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25.06.2020

18:29

Dax-Konzern in Not

Wirecard überrascht Gläubiger mit Insolvenzantrag – Michael Jaffé als Gutachter bestellt

Von: Felix Holtermann, Michael Maisch, Andreas Neuhaus, Christian Schnell

Der Zahlungsdienstleister hat die Banken mit dem Insolvenzantrag kalt erwischt. Unter Wirecard-Mitarbeitern gibt es auch eine positive Lesart der Nachricht.

Dax-Konzern

Wirecard stellt Insolvenzantrag

Dax-Konzern: Wirecard stellt Insolvenzantrag

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Frankfurt, Düsseldorf, München Nach seinem zunächst märchenhaften Aufstieg steht der Zahlungsdienstleister Wirecard vor der Pleite. Inmitten des milliardenschweren Bilanzskandals stellte der Konzern einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, wie Wirecard am Donnerstag mitteilte. Der Vorstand habe sich wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung zu diesem Schritt entschlossen, erklärte das Unternehmen.

Das Amtsgericht München teilte am Donnerstagabend mit, der Insolvenzantrag sei gegen 17 Uhr eingegangen. Der Münchner Rechtsanwalt und Sanierungsexperte Michael Jaffé sei als Sachverständiger bestellt worden, um ein Gutachten über den Insolvenzantrag zu erstellen. Damit hat er die besten Chancen, auch zum vorläufigen Insolvenzverwalter für den Aschheimer Zahlungsverkehrsdienstleister ernannt zu werden.

Jaffé war als Insolvenzverwalter des zusammengebrochenen Medienkonzerns von Leo Kirch bekannt geworden. Derzeit ist er Insolvenzverwalter der Firma P&R, die Schiffscontainer in großem Stil als vermeintliches Anlageobjekt an 54.000 Investoren verkauft hatte.

Knackpunkt für Wirecards Insolvenzantrag waren Kredite mit einem Volumen von 800 Millionen Euro und 500 Millionen Euro, erklärte das Unternehmen in einer weiteren Mitteilung. Diese wären zum 30. Juni beziehungsweise zum 1. Juli entweder ausgelaufen oder wären kündbar gewesen.

Zwar habe man mit den Banken verhandelt und dabei die jüngsten Entwicklungen berücksichtigt, aber der Vorstand sei „zu der Überzeugung gelangt, dass in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit eine positive Going Concern Prognose nicht gestellt werden kann“. Die Fortführbarkeit des Unternehmens sei damit nicht sichergestellt.

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Es ist das erste Mal in der mehr als 30-jährigen Geschichte des Leitindex Dax, dass ein Mitglied Insolvenz anmeldet, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Laut Regelwerk dürfte Wirecard trotzdem bis zur nächsten regulären Überprüfung im September im Dax bleiben. Denn der Insolvenzantrag an sich ist noch kein Grund für einen sofortigen Rauswurf.

An der Frankfurter Börse stürzte die Wirecard-Aktie daraufhin ein weiteres Mal in die Tiefe. Der Kurs fiel bis auf 2,50 Euro. Zuvor hatte die Deutsche Börse die Aktie um 10.20 Uhr für 60 Minuten vom Handel ausgesetzt. Am vergangenen Mittwoch hatten die Papiere noch bei über 100 Euro notiert.

Ebenfalls vom Handel ausgesetzt wurden alle strukturierten Produkte wie Anlagezertifikate und Hebelprodukte, die sich auf Wirecard als Basiswert beziehen. Auch die Wirecard-Anleihe kann nicht mehr ge- oder verkauft werden. Das Papier notierte zuletzt mit einem Abschlag von 89 Prozent bei elf Euro pro 100 Euro Nennwert.

Commerzbank gehört zu den Gläubigern

Bis zuletzt habe es konstruktive Verhandlungen mit dem Konzern gegeben, heißt es aus Kreisen des Bankkonsortiums, das einen milliardenschweren Kredit an Wirecard vergeben hatte. Aufgrund des fehlenden Testats für die 2019er Bilanz hatten Gläubigerbanken das Recht, Kredite über insgesamt zwei Milliarden Euro jederzeit zu kündigen. Diese hätten aber nicht „den Stecker gezogen“, heißt es in Finanzkreisen.

Vielmehr wurden die Gläubigerbanken vom Insolvenzantrag kalt erwischt, jetzt müssen sie sich wohl oder übel mit dem Gedanken anfreunden, dass ein Großteil der 1,75 Milliarden Euro, die sie dem Skandalkonzern geliehen haben, wahrscheinlich weg sind.

Zu der Bankengruppe, die Wirecard vor rund zwei Jahren die revolvierende Kreditlinie gewährten gehören rund 15 Institute, geführt wird sie von Commerzbank, Landesbank Baden-Württemberg und den beiden niederländischen Großbanken ABN Amro und ING. Nach Daten des Informationsdienstes Bloomberg haben diese Institute nominal jeweils rund 200 Millionen Euro im Feuer, bei der DZ Bank soll Wirecard mit 120 Millionen Euro in der Kreide stehen. Wirecard hatte die Linie nach Informationen des Handelsblatts zu 90 Prozent ausgeschöpft.

