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07.03.2022

20:09

Aktienmarkt

„Die Lage ist unberechenbar“ – Rezessionsangst lässt die Kurse abstürzen

Von: Ingo Narat, Anke Rezmer, Jürgen Röder

Investoren erleben einen turbulenten Wochenstart an den europäischen Aktienmärkten. Strategen äußern sich besorgt über die weiteren Perspektiven.

Der Dax fiel am Montag zeitweise zurück auf den tiefsten Stand seit November 2020. Reuters

Händler an der Börse Frankfurt

Der Dax fiel am Montag zeitweise zurück auf den tiefsten Stand seit November 2020.

Frankfurt, Düsseldorf Die Preisrally bei Rohstoffen und die Furcht vor einem Versorgungsengpass in Europa haben zu Wochenbeginn zu einem regelrechten Ausverkauf an den Aktienmärkten geführt. Besonders unter Druck stand der deutsche Leitindex Dax, der zu Handelsbeginn um fast fünf Prozent einbrach, die Verluste im Tagesverlauf aber wieder verringern konnte.

„Der Krieg in der Ukraine und die damit einhergehenden Wirtschaftssanktionen verursachen Verwerfungen, deren direkte und indirekte Auswirkungen auf die einzelnen Geschäftsmodelle der Unternehmen derzeit schwer abzuschätzen sind“, erklärt Christoph Niesel, Fondsmanager beim genossenschaftlichen Fondshaus Union Investment, die große Nervosität der Anleger.

Die Börse tendiere in vielen Fällen dazu, den „Worst Case“, den schlimmstmöglichen Fall, einzupreisen, sagt der Aktienexperte. Und das ist derzeit nach Ansicht vieler Strategen die Aussicht auf einen deutlichen Konjunkturabschwung in Europa bei gleichzeitig weiter anziehenden Preisen. „Es nimmt die Furcht zu, dass der Konflikt die Weltwirtschaft, die sich bereits jetzt mit der Überwindung der Pandemiefolgen schwertut, belastet“, sagte Kunal Sawhney, Chef des britischen Researchhauses Kalkine.

Die Hoffnung auf eine kräftige Konjunkturerholung nach dem Überwinden der Coronapandemie schwinde, so der Experte. Und von den Notenbanken sei aktuell keine Hilfe zu erwarten, warnt auch Anlagestratege Jürgen Molnar vom Brokerhaus Robomarkets. „Im besten Fall halten sie die Füße still, statt wie angekündigt die Zinsen zu erhöhen.“

In der Spitze sackte der konjunktursensible Dax am Montag um fast fünf Prozent auf 12.438 Punkte ab, er markierte damit den tiefsten Stand seit November 2020. Der banken- und ebenfalls industrielastige Euro-Stoxx-50-Index verlor bis zu 4,5 Prozent. Beide Indizes rutschten damit sogar in einen Bärenmarkt: Sie notierten 20 Prozent und mehr unter ihren Hochs vom Januar.

Grafik

Etwas stabiler präsentierte sich der breite europäische Markt, abgebildet im Stoxx-600-Index, dem auch in London notierte Rohstoff- und Energieriesen mit ihren aktuellen Kursgewinnen angehören. Die führenden Indizes am US-Aktienmarkt starteten ebenfalls schwächer in den Handel.

Im Gegenzug flüchteten Anleger abermals in sogenannte „sichere Häfen“ wie Anleihen, Gold und in krisenfeste Währungen wie den Schweizer Franken. Der Euro sank daher erstmals seit sieben Jahren unter die Parität zum Schweizer Franken. Besonders inflationsgeschützte Zinspapiere waren gefragt.

Belastungsfaktor Inflation

Strategen äußern sich besorgt. „Die Lage ist unberechenbar; die Situation in der Ukraine kann auch noch eskalieren“, fürchtet Christian Kahler, Chefanlagestratege der DZ Bank. Er erinnert an den ersten Irakkrieg 1990, als die Aktien 40 Prozent einbrachen.

Und im Vergleich zu den 70er-Jahren mit Ölkrisen und Stagflation sei die Lage heute sogar noch schwieriger, meint der Experte. Das gelte insbesondere für die Inflation – weil von den aktuellen Preissteigerungen viele Rohstoffe betroffen seien und nicht nur Öl.

Kahler rechnet in diesem Jahr nun mit einer Inflation von 4,9 Prozent in der Euro-Zone, in den USA sogar mit 7,2 Prozent. „Es droht eine Rezession, weil die Belastungen jetzt sehr hoch sind“, warnt er.

Eine Rezession, also ein Bruttoinlandsprodukt, das mindestens zwei aufeinanderfolgende Quartale schrumpft, fürchten inzwischen einige Ökonomen in Europa. Andere sorgen sich über eine Stagflation, also eine schwache, stagnierende Wirtschaft, die zugleich mit einer hohen Inflation kämpft.

Die zu erwartenden Folgen für die Wirtschaft durch den Ukrainekrieg dürften mögliche Unterstützungsmaßnahmen erschweren: Die führenden Notenbanken werden nach Ansicht der Strategen vom Fondshaus DWS Zinserhöhungen nun vorsichtiger angehen als noch vor Kriegsbeginn erwartet, weil sie das Wirtschaftswachstum nicht zusätzlich belasten wollten. Das sieht auch Thorsten Schrieber, Vorstand beim Vermögensverwalter DJE Kapital, so. „Ein Stagflationsszenario könnte tragend werden“, sagt er.

Andere Investoren bleiben dagegen etwas gelassener: „Europa wird sicherlich wirtschaftlich stärker betroffen sein als andere Regionen in der Welt, weil die Verflechtungen mit Russland hier am deutlichsten ausgeprägt sind“, sagt Fondsmanager Niesel von Union. So hält er es zwar durchaus für realistisch, dass der Krieg in der Ukraine auch in Europa in der Breite zu Wachstumseinbußen führt.

Eine Rezession auf dem Kontinent in Europa erwartet der Aktieninvestor aber derzeit nicht: Denn die Konjunktur dürfte seiner Ansicht nach durch das Öffnen vieler Märkte nach dem Wegfall der Coronabeschränkungen unterstützt bleiben.

Außerdem erwartet Niesel „Nachholeffekte“ im Konsumsektor, da die Sparquoten trotz der gestiegenen Inflation noch immer hoch sind. Viele Menschen hatten ihr Geld in der Pandemie zusammengehalten, weil sie stark verunsichert waren, was die Zukunft bringt und ob sie überhaupt ihren Job behalten. Nun trauten sich viele wieder, Geld auszugeben. Außerdem rechnet der Fondsmanager damit, dass weiteres Kapital neu am Aktienmarkt angelegt wird.

DZ-Bank-Stratege Kahler rät Anlegern trotz der großen Ausschläge an den Märkten, zunächst einmal abzuwarten und die Nerven zu bewahren. Denn die Erfahrung mit kriegerischen Auseinandersetzungen in der Vergangenheit zeige, dass die Aktienmärkte oft drastisch einbrachen – sich aber auf längere Sicht auch wieder deutlich erholten.

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