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09.09.2022

10:30

Inflation

Die Sorgen der Mittelschicht: „Die Anzahl an Menschen, die sparen können, wird sinken“

Von: Elisabeth Atzler, Andreas Kröner, Yasmin Osman

Die enormen Preissprünge treffen immer größere Teile der Bevölkerung. Das bedroht auch die Altersvorsorge vieler Menschen.

Dr. Cornelius Riese, Co-CEO der DZ Bank Marc-Steffen Unger für Handelsblatt

Cornelius Riese beim Handelsblatt Bankengipfel 2022

Der Co-Chef der genossenschaftlichen DZ Bank übernimmt ab Juli 2024 die alleinige Führung.

Frankfurt Energiekrise und Inflation werden zunehmend zur Bedrohung für den deutschen Durchschnittsbürger. Sparkassenpräsident Helmut Schleweis warnte am Donnerstag auf dem Banken-Gipfel des Handelsblatts vor dramatischen Folgen der erhöhten Lebenshaltungskosten.

„Die Krise und der Wohlstandsverlust kommen in der Mittelschicht an, die bislang nicht gewohnt war, Transferleistungen in Anspruch zu nehmen, und das zum Teil sogar abgelehnt hat“, sagte der Chef des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands.

Diesen Befund müsse man sehr ernst nehmen. Für Schleweis stellt sich die Frage, wie Notenbanken, Politik und Gesellschaft auf diese Krise reagieren. Auf die Gesellschaft komme eine Herausforderung zu, wie sie es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben habe.

Schleweis fürchtet, dass künftig 60 Prozent der deutschen Haushalte mit ihren monatlichen Einkommen ihre Ausgaben nicht mehr bestreiten können – oder sogar ins Minus rutschen. Das bedeute, dass auch Menschen mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 3600 Euro betroffen sind, rechnete der Verbandschef vor.

Der DSGV-Chef schließt nicht aus, dass der Kreis Betroffener künftig noch größer wird. Die Sparkassen sind führend im Geschäft mit privaten Kunden in Deutschland.

Mehr Privatinsolvenzen

Auch die genossenschaftliche DZ Bank warnt vor den Wohlstandsverlusten und beobachtet, dass Privatkunden wegen der hohen Inflation und der steigenden Energiekosten zusehends unter Druck geraten. Bei der Rückzahlung von Konsumentenkrediten – beispielsweise zum Kauf eines Fernsehers – hätten einige Kunden ihren Ratenplan für die Rückzahlung ausgesetzt oder die Rückzahlung auf einen längeren Zeitraum gestreckt, sagte DZ-Co-Chef Cornelius Riese.

Er rechnet damit, dass sich die Situation in den kommenden Monaten noch zuspitzen werde. Die DZ Bank ist das Zentralinstitut der rund 770 Volks- und Raiffeisenbanken, der genossenschaftliche Sektor erreicht nach den Sparkassen den zweitgrößten Marktanteil im Privatkundengeschäft.

„Die verfügbaren Haushaltseinkommen werden sinken. Die Anzahl an Menschen, die sparen können, wird sinken“, sagte Riese. Zudem werde es mehr Privatinsolvenzen geben. In so einem Fall sind Privatleute überschuldet. Sie haben so viele Kredite aufgenommen, dass sie die Schulden und Zinsen nicht begleichen können.

Damit mehren sich die Warnungen vor einer Überschuldung. Auch die Wirtschaftsauskunftei Schufa, die den deutschen Geldhäusern gehört, zeigte sich besorgt.

„Da braut sich definitiv etwas zusammen“, warnte Schufa-Chefin Tanja Birkholz. Ein Teil der Verbraucherinnen und Verbraucher nimmt bereits Kredite für den Lebensunterhalt auf. Auch das dürfte zunehmen: „Es ist ein Mittelbedarf da“, und der sei nun öfter nicht für eine lange Reise, „sondern deutlich existenzieller“, sagte Birkholz.

Einlagenwachstum stoppt

Zahlen der Sparkassen weisen darauf hin, dass ein Teil der Deutschen seine Ersparnisse aufzehrt. Bei den gut 360 Sparkassen erhöhten sich die Guthaben der Kunden im ersten Halbjahr 2022 nur noch um 600 Millionen Euro.

Im gleichen Zeitraum 2021 waren den Sparkassen noch 25 Milliarden Euro zugeflossen – ein Rückgang um 98 Prozent. Im ersten Halbjahr 2020 hatten die Mittelzuflüsse sogar noch bei fast 30 Milliarden Euro gelegen.

Sparkasse dpa

Sparkasse

Aufgrund der derzeitigen Krisensituation haben viele Sparkassen einen Rückgang der Einlagen zu verzeichnen.

