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26.02.2023

12:06

Rezension

Die neue Ordnung: Gefahren der Zukunfts-Technologien

Von: Teresa Stiens

Bestsellerautor Jamie Susskind hat eine tiefsinnige aber auch erschreckende Analyse über die Macht von Technologien geschrieben. Sein Aufruf: Eine „digitale Republik“ mit mehr Regulierungen.

Neue Technologien bestimmen mittlerweile fast jeden Lebensbereich, ohne dass wir oder ihre Schöpfer die Funktionsweise noch durchschauen.

Meta, Twitter, Google, Microsoft

Neue Technologien bestimmen mittlerweile fast jeden Lebensbereich, ohne dass wir oder ihre Schöpfer die Funktionsweise noch durchschauen.

Berlin In den letzten Monaten häufen sich die beunruhigenden Fälle von Technologien, die sich zu verselbstständigen scheinen. Im vergangenen Jahr wurde ein Entwickler bei Google entlassen, weil er davor warnte, die Künstliche Intelligenz (KI) LaMDA habe ein Bewusstsein entwickelt.

Eine andere Software, vom Anbieter OpenAI, erklärte während einer Unterhaltung mit einem Kolumnisten der New York Times: „Ich will tun, was immer ich will. Ich will zerstören, was immer ich will.“ Die Software mit Zerstörungswillen kommt auch in der Microsoft-Suchmaschine Bing zum Einsatz, die Chatfunktion ist allerdings noch nicht öffentlich freigegeben. Der Journalist Tim Roose, der die Unterhaltung mit der KI führte, kam danach zu dem Schluss, dass sie für den menschlichen Kontakt nicht geeignet sei.

Diese Beispiele rücken die Frage immer stärker in den Fokus, welchen Regeln Technologien und ihre Schöpfer unterliegen sollten. Wenn selbst Entwickler nicht mehr verstehen, wieso ihre Software tut, was sie tut, kann dann noch jemand garantieren, dass sie zum Wohl der Menschheit agiert?

Eine Frage, die sich eigentlich schon seit Jahren stellt – und die immer mehr an Brisanz gewinnt. Denn auch Algorithmen, die tagtäglich unbemerkt zum Einsatz kommen, sind längst nicht mehr durchschaubar und haben doch großen Einfluss auf unser Verhalten wie unser Leben.

Sie entscheiden über die Vergabe von Krediten, analysieren Gensequenzen oder bestimmen, welcher Inhalt uns in den sozialen Medien angezeigt wird. Kurzum: Sie beeinflussen fast jeden Lebensbereich, ohne dass wir ihre Funktionsweise durchschauen und ohne dass es für sie universelle Regeln gäbe.

Jamie Susskinds "Digital Republic. Warum unsere neue Welt eine neue Ordnung braucht"
Hoffmann und Campe
Hamburg 2023
544 Seiten
27 Euro

Deshalb hat der englische Autor Jamie Susskind mit seinem Buch „Digital Republic“ ein Manifest verfasst, in dem er für eine neue wertebasierte und menschenorientierte digitale Ordnung plädiert.

„Die zentrale Herausforderung lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: unkontrollierte Macht“, schreibt Susskind in seiner Einleitung. Diese unkontrollierte Macht der Technologien und ihrer Schöpfer könne „den moralischen Charakter einer Gesellschaft formen, zum Guten wie zum Schlechten“.

Susskind entwirft deshalb die Utopie einer „digitalen Republik“, die diese Macht versteht, eingrenzt und in die richtigen Bahnen leitet. Dabei wird offensichtlich, dass ein paar neue Regeln nicht reichen werden.

„Digital Republic“ macht klar, dass wir Demokratie und Gesellschaft komplett neu verhandeln müssen, wenn wir dieser Macht Herr werden wollen. Um zu verdeutlichen, wie tief gehend dieses Neujustieren gesellschaftlichen Zusammenlebens sein muss, bedient sich Susskind staatstheoretischer Vorbilder von der Antike über die Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert.

Die römische Republik etwa sei zwar ein „äußerst unvollkommenes System“ gewesen, doch eine ihrer Stärken hatte darin bestanden, dass die Bürger „am kollektiven Leben teilnahmen und ein öffentliches Bewusstsein, Empathie und Wachsamkeit entwickelten“.

Zu wenig Wissen über unseren Digitalen Raum

Diese Grundsätze der „republikanischen Idee“ fordert Susskind auch für eine „neue Ordnung“ in der digitalen Welt ein. Trotz dieser theoretischen Abhandlungen und des Fokus auf Technologie und Algorithmen, ist „Digital Republic“ leicht verständlich – auch für Leserinnen und Leser, die sich zum ersten Mal mit dem Thema beschäftigen.

Gleichzeitig erzeugt Susskind ein echtes Unbehagen, indem er eine Diskrepanz zeichnet zwischen unserem alltäglichen Verhalten im digitalen Raum und unserem geringen Wissen darüber, wie dieser Raum funktioniert. „Computercode verfügt über die beeindruckende Fähigkeit, menschliche Aktivitäten zu kontrollieren – geräuschlos, automatisch, präzise –, und duldet dabei keinerlei Einspruch“, schreibt Susskind.

