskop mit Geschichten der digitalen Welt.

Es rauscht die Zuckerberg-Jobs-Figur Bix Bouton durch die Handlungen; im Vorgängerbuch war er noch Komparse mit PC in der WG, im „Candy Haus“ erweitert der Erfinder des sozialen Netzwerks „Mandala“ seine Prominenz mit einem Ding namens „Besitze Dein Unterbewusstsein“ – einem Tool, das Erfahrungen in der Cloud verfügbar hält, für sich und die anderen.

Mehr Literatur:

Ein Gewissensspeicher also, der hier Einfluss hat auf einen Programmierer, einen Familienvater oder eine Detektivin. Es gibt auch „Proxys“, Stellvertreter digitaler Identitäten, hinter denen die Menschen ihr wahres Leben leben, oder Chipgeräte, die Informationssignale direkt ans Gehirn senden.

Dem Kollektiv widersteht keiner, aber letztlich macht das „Ich“ doch das, was der Algorithmus nicht kapiert: eine Abbildung nach Gusto zu konstruieren. Und so kapiert Gregory, Boutons Sohn, die Welt auch ohne Hypertext und bietet als Schriftsteller seinen Stoff dar: „Ohne Story haben wir es nur mit zusammenhanglosen Informationen zu tun.“ Mit diesem Fazit lässt sich leben.

Wer bin ich und wenn ja, welche Hautfarbe habe ich?

Moshin Hamid: Der letzte weiße Mann
Dumont Verlag
Köln 2022
160 Seiten
22 Euro
Übersetzung: Nicolai von Schweder-Schreiner

Veränderungen kommen häufig über Nacht, allerdings eher selten, wenn es um die eigene Ethnie geht. Diese kafkaeske Verwandlung ist der Ausgangspunkt von Mohsin Hamids Roman „Der letzte weiße Mann“.

Dessen Protagonist Anders blickt eines Morgens in den Spiegel und sieht ein Gesicht, das er nicht kennt. Maßgeblich, weil sich seine Hautfarbe verändert hat.

Schnell stellen sich zwei Dinge heraus: Anders ist nicht der Einzige, der sich verändert. Und diese Veränderung scheint im weißen Bevölkerungsteil Urängste auszulösen.

Hamid gelingt der literarische Kniff, die vollkommene Absurdität von Rassismus vorzuführen, ohne zu moralisieren. Der Fokus auf Anders und seine Freundin Oona sowie deren Elternteile erzählt die Geschichte überschaubar, nahbar und nicht am Großen.

Auch wenn die Charakterzeichnungen eher Skizzen bleiben – das Narrativ sitzt. So sehen sich gerade die Eltern mit ihrem eigenen, mehr oder minder latenten Rassismus konfrontiert, während in den Straßen Unruhen ausbrechen, weil Weiße nicht mehr unterscheiden können, wer mit anderer Hautfarbe geboren wurde und wer nicht.

Die Frage nach der Identität kann nicht durch den vordergründigen Blick aufs Äußere geklärt werden. Das Buch verzichtet auf Ballast aus pseudowissenschaftlichen Ansätzen und Erklärungen, abstrahiert das Phänomen mehr in eine Unvermeidlichkeit der Transformation. Dort liegt seine Stärke.

Hamid bedient sich motivisch bei Franz Kafka und bei José Saramagos „Stadt der Blinden“, ohne seine nur 160 Seiten zu überfrachten. Am Ende steht ein lückenhaftes Gedankenspiel, das versteht, seine provokative Kraft durch Wärme und Humor wohl zu dosieren.

Sprachlich sind die Bandwurmsätze des Autors, die gern eine halbe Buchseite füllen, oft sperrig. Doch gerade für einen weißen Mann ist es eine ausgezeichnete gedankliche Übung, die festgezurrte Sichtweise der westlichen Welt ein produktives Stück weit zu verschieben.

Eine ganz besondere Nacht im Jahr 1996

Attica Locke: Pleasantville
Polar Verlag
Stuttgart 2022
450 Seiten
26 Euro
Übersetzung: Andrea Stumpf

Alicia Nowell steht an der Ecke Guinevere und Ledwicke Street. Die feuchte Nachtluft bahnt sich ihren Weg durch das dünne blaue T-Shirt. In dem weißen Transporter in der Guinevere Street kann sie den Umriss eines Mannes erkennen.

Die Scheinwerfer sind ausgeschaltet. „Lauf. Schnell, lauf“, flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. Sie will glauben, „dass ein Wegkommen noch möglich ist, obwohl sich in ihr bereits die kalte Gewissheit breitmachte, dass die Nacht sich gegen sie gewandt hatte, dass ihr Verschwinden begonnen hatte.“ Und das in einer ganz besonderen Nacht im Jahr 1996.

In Housten wird gewählt. Nach 160 Jahren steht erstmals ein schwarzer Bürgermeister in der texanischen Stadt zur Wahl: Axel Hathorne. Der ehemalige Polizeichef ist nicht nur der Hoffnungsträger seiner Heimatgemeinde Pleasantville, einem Vorort von Houston, sondern einer ganzen Generation.

Mit dem Einzug in die Stichwahl steht Harthone kurz davor „die reife Frucht jahrzehntelanger Arbeit und Kämpfe“ zu ernten. Doch der Moment des Triumphs wird für das Schwarzenviertel Pleasantville zu einer seiner dunkelsten Stunden. Bis Anwalt und Bürgerrechts‧aktivist Jay Porter sich der Sache annimmt – trotz großer Widerstände.