Neben der Preissteigerung dürfte ein Grund für den Rückgang der Einlagen sein, dass viele Menschen in der Coronapandemie besonders viel gespart haben und mit Ende der meisten Einschränkungen wieder mehr ausgeben, zum Beispiel für den Urlaub. Ob die Sparkassen – wie in der Coronakrise – wieder Kunden unterstützen müssen, indem sie beispielsweise Zinsen stunden und Tilgungen aussetzen, ist noch unklar.

Derzeit gebe es noch keine übermäßige Inanspruchnahme von Dispokrediten und Kreditlinien, sagte Schleweis. Nur Indikatoren wie die rückläufigen Einlagenzuwächse deuten darauf hin, dass die Kunden ihr Geld für andere Dinge ausgeben müssen. Die Sparkassen würden sich als Gruppe aber insgesamt darauf vorbereiten, dass, „wenn unsere Hilfe tatsächlich gefragt ist, wir sehr flexibel reagieren können“.

Altersvorsorge wird schwierig

Der wachsende finanzielle Druck auf viele Bürger wirke sich auch negativ auf deren Altersvorsorge aus, betonte Riese. „Wenn wir in drei Jahren zurückschauen, dann werden wir feststellen, dass für breite Teile der Bevölkerung das Altersvorsorgeproblem an Relevanz gewonnen hat.“ Sparkassenpräsident Schleweis teilte diese Sorgen.

Riese wies zudem darauf hin, dass vermögendere Privatkunden dank der Zinswende künftig wieder Zinsen auf ihre Einlagen erhalten, während eine steigende Zahl von Menschen gar nicht mehr sparen könne. Dadurch gehe die gesellschaftliche und wirtschaftliche Schere weiter auseinander. Aus Sicht des DZ-Bank-Co-Chefs müssen Wirtschaft und Politik deshalb alles dafür tun, den sozialen Zusammenhalt zu bewahren.

Mehr zum Banken-Gipfel des Handelsblatts:

Dass es bisher im Privatkundengeschäft kaum Ausfälle gibt, führt Riese unter anderem darauf zurück, dass viele Menschen noch von den Ersparnissen zehren, die sie während der Coronakrise aufgebaut haben. Zudem seien die Mietnebenkosten noch nicht so stark gestiegen – das werde erst in den kommenden Monaten passieren. Viele Menschen hätten bereits ihr Konsumverhalten anpasst.

„Der Weg der Kunden geht häufiger zu den billigeren Lebensmitteln und nicht in den Ökomarkt.“ Zur DZ Bank gehören unter anderem der Ratenfinanzierer Teambank und die Fondsgesellschaft Union Investment.

Nicht nur die Privatkunden, auch kleinere, energieintensive Unternehmen stehen laut Riese vor großen Herausforderungen. „Für dieses Herz der deutschen Wirtschaft werden die nächsten Monate besonders hart.“ Bei Selbstständigen und kleinen Unternehmen mit zehn bis 40 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von unter 50 Millionen Euro steige die Zahl der Insolvenzen bereits.

Sorge um kleine Firmen

Zudem gebe es eine Dunkelziffer, weil einige Firmenpleiten aus juristischen Gründen als Privatinsolvenzen verbucht würden. Darüber hinaus komme es zu zahlreichen freiwilligen Betriebsschließungen. „Viele sagen einfach: ‚Corona habe ich noch ertragen, aber jetzt habe ich keine Lust mehr‘“, berichtet der DZ-Bank-Manager.

Größere Unternehmen stehen tendenziell besser da, weil sie oft die Möglichkeit haben, Industrieproduktion an andere Standorte im Ausland zu verlagern. Dadurch würden Unternehmen zwar stabilisiert, aber es bestehe die Gefahr, dass es zu einer schleichenden Deindustrialisierung der Bundesrepublik komme, warnte Riese.

„Die Frage ist: Werden wir in drei Jahren zurückschauen und sagen: Damals hat der industrielle Kern Deutschlands zu erodieren begonnen?“ Es bestehe auch die Gefahr, dass ausländische Investoren in Deutschland nicht mehr in energieintensiven Branchen investieren.

Schleweis sorgt sich ebenfalls um kleinere, energieintensive Betriebe. Eine Pleitewelle in der deutschen Wirtschaft könne man nicht ausschließen, sagte er. Ob es dazu komme, hänge auch davon ab, welche Hilfen der Staat noch mobilisieren könne. „Wir sehen in unseren Risikosystemen noch nichts, was anschlägt“, betonte Schleweis. Aber es werde sicher Firmen geben, die mit dieser Krise nur schwer umgehen können.

Die Banken können aus Schleweis’ Sicht mit den Folgen der aktuellen Turbulenzen umgehen. „Ich sehe nicht, dass eine Bankenkrise bevorsteht.“ Insgesamt seien die mittelständischen Firmen mit im Schnitt 40 Prozent Eigenkapital gut aufgestellt. Und über alle drei Sektoren – Sparkassen, Genossenschaftsbanken, private Banken – „ist die Eigenkapitalausstattung sehr ordentlich und krisenfest“.

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