Immer öfter spalten prominente Persönlichkeiten mit ihren Statements die Gemüter. Das neue Buch „The Individualists“ über das libertäre Denken hilft das Weltbild von ihnen zu verstehen.
Mathias Döpfner, Peter Thiel, Elon Musk
Drei große Persönlichkeiten, die mit ihren Aussagen polarisieren: Dahinter steckt die Denkrichtung des Libertarismus.
Bild: Getty Images, Reuters, Imago [M]
Hamburg Springer-Chef Mathias Döpfner, Tesla-Pionier Elon Musk und Tech-Investor Peter Thiel: drei einflussreiche Männer, die immer wieder mit für deutsche Verhältnisse verstörenden politischen Statements auffallen. Etwa wenn Döpfner in einer privaten Textnachricht die Coronamaßnahmen der Bundesregierung mit Hitlers Machtergreifung vergleicht.
Wenn Musk mit der Übernahme von Twitter einen angeblichen „linken Meinungs-Mainstream“ sprengen will. Oder wenn Thiel im Handelsblatt-Interview konstatiert, die Deutschen hätten nur drei Zukunftsoptionen: „islamische Theokratie“, „chinesischen Überwachungskommunismus“ oder „Gretas grüne Zukunft, in der jeder Fahrrad fährt“.
Um die Weltbilder von Döpfner, Musk und Thiel besser zu verstehen, lohnt die Beschäftigung mit einer Ideologie, die in Deutschland so gut wie keine politische Heimat besitzt, in den USA jedoch zum politischen Mainstream zählt: der Libertarismus.
Die Vertreter dieser Denkrichtung sehen jede Art von staatlichen Eingriffen ins Leben der Menschen extrem skeptisch – seien es Coronaregeln, Waffengesetze oder auch nur eine staatliche Krankenversicherung. Verglichen mit echten Libertären wirkt die deutsche FDP wie ein Klub von Sozialisten.
In den USA tritt uns der Libertarismus heute vor allem als eine rechtsgestrickte politische Bewegung entgegen. Doch das war nicht immer so, wie uns die beiden Autoren des Buches „The Individualists“ darlegen. John Tomasi und Matt Zwolinski erzählen darin die spannende Geschichte libertären Denkens.
Nach der Lektüre versteht man, was Menschen an dieser Ideologie fasziniert und warum sie quer zum herkömmlichen politischen Links-rechts-Schema liegt. Zwolinski, Professor für Philosophie an der Universität San Diego, und Tomasi, Präsident der Denkfabrik „The Hetorodox Academy“ in New York, outen sich gleich zu Beginn des Buches selbst als Libertäre. Doch sie haben wenig gemein mit den Waffennarren in den amerikanischen Trailerparks, die sich für den Endkampf gegen die angebliche Diktatur in Washington rüsten.
Die beiden Autoren identifizieren sechs typische Merkmale libertären Denkens: unbedingten Respekt vor privatem Eigentum, Skepsis gegenüber jeder Form von Autorität, den Glauben an freie Märkte und an die Fähigkeit von Menschen, ihr Zusammenleben selbst und ohne staatliche Vorgaben zu organisieren, einen tief verwurzelten Individualismus und schließlich das, was die Autoren „negative Freiheiten“ nennen. Also die „Freiheit von etwas“, zum Beispiel staatlichem Zwang, in Abgrenzung zu einem linken Freiheitsbegriff, der eher Lebenschancen in den Mittelpunkt stellt, die „Freiheit zu etwas“.
In Europa entstand der Libertarismus vor allem als Gegenströmung zu den ersten sozialistischen Strömungen Mitte des 19. Jahrhunderts. Ganz anders in den USA: Hier waren die Libertären eng verbunden mit den Abolitionisten, die sich gegen die Sklaverei aussprachen.
Das Recht am eigenen Körper und den Früchten von dessen Arbeit war den ersten US-Libertären heilig. Das schuf eine Nähe zur Arbeitswerttheorie, die kurioserweise wiederum eine Grundlage des Marxismus bildet: Der Wert eines Produkts leitet sich demnach aus dem Wert der hineingeflossenen Arbeitszeit ab.
Jeder Mensch, so die gemeinsame Überzeugung von frühen amerikanischen Libertären wie von Marxisten, habe ein Anrecht auf den vollen Wert der von seinen Händen und seinem Geist geschaffenen Produkte. Das machte für diese Libertären Sklaverei ebenso inakzeptabel wie kapitalistische Ausbeutung.
Die linken Wurzeln des Libertarismus in den USA wurden in den 1930er-Jahren zurückgedrängt. Libertäre kämpften nun gemeinsam mit den Republikanern gegen die staatlichen Investitionsprogramme des „New Deal“ ebenso wie gegen den Kommunismus sowjetischer Prägung.
