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23.06.2020

18:22

Verdacht auf Bilanzfälschung

Justiz schlägt bei Wirecard zu – Neue Führung verhandelt unter Hochdruck mit Gläubigerbanken

Durch die erste Verhaftung beginnt ein neues Kapitel im Wirecard-Krimi. Aufseher und Prüfer geraten unter Druck. Der frühere Partner Softbank verteidigt sich.

Finanzdienstleister

Ehemaliger Wirecard-Chef festgenommen

Finanzdienstleister: Ehemaliger Wirecard-Chef festgenommen

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Frankfurt, München Es war ein großer Auflauf vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft München am Dienstagmittag in der Linprunstraße. Die Ermittler hatten Corona-konform zu einer Pressekonferenz unter freiem Himmel eingeladen. Es ging um die Nachricht des Tages: die Festnahme des langjährigen Wirecard-Chefs Markus Braun im Zuge des Bilanzskandals bei dem Zahlungsdienstleister.

„Wir haben gestern Abend den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Dr. Markus Braun hier in München festgenommen, nachdem er aus Wien angereist ist“, erklärte Oberstaatsanwältin Anne Leiding. Er habe sich selbst gestellt, nachdem er erfahren habe, dass es einen Haftbefehl gebe. Braun habe in einem ersten Gespräch seine Mitarbeit zugesagt.

„Wir führen derzeit Ermittlungen wegen des Verdachts der unrichtigen Angaben und der Marktmanipulation“, erklärte Leiding die Hintergründe. Am frühen Nachmittag wurde Braun der Ermittlungsrichterin vorgeführt, die den Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug setzte. Braun muss unter anderem eine Kaution von fünf Millionen Euro zahlen und sich wöchentlich bei der Polizei melden.

Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, die Bilanzsumme und das Umsatzvolumen „durch vorgetäuschte Einnahmen aus Geschäften“ mit Drittpartnern aufgebläht zu haben, um so Wirecard „finanzkräftiger und für Investoren und Kunden attraktiver darzustellen“. Für das Strafmaß werde es im Wesentlichen darauf ankommen, um wie viele Fälle es sich handele, etwa, wie oft unrichtige Bilanzen dazu benutzt worden seien, um Kredite bei anderen Banken zu bekommen.

Im Fokus steht das Asiengeschäft, für das der zu Wochenbeginn entlassene Wirecard-Vorstand Jan Marsalek zuständig war. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt. Ob gegen Marsalek ebenfalls Haftbefehl ergangen ist, wollte die Staatsanwaltschaft am Dienstag weder bestätigen noch dementieren. Strafrechtler halten das aber für wahrscheinlich. Sein Verteidiger wollte sich auf Anfrage nicht dazu äußern, ob auch Marsalek mit den Ermittlern kooperiere.

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Mit der vorübergehenden Verhaftung Brauns, der den Konzern bis zu seinem Rücktritt am vergangenen Freitag rund 20 Jahre lang prägte, spitzt sich der Krimi um Wirecard weiter zu: Für einen Haftbefehl benötigt die Staatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht. Den sahen die Ermittler mit der jüngsten Ad-hoc-Mitteilung vom Montag gegeben.

Auch die Finanzaufsicht BaFin legt bei ihrer Strafanzeige gegen Wirecard wegen des Verdachts der Marktmanipulation nach. „Wir haben heute eine Nachtrags-Anzeige bei der Staatsanwaltschaft München I wegen des Verdachts der Marktmanipulation erstattet“, sagte eine BaFin-Sprecherin am Dienstagabend.

In der Ad-hoc-Mitteilung hatte der Konzern eingeräumt, „dass die bisher zugunsten von Wirecard ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen“. Damit steht ein Viertel der Bilanzsumme infrage. Die Wachstumsstory, mit der Wirecard bei Anlegern punktete und die den Konzern 2018 bis in den Dax trug, könnte in sich zusammenfallen. Außerdem hatte der Konzern eingeräumt, dass die bisherige Beschreibung des sogenannten Drittpartnergeschäfts durch die Gesellschaft „unzutreffend“ sei.

