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25.06.2020

16:21

Zahlungsdienstleister

Wirecard-Insolvenz verschärft Druck auf Aufseher – EY sieht ausgeklügeltes Betrugssystem

Von: Elisabeth Atzler, Felix Holtermann, Susanne Schier, Dietmar Neuerer

Im Skandal um den Dax-Konzern wird der Ruf nach Aufklärung immer lauter. Zunächst wird der Konzern weiter im Leitindex bleiben. Viele Kunden suchen bereits nach Alternativen.

Dem Zahlungsdienstleister fehlen nicht nur Milliarden, es droht auch der Absprung von vielen Kunden. dpa

Wirecard vor der Pleite

Dem Zahlungsdienstleister fehlen nicht nur Milliarden, es droht auch der Absprung von vielen Kunden.

Frankfurt, Berlin Die Insolvenz des Dax-Konzerns Wirecard sorgt für teils heftige Reaktionen. Die Kritik an der Finanzaufsicht Bafin, der Deutschen Börse und den für Wirecard zuständigen Wirtschaftsprüfern von Ernst &Young (EY) wächst. Der Ruf nach personellen Konsequenzen wird lauter.

So sagte der Finanzexperte und Vizevorsitzende der Linksfraktion, Fabio De Masi, der in der Vergangenheit zahlreiche kritische parlamentarische Anfragen zu Wirecard gestellt hat: „Der Insolvenzantrag von Wirecard ist ein Fiasko für den Finanzplatz Deutschland. Sollten größere Summen bei der Commerzbank abgeschrieben werden müssen, wird Wirecard auch zur Belastung für die Steuerzahler. Bei der Finanzaufsicht müssen daher Köpfe rollen. Das Haftungsprivileg der Wirtschaftsprüfer gehört außerdem endlich abgeschafft.“

Der Vorstand von Wirecard hatte am Vormittag einen Insolvenzantrag wegen Überschuldung und drohender Zahlungsunfähigkeit angekündigt – eine Woche nach der Verschiebung der Jahresbilanz für 2019, die der erste Akt in dem einwöchigen Drama gewesen war.

Der rechts- und verbraucherpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Jan-Marco Luczak (CDU), forderte rückhaltlose Aufklärung. „Wir müssen jetzt lückenlos aufklären, an welcher Stelle Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, unternehmerische Kontrollgremien wie der Aufsichtsrat und auch staatliche Aufsichtsbehörden ihren Aufgaben und Pflichten nicht nachgekommen sind und in welchen Bereichen Lücken in der Regulierung bestehen“, sagte Luczak.

Diese müssten dann „umgehend“ geschlossen werden. „Sollte sich in diesem Zusammenhang der Verdacht von kriminellen Machenschaften und auf Bilanzfälschung bei Wirecard bestätigen, muss dies mit allen Konsequenzen aufgedeckt und strafrechtlich verfolgt werden“, betonte der CDU-Politiker.

Luczak sprach im Fall Wirecard von einem „Desaster“ für die vielen Kleinanleger in Deutschland. „Sie haben sich bei ihrer Anlageentscheidung auch auf die strengen regulatorischen und gesetzlichen Vorgaben verlassen, die in Deutschland für börsennotierte Gesellschaften und insbesondere für Unternehmen im deutschen Leitindex Dax gelten“, sagte er. Der Niedergang des Konzerns sei einmalig in der Geschichte des Dax und werfe viele Fragen auf, die nun „dringend und umfassend zu beantworten sind, um Vertrauen in den Finanzstandort Deutschland wiederherzustellen“.

EY wehrt sich gegen Vorwürfe

Der langjährige Bilanzprüfer von Wirecard, EY, rechtfertigte sich nach Bekanntwerden der Insolvenz angesichts der Vorwürfe. Er sieht einen weltumspannenden Betrugsfall. „Es gibt klare Anzeichen dafür, dass das ein aufwendiger und ausgeklügelter Betrug war, in den unterschiedlichste Parteien rund um die Welt aus verschiedenen Institutionen involviert waren, mit dem Ziel der Täuschung“, heißt es in einer Stellungnahme der Deutschland-Tochter von EY vom Donnerstag.

