Viele Großbanken sind lange davon ausgegangen, dass ein wilder Brexit vermieden wird. Mit der Wahl von Boris Johnson hat sich das geändert. Sie planen für den schlimmsten Fall.
Boris Johnson
Der britische Premierminister will am 31. Oktober die EU verlassen.
Bild: Polaris/laif
Frankfurt Das Ende naht. In 83 Tagen soll Großbritannien aus der EU ausscheiden. Geht es nach dem neuen Premierminister Boris Johnson, gibt es keine Verlängerung über den 31. Oktober hinaus. Der wortgewaltige Anführer der Brexiteers will Britannien möglichst schnell von der EU lösen. Der Ausstiegsvertrag soll nachverhandelt werden. Wenn das nicht gelingt, kommt es eben zum Hard Brexit, zum Ausscheiden ohne Deal.
Der Chef der Bank of England, Mark Carney, warnt bereits vor stark steigenden Lebensmittel- und Benzinpreisen. Und was politische Beobachter seit Langem befürchten, dämmert nun auch der Finanzwelt: Der Chaos-Brexit droht.
Wie eine Studie des Center for Financial Studies der Frankfurter Goethe-Universität zeigt, die dem Handelsblatt vorliegt, halten 86 Prozent der deutschen Finanzmanager einen harten Brexit für wahrscheinlich. 61 Prozent der Befragten fürchten, dass es in der Folge zu Marktverwerfungen kommt. Dennoch sagen 70 Prozent, dass die EU Johnson nicht weiter entgegenkommen sollte.
Zwar betonen viele Topbanker seit Langem, dass sie sich auf jeden Brexit-Ausgang vorbereiten. Insgeheim sind die meisten aber davon ausgegangen, dass es nicht zum Worst Case kommt, also dass ein Deal einen chaotischen EU-Ausstieg verhindert. Mit der Wahl Johnsons hat sich das geändert. Jetzt fürchten viele Banker, dass das bisherige Horrorszenario zum wahrscheinlichsten Ergebnis geworden ist.
Die Folge: Immer mehr Großbanken in Frankfurt planen um. Dabei wird zunehmend klar, dass die nötigen Anpassungen mit dem „Tag X“ nicht beendet sein werden – sondern dann erst beginnen.
„Wir gehen in unseren Planungen erst einmal vom extremsten Szenario aus – sprich einem Austritt ohne formelle Vereinbarung mit der EU“, sagte der neue Europachef der Citigroup, David Livingstone, dem Handelsblatt. „Das halten wir für einen umsichtigen Planungsansatz.“ Der Fokus liege darauf, für die Kunden bereit zu sein. „Und natürlich sind auch wir bis Ende Oktober in einer Art Warteschleife“, so der Topmanager.
Citi steht damit nicht allein: „Auf Basis unserer Analyse und gründlicher Abwägung haben wir uns dazu entschieden, von einem No Deal oder Hard Brexit als Basisszenario auszugehen, um sicherzustellen, unsere Aktivitäten im Worst Case weiterführen zu können“, erklärt Guido Zoeller, Deutschlandchef der französischen Großbank Société Générale.
Branchenvertreter stellen bereits klar, wer bei diesem Chaos-Szenario aus ihrer Sicht die Hauptverantwortung trägt. So warnt Hans-Walter Peters, Präsident des Bankenverbands: „Durch die Wahl des neuen Premierministers Boris Johnson ist die Wahrscheinlichkeit eines harten Brexits noch mal gestiegen, denn hier darf sich niemand täuschen: Die 27 EU-Staaten werden zu Recht nicht bereit sein, erneut mit den Verhandlungen von vorne anzufangen.“
Auch Marija Kolak, Präsidentin der Genossenschaftsbanken, verweist auf Johnson: „Die Rhetorik der neuen Regierung ist konfrontativ. Und ihre Vorstellung, den Austrittsvertrag nachzuverhandeln, ist unrealistisch.“ Einig sind sich beide: Ein No-Deal-Brexit bleibe „unverantwortlich“ – und hätte für Europas Banken „spürbare Folgen“.
Die Banken sind seit dem Brexit-Votum 2016 nicht untätig geblieben. Viele haben Vorkehrungen getroffen, um auch nach dem „Tag X“ ihre EU-Kunden bedienen zu können. So hat laut Zählung der Finanzaufsicht Bafin ein gutes Dutzend Banken seine EU-Zentrale nach Frankfurt verlagert.
Andere sind nach Dublin, Paris, Amsterdam oder Luxemburg ausgewichen. Das größte Risiko ist damit ausgeräumt: der drohende Verlust der sogenannten Passporting-Rechte, also der Erlaubnis, aus einem EU-Staat heraus Bankdienstleistungen in anderen Unionsländern anzubieten.
Oliver Behrens, Deutschlandchef der US-Investmentbank Morgan Stanley, sieht sein Haus dank der Verlagerung gewappnet: „Morgan Stanley hat alle Vorbereitungen bereits vor Monaten abgeschlossen. Die Morgan Stanley Europe SE hat ihren Hauptsitz in Frankfurt und bereits Anfang des Jahres alle nötigen regulatorischen Freigaben erhalten.“ Die Mitarbeiterzahl am Main wurde auf 300 verdoppelt. Im neuen Gebäude der EU-Zentrale ist sogar Platz für bis zu 600 Angestellte.
Auch CEO Zoeller glaubt: „Dank unserer Präsenz in Großbritannien und weltweit ist Société Générale gut aufgestellt, auch nach dem Brexit unsere Kunden zu betreuen – sowohl im Vereinigten Königreich als auch in der EU.“
Andere Institute geben sich zugeknöpfter. So teilt die französische Großbank BNP lapidar mit: „Brexit-Pläne und etwaige Auswirkungen kommentieren wir nicht.“ Das US-Haus JP Morgan schweigt, ebenso der Düsseldorfer Ableger der britischen HSBC. Manche Auslandsbanken machen in Frankfurt bisher nur Geschäft auf Sparflamme und prüfen die neuen Systeme und Abläufe. Der Großteil läuft weiter über London – eine Verlagerung des gesamten Geschäfts mit EU-Bezug wollen sie erst bei einem Hard Brexit angehen.
Doch Beobachter warnen davor, sich zu lange auf den Abschluss eines Last-Minute-Deals zu verlassen. Das könnte ein böses Erwachen mit sich bringen.
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