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04.02.2023

11:00

Rezension

Zwischen Berlin und Jerusalem: Leben in zwei Welten

Von: Pierre Heumann

Er ist einer der besten Kenner Israels, fühlt sich aber manchmal wie ein Außenseiter: In seinem neuen Buch erzählt der Historiker Tom Segev seine Geschichte – und damit auch die seines Landes.

Tom Segev hat sich nie wirklich heimisch in Jerusalem gefühlt. Dennoch sagt er:  „Was ich hier liebe, das übertrifft, was ich abscheulich finde.“ IMAGO/Christian Offenberg

Der Felsendom auf dem Tempelberg in der Altstadt von Jerusalem

Tom Segev hat sich nie wirklich heimisch in Jerusalem gefühlt. Dennoch sagt er: „Was ich hier liebe, das übertrifft, was ich abscheulich finde.“

Tel Aviv Seine Eltern waren 1935 aus Deutschland ins damalige Palästina geflohen. Wirklich heimisch aber fühlten sie sich in Jerusalem, wo Tom Segev 1945 auf die Welt kam, nie. Vielmehr erschien ihnen, auch zehn Jahre nach ihrer Flucht, „jeder weitere Tag in Palästina sinnlos“, schreibt der Autor in seiner gerade erschienenen Autobiografie, und sie planten ihre Heimkehr nach Deutschland.

Seine Mutter, eine Christin, die einen Juden geheiratet hatte, der im Unabhängigkeitskrieg umkam, las ihrem Sohn deutsche Kinderbücher vor und sie bestand darauf, dass er ein reines Hochdeutsch spreche. Er hieß damals noch Tito Schwerin. Erst später nahm er den hebräischen Namen Tom Segev an.

In „Jerusalem Ecke Berlin“ nimmt der israelische Historiker und Publizist die Leserinnen und Leser mit auf eine spannende Reise durch seine Geschichte – und damit auch die Geschichte seines Landes. Er tut das einerseits als Insider, ist er doch einer der besten Kenner des Werdegangs Israels.

Seine zahlreichen Bücher darüber machten ihn weltweit bekannt. Andererseits fühlt sich Segev auch als Außenseiter, was seinen Blick für Widersprüche und Gegensätze in der israelischen Gesellschaft schärft, denen er kritisch, mitunter auch humorvoll auf den Grund geht.

Der Buchtitel „Jerusalem Ecke Berlin“ reflektiert Segevs duale Identität. Die Deutschen und der Holocaust sowie der Zionismus und der Krieg mit den Arabern hätten sein Leben weitgehend geformt, schreibt er. Segev deckt in der Biografie sowohl private als auch nationale Mythen auf.

Tom Segev: Jerusalem Ecke Berlin
Siedler Verlag
München 2022
416 Seiten
32 Euro
Übersetzung: Ruth Achlama

Sein Vater Heinz etwa starb gar nicht im israelischen Unabhängigkeitskrieg wie eingangs noch beschrieben. Und er war auch nicht in Deutschland aus einem KZ geflohen. Erzählungen, mit denen Segev aufgewachsen ist. Beides jedoch sei falsch, fand Segev heraus. Seine Mutter hatte sich wohl gedacht, spekuliert er, dass er mit einem Heldenvater leichter leben könne als mit der Tatsache, dass sein Vater bei einem Unfall ums Leben gekommen war.

In Deutschland berühmt wurde Segev mit seinem Buch „Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung“ in der Mitte der 1990er-Jahre. Dort beschreibt er, wie das Erziehungsministerium Polenreisen von Schülern in Konzentrationslager organisierte, um sie zu einer „national-religiösen Katharsis zu bringen“.

Das hatte auch die Funktion, ihnen vor dem obligatorischen Militärdienst eine Motivationsspritze zu verabreichen und sie schwören zu lassen, den Staat Israel und seine Streitkräfte stets zu verteidigen, „da die Seelen der Toten das befahlen“. Scharf arbeitet Segev an diesem Beispiel die Einstellung der Israelis zum Holocaust und zu sich selbst heraus, in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit.

„Der Traum vom ‚neuen Juden‘, den der Zionismus im Lande Israel einst schaffen wollte, war mit der Zeit verblasst: Die Israelis entdecken sich als Juden“, schreibt Segev, der ein hervorragender Erzähler ist.

Menschen, die er trifft, sind für ihn eine Story. Geschichte gipfelt bei ihm in Begegnungen – zum Beispiel mit David Ben-Gurion, dem ersten Premier Israels, mit Jassir Arafat, dem legendären Palästinenserführer, mit Fidel Castro, dem Commandante oder mit Bruno Kreisky, dem einstigen Bundeskanzler Österreichs.

Mehr Literatur:

Einen besonderen Stellenwert in Segevs Leben (und im Buch) nimmt ein junger Einwanderer aus Äthiopien ein. Er war in einer Strohhütte in den Bergen von Äthiopien auf die Welt gekommen und mit der sogenannten „Operation Moses“ nach Israel gekommen.

Am Beispiel dieses Flüchtlings, den Segev später adoptierte, beschreibt er ein israelisches, zionistisches Klischee, das aber Realität sei. Denn 30 Jahre nach seiner Geburt war der gebürtige Äthiopier an einem Projekt beteiligt, das eine Rakete auf den Mond schießt. „Das ist eigentlich ziemlich unglaublich, aber eben in Israel möglich“, schreibt Segev.

Auch wenn er den Staat Israel zuweilen „unausstehlich“ finde – Fanatismus oder Terror –, falle die Bilanz am Ende für ihn positiv aus, schreibt er versöhnlich: „Was ich hier liebe, das übertrifft, was ich abscheulich finde.“

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