Sorge bei den Mitarbeitern

Unter den Wirecard-Mitarbeitern in der Zentrale in Aschheim ist jetzt die Sorge um die Zukunft groß. Zwar riegeln zwei Herren im Anzug mit den dunklen Sonnenbrillen den Eingang für Nicht-Mitarbeiter ab, den Redebedarf der vielen Mitarbeiter können aber auch sie nicht stoppen. „Der Dieselskandal bei VW hat mich damals echt mitgenommen, auch wegen des Schadens für die deutsche Wirtschaft“, sagt ein junger Mann im leichten Sakko in der Mittagspause. „Und jetzt arbeiten wir in einem Unternehmen, in dem auch so ein Riesen-Skandal passiert“.

Eine junge Kollegin wenige Meter vor ihm nimmt es dagegen lockerer. Auch wenn sie sich nun nach einem anderen Job umsehen muss. So ergebe sich nun ungewollt die Möglichkeit, etwas ganz zu probieren.

Allerdings gibt es unter den Wirecard-Mitarbeitern auch eine positivere Lesart der Nachricht. Finanzkreise verweisen darauf, dass der Insolvenzantrag nur für die Holding gilt, die Wirecard AG, mit lediglich 200 der über 5000 Mitarbeiter. Ob für Tochtergesellschaften überhaupt Insolvenz beantragt werden muss, wird derzeit geprüft.

Auch die Wirecard-Bank mit rund 150 Mitarbeitern ist vom Insolvenzantrag nicht betroffen. Für diese hat die Bafin bereits einen Sonderbeauftragten eingesetzt. Einen Insolvenzantrag für die Wirecard-Bank kann nur die Bafin stellen. Als wahrscheinlicher gilt ein sogenanntes Moratorium. In diesem Rahmen könnte die Bafin der Wirecard Bank unter anderem verbieten, Zahlungen zu leisten oder Vermögensgegenstände zu veräußern, das würde helfen die Bank vor dem Skandal beim Mutterkonzern abzuschirmen, und während dieser Zeit könnten die Kunden weiter auf die Dienste der Bank zugreifen.

In Finanzkreisen heißt es, dass sich Wirecard durch den Insolvenzantrag in eine ganz andere Verhandlungsposition gegenüber den Banken gebracht habe. Der einzusetzende Insolvenzverwalter könne in Zukunft Forderungen gegen Wirecard aus der Konkursmasse bedienen. Neu auszugründende Bereiche wären beim Verkauf an Interessenten jedoch von Altschulden freigestellt und vor Investorenklagen sicher.

Das Unternehmen gewinne nun Zeit für eine Restrukturierung, die angesichts der Kürze der Zeit ohne Insolvenzantrag sehr schwierig geworden wäre. Angesichts der hohen Liquiditätsanforderungen sei die Prognose für eine selbstständige Restrukturierung negativ ausgefallen, heißt es aus Finanzkreisen. Die Wirecard-Holding habe daher den Insolvenzantrag stellen müssen. In Aschheim hoffen viele, dass sich bald Investoren melden, die die werthalten Teile des Konzerns kaufen und weiterführen. Dann hätte zumindest ein Teil der Mitarbeiter Aussicht auf eine Weiterbeschäftigung.

In Frankfurt zweifeln manche an einem solch schnellen wie guten Ende. „Normalerweise bietet eine Insolvenz Chancen. Aber im Falle von Wirecard drohen aufgrund des Reputationsschadens jedoch viele Kunden abzuwandern. Damit dürfte auch ein gesundes Kerngeschäft nicht mehr veräußerbar sein. Die Verlierer wären dann neben den Aktionären die Gläubigerbanken“, sagt Volker Brühl, Geschäftsführer des Center for Financial Studies der Goethe-Universität.

Staatsanwaltschaft ermittelt

Am vergangenen Donnerstag hatte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) dem Zahlungsabwicklers das Testat für die Bilanz verweigert. Anschließend hatte der Konzern in einer Ad-hoc-Mitteilung eingeräumt, „dass die bisher zugunsten von Wirecard ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen“.

Wirecard steht bereits im Fokus der Strafverfolgungsbehörden. „Wir prüfen alle in Betracht kommenden Straftaten“, hatte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I am Montag gesagt. Der in der vergangenen Woche zurückgetretene ehemalige Vorstandsvorsitzende Markus Braun wurde bereits festgenommen und gegen Kaution aus der Haft entlassen. Auch gegen den langjährigen COO des Konzerns, Jan Marsalek, besteht ein Haftbefehl. Der Österreicher war am vergangenen Donnerstag von seinen Aufgaben freigestellt, am Montag dann fristlos entlassen worden.

Zudem läuft ein Ermittlungsverfahren gegen Braun und drei weitere Manager der Wirecard-Spitze wegen des Verdachts der Falschinformation von Anlegern in zwei Börsen-Pflichtmitteilungen.

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