Wirecard hält in Ländern vor allem in Ostasien keine eigenen Lizenzen, sondern bedient sich Drittpartnern. Um diese gegenüber Ausfällen abzusichern, wurden nach offizieller Darstellung die Treuhandkonten bei zwei philippinischen Banken eingerichtet. Entsprechende Belege erwiesen sich jedoch als gefälscht. Nun ist es möglich, dass die Konstruktion lediglich der Aufblähung des Konzernvermögens – analog zum starken Umsatz- und Gewinnwachstum in Ostasien – diente.

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Der neue Vorstandschef James Freis, den Wirecard von der Deutschen Börse abgeworben hatte, verhandelt unterdessen zusammen mit Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann unter Hochdruck mit den Gläubigerbanken. Diese sind für die wirtschaftliche Zukunft Wirecards entscheidend. Aus ihrem Umfeld hieß es am Dienstag, es liefen weiter konstruktive Gespräche über einen sogenannten Waiver. Dabei würden die Banken die Auflagen für eine bestehende Kreditlinie von 1,75 Milliarden Euro vorübergehend aussetzen.

Eigentlich dürfte das Konsortium die Linie sofort kündigen, weil Wirecard über keine testierte Bilanz für das Jahr 2019 verfügt. Bei dem Waiver gehe es allerdings noch nicht um eine Entscheidung über die langfristige Zukunftsfähigkeit von Wirecard, hieß es. Ziel sei es stattdessen, sich ein paar Tage oder Wochen Zeit zu verschaffen, um zu prüfen, wie viel Kapital und Liquidität nach den Enthüllungen der vergangenen Tage tatsächlich noch vorhanden sind. Alle darüber hinausgehenden Entscheidungen könnten erst getroffen werden, wenn ein detaillierter Überblick über die Finanzlage vorliege.

Druck auf die Aufsicht

Unterdessen wird die Kritik an der deutschen Finanzaufsicht Bafin immer lauter. Deren Chef Felix Hufeld hatte am Montag bereits öffentlich Selbstkritik geübt und den Fall Wirecard als eine „Schande für Deutschland“ bezeichnet.

Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), der sich zu diesem Zeitpunkt noch hinter die Bafin gestellt hatte, schlug nun nach der Festnahme Brauns andere Töne an: „Kritische Fragen“ stellten sich auch bei der Aufsicht über das Unternehmen, „insbesondere mit Blick auf die Rechnungslegung und die Bilanzkontrolle“, betonte er am Dienstag. „Hier scheinen Wirtschaftsprüfer wie Aufsichtsbehörden nicht effektiv gewesen zu sein.“

„Die Bafin hat eigene Fehler bereits eingeräumt, sie müssen schleunigst identifiziert und abgestellt werden“, forderte Scholz und stellte schärfere Regeln in Aussicht. „Wir müssen schnell klären, wie wir unsere regulatorischen Vorschriften ändern müssen, um auch komplexe Unternehmensgeflechte flächendeckend, zeitnah und schnell überwachen zu können.“ Schon in der kommenden Woche droht Bafin-Chef Hufeld eine schwere Prüfung. Dann wird er dem Finanzausschuss des Bundestags Rechenschaft ablegen müssen.

Auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) forderte eine rasche Aufklärung und warnte vor einem Imageverlust. „Es ist mir ganz wichtig, dass sich ein solcher Fall mit Blick auf das Vertrauen in den Bankenstandort Deutschland so schnell nicht wiederholt“, sagte Altmaier dem Portal „T-Online“. „Wir hätten eine solche Situation überall erwartet – nur nicht in Deutschland.“

Er steht mit Ex-CEO Markus Braun im Zentrum des Skandals. Wirecard

Wirecards Ex-Vorstand Jan Marsalek

Er steht mit Ex-CEO Markus Braun im Zentrum des Skandals.

Die Untätigkeit der deutschen Aufsicht bei Wirecard bereitet offenbar auch der EU-Kommission Sorgen. Den Fall direkt kommentieren wollte die Behörde zwar nicht. Doch sie wies nachdrücklich auf die Bedeutung einer strikten Finanzaufsicht hin. „Die Wirksamkeit der EU-Regeln hängt davon ab, dass Aufsichtsbehörden eine gute Übersicht über die Aktivitäten der Marktteilnehmer haben“, sagte ein Sprecher der Kommission auf Anfrage. Eine effiziente Finanzaufsicht sei „entscheidend“ für die „finanzielle Stabilität in der EU“. Aber natürlich auch für Deutschland, wie der Direktor der Brüsseler Denkfabrik Bruegel, Guntram Wolff, betonte: „Eine laxe Aufsicht ist langfristig ein Standortnachteil.“

