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17.02.2023

10:19

Rezension

Nach der Ära Merkel: Welche Außenpolitik braucht Deutschland heute?

Von: Nicole Bastian

Christoph Heusgen, langjähriger Berater Angela Merkels, beschreibt ihre Außenpolitik – und fordert eine aktivere Rolle der jetzigen Regierung in der internationalen Politik.

Der Autor schreibt in seinem Buch unter anderem über seinen Erfahrungen aus dem Kanzleramt und gibt Einblicke in die Entscheidungen Merkels. mauritius images / Kremlin Pool / Alamy

Wladimir Putin und Angela Merkel bei einem informellen Treffen

Der Autor schreibt in seinem Buch unter anderem über seinen Erfahrungen aus dem Kanzleramt und gibt Einblicke in die Entscheidungen Merkels.

Düsseldorf Stundenlang rangen Angela Merkel und Wladimir Putin um Halbsätze. Sie waren im Februar 2015 zusammen mit dem französischen Präsidenten FranÇois Hollande und dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko im Kongresspalast im weißrussischen Minsk zusammengekommen. In zwei Tagen handelten sie und ihre Teams das Minsker Abkommen aus. Mit ihm wollte Merkel eine weitere Eskalation der russischen Krim-Annexion von 2014 verhindern.

Einen Tisch, an dem zentral gesprochen wurde, gab es nicht. Verhandelt wurde meist im Stehen und in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Auf einem runden Tisch im Raum türmten sich die Speisen, die der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko in Erwartung eines Galadinners auftürmte, das dann nie stattfand.

So beschreibt es Christoph Heusgen, der als Merkels außenpolitischer Berater in Minsk mit verhandelte, in seinem gerade erschienenen Buch „Führung und Verantwortung“. Und er urteilt zur damaligen Lage: „Es wäre für Putin ein Leichtes gewesen, bis nach Kiew vorzudringen.“ Aber der Kremlchef habe sich zunächst mit dem Erreichten zufriedengegeben – und überstimmte irgendwann seine Berater. Ein Kompromiss war gefunden.

Das Minsker Abkommen hatte nur keinen Bestand, denn Moskau brach die Vereinbarung zum Waffenstillstand quasi umgehend. Im Rückblick auch für Heusgen ein Zeichen, dass die russische Führung das Abkommen von Anfang an nicht umsetzen wollte.

Dennoch, so urteilt er heute, habe das Abkommen der ukrainischen Armee Zeit gegeben, sich zu stärken. Denn acht Jahre später, am 24. Februar 2022, griff Moskau die Ukraine großflächiger an – und veränderte damit die europäische Sicherheitsordnung.

Christoph Heusgen: Führung und Verantwortung
Siedler Verlag
München 2023
256 Seiten
24 Euro

Heusgen leitet heute die Münchner Sicherheitskonferenz. Sein Buch ist auch ein Einblick in viele außenpolitische Ideen, die am Ende doch erfolglos waren.

Heusgen verfolgt damit drei unterschiedliche Anliegen: Er möchte erstens die Außenpolitik Angela Merkels beschreiben, zweitens Einblicke in seine zwölf Jahre als ihr außenpolitischer Berater geben – und drittens einige eigene Ideen für Deutschlands künftige Rolle in der Welt skizzieren. Dass die geopolitische Ordnung sich seit dem erneuten russischen Angriff auf die Ukraine 2022 verändert hat – und weiter massiv verändert, erschwert die Aufgabe, allen drei Anliegen gerecht zu werden.

Heusgen reist in seinem Buch mit Merkel (CDU) um die Welt und widmet jedem Land oder jeder Region ein Kapitel. Jedes Kapitel startet mit Merkels Antrittsbesuch dort.

Zuweilen liegen diese Besuche in Paris, Brüssel und Warschau, Washington und Moskau, Jerusalem und Peking aus den Jahren 2005 und 2006 wegen des weltpolitischen Einschnitts im vergangenen Jahr gefühlt aber so weit zurück, dass die Aktualität in den jeweiligen Kapitelenden für die Leser recht spät kommt und dazu ein wenig kurz gerät.

Klare Ideen und Forderungen

Heusgen versucht, dies durch ein Ausblickkapitel aufzufangen, in dem er klare Ideen skizziert und Forderungen stellt. Der transatlantisch geprägte Diplomat plädiert darin für eine anhaltende hohe Unterstützung der Ukraine und eine harte Haltung gegenüber Moskau.

„Durch den von ihm begangenen Zivilisationsbruch hat Putin alle Brücken hinter sich abgerissen“, schreibt er. Ein Friedensabkommen, das Putins Namen trüge, wäre in seinen Augen „das Papier nicht wert, auf das er seine Unterschrift setzte“. Schließlich hat Heusgen diese Erfahrung in Minsk ja bereits einmal gemacht.