Attica Locke bindet in ihrem dritten Roman „Pleasantville“ Familientragödien, Liebesdramen und politische Machtspiele zu einem fesselnden Thriller zusammen. Mit wenigen Worten beschreibt Locke die tiefen Beziehungen der Protagonisten und die Komplexität der afroamerikanischen Gemeinschaft im Umbruch.

Dafür spinnt die amerikanische Autorin immer wieder beeindruckende Erzählstränge zwischen vergangenen Ereignissen und aktuellen Tragödien. Dank Lockes lebhaftem Schreibstil und ihrer Liebe zum Detail wird der Leser zu einem Teil von Pleasantville.

Einer Vorstadt, die vom Kampf gegen den Rassismus, der Ölkrise und den ungeklärten Verbrechen gezeichnet ist. Ein Muss für alle mit einem Hang zur Gerechtigkeit.

Hymne auf das Mittelmaß

Nicolas Mathieu: Connemara
Hanser Berlin
Berlin 2022
474 Seiten
26 Euror
Übersetzung: Lena Müller, André Hansen.

Die beste Zeit ihres Lebens hatte Hélène nach der Uni. Sie hatte es nach Paris geschafft, war verliebt und hatte endlich Geld für ein bisschen Luxus. Jetzt ist sie fast vierzig, nach einem Burn-out mit ihrem Mann und den Töchtern zurück in ihre lothringische Heimat in der Nähe von Nancy gezogen – und unglücklich.

Der französische Bestsellerautor Nicolas Mathieu, der wie seine Protagonistin um die vierzig ist und in Épinal, eine Autostunde südlich von Nancy aufwuchs, hat mit „Connemara“ eine schwermütige Hommage auf das Leben mit Mittelmaß geschrieben.

Über ein Leben mit Brüchen, unerfüllten Träumen und unerreichten Zielen: Hélène hat es aus einer Arbeiterfamilie an eine gute Universität geschafft, aber nicht auf eine Grand École, sie hat Karriere bei einer Unternehmensberatung gemacht, aber wartet schon lange auf ihre Beförderung zur Partnerin.

Ihr Mann kümmert sich nicht um den zermürbenden Alltag, obwohl beide voll arbeiten. Zufällig trifft sie dann auf ihren Jugendschwarm Christophe, der Épinal nie verlassen hat, und sie wagt den Ausbruch aus ihrem unzufriedenen Leben.

Die Grundstimmung des Romans verdichtet sich im namensgebenden Lied „Les lacs du Connemara“ von Michel Sardou, einem der großen Chansonniers des Landes. Das Lied aus dem Jahr 1981 über die Seenlandschaft der irischen Region Connemara ist Teil der französischen Identität geworden, 46 Millionen Youtube-Aufrufe, in seiner melancholischen Hymnenhaftigkeit ekstatischer Höhepunkt von Studentenpartys und Hochzeiten.

Mathieu bringt es auf den Punkt: „Diese Lied hatte nichts mit Irland zu tun. Es sprach von etwas anderem, von einem durchschnittlichen Leben, dem ihren, das sich nicht in fernen Gefilden abspielte, sondern hier, (...) wo man keine großen Sprünge machte, (...) und dann die erwachsene Tochter, die sonntags im Megane vorbeikam, den Kindersitz auf der Rückbank, ein Kind, das ihnen versicherte: Es hat sich gelohnt.“

Zwischen Inselkommune und Berlin

Theresia Enzensberger: Auf See
Carl Hanser Verlag
München 2022
272 Seiten
24 Euro

Deutschland, in naher Zukunft: Auf einer Insel in der Nordsee, abgeschieden vom Rest der Welt, wächst die 17-jährige Yada als Teil einer autarken Gesellschaft auf.

Sie nimmt Medikamente, die sie vor dem ihr angeblich innewohnenden Wahnsinn bewahren sollen, steht stets unter der Aufsicht ihres sorgenvollen Vaters. Dieser, ein technologie- und wirtschaftsaffiner Sektenführer, hat die „Sonderwirtschaftszone“, die Yada umgibt, einst begründet – als Zufluchtsort für sich und seine Anhänger in Zeiten des vermeintlichen Weltuntergangs.

Dann beginnt Yada, hinter die Fassade dieser künstlichen Welt zu blicken, innerhalb der sie ihr Vater vermeintlich beschützen will. Und sie beschließt, aus ihr auszubrechen.

So viel zur ganz ins Schema der üblichen Dystopie-Erzählung passenden Handlung von Theresia Enzenzbergers „Auf See“. Bemerkenswerter als der etwas durchsichtige Plot ist seine Erzählweise: Die Ich-Perspektive der Hauptfigur wechselt sich hier mit in der dritten Person geschilderten Lebenseindrücken ihrer Mutter ab, von der Yada zu wissen glaubt, dass sie nicht mehr am Leben ist.

Gleichsam wechselt auch die Erzählwelt zwischen Inselkommune und Berlin hin und her – bis das letzte Drittel des Romans die beiden Welten zusammenführt. Einen dritten Erzählstrang bilden Sachbuch-artige Kapitel, die über Verweisstücke zur Erzählwelt aus der realen Weltgeschichte referieren – von den Ursprüngen des Neoliberalismus über Hochstapler-Anekdoten bis hin zu Scientology.

Auch wenn all das in der zweiten Hälfte des Textes ein wenig zerfasert und die Zusammenführung der Stränge letztlich eher dröge daherkommt: Seine ungewöhnliche Erzählweise macht den Roman bis zur letzten Seite ebenso fesselnd wie vielsinnig.

Es fügt sich ein schummriges Bild, das Deutungen gleichermaßen herausfordert wie abstößt, an jede Antwort eine neue Frage anschließt. So vermag es der Roman, den Leser auch noch weit nach der Lektüre umzutreiben.

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