Matt Zwolinski, John Tomasi: The Individualists
Englische Ausgabe
Princeton University Press
Princeton 2023
422 Seiten
26,22 Euro
Zur bekanntesten libertären Autorin jener Jahrzehnte wurde Ayn Rand. Als Kind erlebte sie in Russland, wie Revolutionäre die Apotheke ihres Vaters enteigneten. 1926 verließ Rand die Sowjetunion und reüssierte zunächst als Drehbuchautorin in Hollywood. Berühmt wurde sie mit ihrem philosophischen Roman „Atlas Shrugged (deutsch: „Atlas wirft die Welt ab“), in dem sie einen radikalen Individualismus und Antikommunismus vertritt.
Nach dem Ende des Kommunismus wurde die geistige Bande zwischen US-Libertären und Konservativen noch enger. Viele Libertäre sahen nun in traditionellen christlichen Familienwerten ein Beispiel für die herbeigesehnte Selbstorganisation der Gesellschaft. Die Zentralregierung in Washington wurde immer mehr zum Feindbild.
Mit der „Tea Party“ und ihren geistigen Erben kaperte schließlich eine rechtslibertäre Bewegung die Republikanische Partei und ermöglichte letztlich die Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump – der selbst freilich alles andere als ein Libertärer ist.
Stellenweise wirkt es wie der Versuch einer Ehrenrettung für eine nach rechts abgedriftete geistige Strömung, wenn die beiden Autoren immer wieder auch die progressiven Tendenzen im heutigen Libertarismus betonen. So seien 2020 bei den „Black Lives Matter“-Protesten gegen rassistische Polizeigewalt Libertäre auf beiden Seiten des Spektrums zu finden gewesen: Die Rechtslibertären verurteilten die teils gewalttätigen Krawalle als unverzeihlichen Angriff auf das heilige Privateigentum.
Die Linkslibertären wiederum seien in den Reihen der Protestierenden zu finden gewesen, weil die Polizeigewalt gegen Schwarze Menschen einen inakzeptablen Verstoß gegen das Recht am eigenen Körper darstelle.
Mag sein, doch das mediale Bild, das von den Protesten hängen blieb, ist dann doch eher das vom weißen Mann im Brooks-Brothers-Poloshirt, der mit einem Sturmgewehr im Anschlag vor seiner Villa in St. Louis steht und die vorüberziehenden friedlichen Demonstrierenden bepöbelt.
Elon Musk
Der Tesla-Chef ist einer der libertär Denkenden – und spaltet mit seinen kontroversen Aussagen die Meinungen.
Bild: dpa
Seitdem haben zudem viele Libertäre im Protest gegen angebliche „woke Denkverbote“ ein neues Betätigungsfeld gefunden, an denen sich geradezu exemplarisch ein Merkmal dieser Ideologie festmachen lässt: Sie gebietet, dass Menschen immer zuerst als Individuen gesehen werden und nicht als Weiße oder Schwarze, Männer oder Frauen. Das schließt es aus, einzelne Gruppen besonders zu fördern, zum Beispiel bei der Vergabe von Studienplätzen oder Führungspositionen oder durch bestimmte Sprachregeln.
Und in Deutschland? Wer hier für Marktwirtschaft und Privateigentum eintritt, tut das in der Regel nicht unter Bezug auf irgendwelche Naturrechte, sondern weil diese Wirtschaftsform besser funktioniert als alle anderen bisher entdeckten.
Der Ordoliberalismus deutscher Prägung betont sogar die Notwendigkeit von staatlichen Eingriffen, um den Marktprozess am Laufen zu halten – zum Beispiel mit starken Wettbewerbsbehörden, die Monopole und Kartelle verhindern. Und kein deutscher Liberaler würde bestreiten, dass es öffentliche Güter gibt, die der Staat besser und effizienter bereitstellen kann als der Markt.
Aus dreierlei Gründen lohnt sich dennoch die Lektüre von „The Individualists“. Erstens, um libertäre Positionen besser verstehen zu lernen – nicht nur bei Döpfner, Musk und Thiel, sondern zum Beispiel auch im vor uns liegenden US-Wahlkampf.
Zweitens, weil Tomasi und Zwolinski uns sehr kurzweilig die faszinierende Geschichte einer großen Idee erzählen, mit all ihren Wirrungen und vielen spannenden Protagonistinnen und Protagonisten. Da ist zum Beispiel der französische Libertäre Claude Frédéric Bastiat, Jahrgang 1801, der seine Kritik an staatlichen Markteingriffen in eine Satire kleidete, die bis heute wenig an Aktualität verloren hat: Nach einer Beschwerde des Kerzenmacherverbands über die unfaire ausländische Dumpingkonkurrenz der Sonne ordnet die Regierung die Abdunkelung aller Fenster im Land an, um die bedrohten Arbeitsplätze der Kerzenmacher zu schützen.
Womit wir beim dritten Grund wären, dieses Buch zu lesen. Man muss in den Coronamaßnahmen gewiss nicht gleich ein neues 1933 sehen. Aber gerade in Deutschland tut es gut, sich gelegentlich daran zu erinnern: Individuelle Freiheitsrechte stellen einen Wert an sich dar, der sich weder Begründungspflichten noch Nützlichkeitserwägungen unterwerfen muss. Im Gegenteil: Begründungspflichtig sollte immer derjenige sein, der die Freiheit anderer einschränken will.
Erstpublikation: 30.04.2023, 11:27 Uhr.
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