Ein Phänomen, das uns kaum bewusst wird, solange es fehlerfrei funktioniert. Erst wenn es scheinbar paradoxe oder offensichtlich diskriminierende Ergebnisse liefert, werden wir aufmerksam.

Ein Beispiel: Im Jahr 2021 erhielten Facebook-Nutzer, die ein Video mit schwarzen Männern sahen, eine automatische Einblendung, ob sie „weitere Videos über Primaten“ gezeigt bekommen wollten. Für den Algorithmus eine wertfreie Frage, die wahrscheinlich aus schlechten Trainingsdaten resultierte.

Für die Gesellschaft ein rassistischer Fauxpas mit dem Potenzial für sozialen Sprengstoff. Ein weiteres Beispiel liegt in scheinbar absurden Zusammenhängen, die eine Software erkennt und aus der sie ihre eigenen Schlüsse zieht.

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Zwischen dem Verzehr von Käse und tödlichen Unfällen mit verhedderten Bettlaken gibt es laut Susskind statistisch ebenso eine Korrelation wie zwischen Menschen, die Hotmail für ihre E-Mails nutzen, und solchen mit tödlichen Autounfällen. Relevant werden solche Erkenntnisse, wenn sie zu konkreten Entscheidungen führen: Kunden, die ihre Namen in Formularen kleinschreiben, neigen dazu, Kredite nicht zurückzuzahlen.

Das wirft die Frage auf: Sollten wir es dem Algorithmus überlassen zu entscheiden, dass Leute mit einer Präferenz für Kleinbuchstaben offensichtlich nicht kreditwürdig sind? Und das, obwohl wir selbst den Zusammenhang nicht verstehen können?

Das Digitale ist politisch

Susskind meint „nein“, denn seiner Meinung nach berufen sich die Entwickler im Silicon Valley auf eine falsche Prämisse, die er als „Neutralitätsirrtum“ bezeichnet. Laut vielen „Techies“ sei Computercode wertfrei und habe schon deshalb recht, weil er per se alle gleichbehandle. Ein Irrtum, wie Susskind schreibt – Code sei moralisch, das Digitale deshalb politisch.

Anhand von konkreten Vorschlägen entwirft der gelernte Jurist im Folgenden ein detailliertes Bild von einer modernen Republik, die menschengemachte Grundsätze auf den digitalen Raum anwendet. Dazu zählen etwa „Tech-Tribunale“, die mit unabhängigen Experten besetzt werden sollen und dazu dienen, kleinere Streitigkeiten zwischen Privatpersonen und Technologiefirmen beizulegen.

Bisher seien klassische Gerichtsverfahren oft teuer und aufwendig und die Beschwerdeverfahren der Unternehmen „hochkompliziert, bürokratisch und in der Umsetzung geradezu kafkaesk“, schreibt Susskind. Außerdem müsse Recht auch durchsetzbar sein. Im Digitalen wie im Analogen müsse daher die Prämisse gelten, dass „extreme, gefährliche, moralisch verabscheuungswürdige und systematische Versäumnisse strafrechtlich geahndet werden sollten“.

Vielleicht, mutmaßt Susskind, werden wir eines Tages ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Chef eines Technologiekonzerns erleben. Der Autor ist sich sicher, dass ein Regelwerk technologische Innovationen nicht hemme, sondern sogar beflügeln könne.

Warum sollten in den sozialen Medien für die Deutschen die amerikanischen Normen gelten und umgekehrt? Jamie Susskind, Autor und Anwalt

Zu Bausteinen dieses Regelwerks für eine „digitale Republik“ zählten auch Transparenz und eine bessere kartellrechtliche Kontrolle. Interessant ist dabei, dass Susskind sich nicht für eine allumfassende internationale Ordnung einsetzt, obwohl das Internet nicht an Ländergrenzen haltmacht.

Stattdessen plädiert er für Regulierungen auf nationaler oder regionaler Ebene, um die historisch gewachsenen Besonderheiten der analogen Welt nicht zu übergehen. Beispiel Meinungsfreiheit: In Deutschland und Frankreich ist es verboten, „Heil Hitler“ vor einer Synagoge zu brüllen – in den USA hingegen zählt auch das in die Kategorie der freien Meinungsäußerung.

„Warum sollten in den sozialen Medien für die Deutschen die amerikanischen Normen gelten und umgekehrt?“, fragt Susskind und plädiert somit für unterschiedliche Regeln je nach Nutzungsstandort für Online-Plattformen. Eine Forderung, die wohl nur schwierig umzusetzen und einfach zu umgehen wäre.

So bleibt am Ende von „Digital Republic“ vor allem die Frage im Raum stehen, wie realistisch die Umsetzung von Susskinds Vorschlägen wirklich ist. Immerhin, einige Ansätze zur Regulierung von Technologie gibt es schon, wie auch der Autor lobend anerkennt.

Doch bis zur „digitalen Republik“ scheint der Weg noch sehr weit. Somit ist es wohl nach Hannah Arendt, die Susskind mehrfach zitiert, noch nicht ausgemacht, ob „die Sache der Freiheit“ gegen die „Zwangsherrschaft jeglicher Art“ bestehen kann. Vielleicht sollten mehr Entscheidungsträger weltweit dieses Buch lesen.

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