Allen Verfechtern einer baldigen Verhandlungslösung mit ukrainischen Kompromissen wirft Heusgen vor: „Wer ihm jetzt hilft, das Gesicht zu wahren, würde sich mitschuldig an seinem nächsten Überfall auf ein Nachbarland machen, der nach einer Erholungsphase – davon bin ich überzeugt – erfolgen würde.“

Er halte es für falsch und aussichtslos, die ukrainische Regierung von außen zum Abbruch ihres Verteidigungskampfes zu bewegen. Putin würde dies als Schwäche interpretieren, und die ukrainische Bevölkerung würde Präsident Wolodimir Selenski die Gefolgschaft verweigern.

Der Autor schließt sich vielmehr den Forderungen nach einem Sondertribunal zur Verfolgung von Putins Verbrechen an. Er fordert zudem, dass sich die vom amtierenden Kanzler Olaf Scholz (SPD) ausgerufene Zeitenwende nach dem russischen Angriffskrieg im vergangenen Jahr auch wirklich in höheren Verteidigungsausgaben Deutschlands niederschlägt und das Land mehr politische Führung übernimmt. „Verantwortung übernehmen kann nicht heißen, immer nur als Letzter das Nötigste zu tun“, kritisiert Heusgen.

Mehr zur Außenpolitik Deutschlands:

Sein Appell: Im Schulterschluss mit Frankreich sollte sich Deutschland für eine europäische schnelle Eingreiftruppe einsetzen. Zudem solle Deutschland Frankreichs Angebot annehmen, gemeinsam über die Ausweitung des französischen Nuklearschirms nachzudenken, argumentiert Heusgen.

Zudem müsse das Land seine Abhängigkeiten von China verringern. „Nur wenn wir eine gewisse Unabhängigkeit haben, können wir uns erfolgreich gegen eine Umgestaltung der internationalen Ordnung durch China wehren“, argumentiert er. Denn: „Vor unseren Augen spielt sich ein Wettbewerb um die Gestaltung der künftigen Weltordnung ab.“ Deshalb müsse sich die Bundesregierung auch stärker und strategischer um den globalen Süden kümmern. Sonst tun es Russland und China.

Seine Erfahrungen in den vorangegangenen fast zwei Jahrzehnten begründen diese Forderungen. Heusgen, der aus dem Kanzleramt nach New York als Botschafter bei den Vereinten Nationen wechselte, war und ist nah dran an der Weltpolitik und an der ehemaligen Kanzlerin selbst. Bei so viel Nähe hätte sich der Leser oder die Leserin aber zuweilen noch mehr Schlüsselloch-Momente gewünscht.

Ein paar dieser Einblicke gibt es: wie den, dass US-Außenministerin Condoleezza Rice weinte, als die USA beim Nato-Treffen 2018 einlenkte – und die Ukraine auch wegen Bedenken Merkels nicht auf den Beitrittspfad zum Verteidigungsbündnis gesetzt wurde.

Oder wie kurz US-Präsident Obama vor einem militärischen Eingreifen in Syrien stand und was ihn davon abhielt. Oder wie sich Merkel und der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher für die vorzeitige Entlassung von Michail Chodorkowski aus dem russischen Arbeitslager einsetzten.

Wenige Schlüsselloch-Momente

Von solchen Momenten hat das Buch jedoch weitaus weniger, als Heusgen mit Sicherheit erzählen könnte. Was etwa hat Angela Merkel gesagt, als die Briten 2016 für den Austritt aus der Europäischen Union stimmten?

Was bestimmte ihre Strategie, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Europa 2015 ein Flüchtlingsabkommen abpresste? Und wie genau liefen die Diskussionen in der Bundesregierung über die umstrittene Erdgas-Pipeline Nord Stream 2? Gerade über den Umgang der deutschen Politik mit Russland in den Jahren nach der Krim-Annexion wäre eine noch tiefere Betrachtung wünschenswert gewesen.

Doch in diesen Punkten bleibt Heusgen verschwiegener Diplomat, der eben nicht alles preisgeben kann und mag. Für außenpolitisch Interessierte lohnt sich die Lektüre dennoch.

Sie bietet auf 250 Seiten eine gute Übersicht über die deutschen außenpolitischen Interessenlagen in der Regierungszeit von Angela Merkel. Das Buch gibt einen guten Abriss über die Entwicklung einer aktiveren deutschen Außenpolitik, die sich nach dem 24. Februar 2022 nun unter der Ampelregierung in Berlin gerade immens weiterentwickelt.

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