Neben den Aufsehern rücken auch die Wirtschaftsprüfer in den Fokus. Im Europaparlament forderten Grüne und Liberale gemeinsam Konsequenzen. „Die EU-Regeln für die Abschlussprüfung müssen so geändert werden, dass Abschlussprüfer nicht mehr direkt vom geprüften Unternehmen ausgewählt und bezahlt werden“, sagte der EU-Abgeordnete Sven Giegold von den Grünen.

Wichtige Partnerschaft

Angesichts des Skandals gerät auch der Wirecard-Partner Softbank in den Fokus. Der Technologieinvestor war 2019 mit einer 900 Millionen Euro schweren Wandelanleihe bei Wirecard eingestiegen, die er nach fünf Jahren in Aktien hätte umtauschen können. Für Anleger war die Partnerschaft mit Softbank ein Vertrauensbeweis, galt sie doch als Beleg für die Solidität des Konzerns.

Als avisierter Ankerinvestor sollte Softbank Wirecard mit zahlreichen seiner Portfoliounternehmen vernetzen, was das Transaktionsvolumen weiter hätte steigern können. Softbank hatte die Anleihe kurz nach Abschluss des Deals am 18. September auf dem Sekundärmarkt weiterverkauft und ist daher trotz des Absturzes mit einem kleinen Gewinn aus dem Engagement herausgekommen.

Das Management ist laut Informationen des Handelsblatts höchst verärgert über den Skandal, der auch die eigene Reputation gefährdet. Man habe sich auf das Urteil der Aufseher, der Wirtschaftsprüfer und einer großen Ratingagentur verlassen, heißt es aus dem Softbank-Umfeld. Reiche das nicht mehr aus, kämen weitere Investments in Deutschland nicht infrage.

Laut Insidern hatte Softbank einen zentralen Anteil an der Entscheidung Brauns, trotz anfänglicher Ablehnung die Bilanzsonderprüfung durch KPMG zu beauftragen, die letztlich auch den langjährigen Konzernprüfer EY auf die richtige Spur brachte.

In einem Schreiben vom 18. Oktober 2019, das dem Handelsblatt vorliegt, übte Softbank diplomatisch formuliert deutlichen Druck auf Braun aus. „Hallo Markus“, heißt es darin. „Der Einfachheit halber haben wir nachfolgend die Vorgehensweise aufgeführt, die Du und der Vorstand dringend prüfen müssen. Wie im Videoanruf besprochen, glauben wir, dass diese Schritte dazu beitragen können, die Vorwürfe gegen das Unternehmen ein für alle Mal aufzulösen.“

In der Folge zählt Softbank sechs Punkte auf, darunter die Benennung eines Untersuchungsgremiums, das vollen Zugang zu allen Dokumenten hat, die Berufung einer der großen vier Wirtschaftsprüfer, nicht jedoch EY, und die Veröffentlichung der Ergebnisse. Wirecard hatte danach genau das angekündigt.

Offiziell will Softbank Investment Advisers die Hintergründe der Einmischung nicht erklären. Ein Sprecher sagte lediglich: „Vorwürfe gegen das Unternehmen, die nach der Veröffentlichung der testieren Jahresbilanz 2018 weiter anhielten, sowie unser Investment haben uns dazu veranlasst, auf eine unabhängige Prüfung zu drängen.“ Diese habe dazu beigetragen, den jahrelang unentdeckt gebliebenen offenkundigen Betrug aufzudecken.

Auch wenn die Vernehmung des Ex-CEO neue Einsichten bringen könnte – zunächst dürften die Unsicherheiten rund um Wirecards Zukunft weiter zunehmen, glaubt Volker Brühl, Geschäftsführer des Center for Financial Studies der Frankfurter Goethe-Universität. „Die Gefahr ist, dass bislang zufriedene Kunden kündigen, weil sie Störungen im Zahlungsverkehr befürchten. Wirecard braucht jetzt ein Independent Business Review einer unabhängigen Strategieberatung, um herauszufinden, ob es lebensfähige Teile des Geschäfts gibt.“

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