Solche betrügerischen Absprachen, die mit hohem Aufwand falsche Fährten zu Dokumenten legten und auf eine Täuschung von Anlegern und Öffentlichkeit abzielten, ließen sich selbst mit den besten und aufwendigsten Prüfmethoden nicht aufdecken, erklärte das Unternehmen, das zu den vier größten Wirtschaftsprüfern in Deutschland gehört.

EY habe während der Prüfung der 2019er-Bilanz aufgedeckt, dass Bestätigungen zu den Treuhandkonten falsch waren. „Das wurde an die zuständigen Behörden, den Vorstand und den Aufsichtsrat des Unternehmens gemeldet.“

Anlegervereinigung spricht von „Katastrophe“

Für den Hauptgeschäftsführer der Anlegervereinigung DSW, Marc Tüngler, ist die aktuelle Entwicklung „eine Katastrophe“. Im Hinblick auf Wirecard-Vorstand und -Aufsichtsrat, Wirtschaftsprüfer und behördliche Aufsicht durch die Bafin kritisierte Tüngler: „Bei Wirecard hat das System versagt.“

„Dieser Fall muss komplett aufgeklärt werden, damit wir daraus lernen können“, sagte Tüngler dazu. „Das darf nicht wieder so laufen wie bei Volkswagen, dass sich das jahrelang hinzieht und dann mit einer Geldbuße endet.“

Im Mittelpunkt des Skandals stehen mutmaßliche Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro. Für Anleger ist der bevorstehende Insolvenzantrag eine schlechte Nachricht: „Die Aktionäre sind bei einem Insolvenzverfahren mit ihren Ansprüchen die Letzten in der Reihe.“

Der Fall Wirecard sei „von der Dimension her sehr schwer zu greifen“, meinte der DSW-Hauptgeschäftsführer. „In diesem Umfang und Ausmaß hat es das bei einem Dax-Konzern noch nie gegeben, innerhalb von einer Woche in die Insolvenz.“ Die Schnelligkeit der Entwicklung deute darauf hin, „dass die Probleme noch sehr viel größer sind als bisher bekannt“.

Tüngler war nicht der Einzige, der neben der Bafin auch den Wirtschaftsprüfer EY sowie die Deutsche Börse kritisierte. „Der Fall Wirecard ist singulär in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. So ein Ereignis habe ich noch nicht erlebt“, sagt etwa der deutsche Corporate-Governance-Experte Christian Strenger.

Zahlreiche Indizien für Betrug

„Es gibt zahlreiche Indizien für einen großen Betrug. Sollte sich erweisen, dass EY nicht sauber gearbeitet hat, könnte der Fall eine Nähe zu Enron aufweisen“, so Strenger in Anspielung auf die Pleite des US-Energiekonzerns im Jahr 2001. „Nun ist klar, warum die langjährige Konzernführung um Markus Braun sich sehr wahrscheinlich gegen einen Wechsel zu einem Wirtschaftsprüfer, der genauer hingeschaut hätte, ausgesprochen hat.“

Strenger zufolge ist auch die Deutsche Börse in der Pflicht, Lehren aus dem Fall zu ziehen. In den vergangenen Tagen hätten beispielsweise Indexfonds auf den Dax weiterhin Wirecard-Aktien gekauft – trotz der spätestens seit Donnerstag bekannten gravierenden Probleme. „Es kann nicht sein, dass ein Unternehmen wie Wirecard, das 90 Tage nach Ende der Frist immer noch keine testierte Bilanz vorlegen kann, weiter im Dax verbleibt. Das beschädigt den Qualitätsindex der Deutschen Börse.“

Lediglich die Prüfung von Sanktionen anzukündigen, wie im Fall Wirecard geschehen, reiche nicht, sagte Strenger. „Die Börse muss dafür sorgen, dass bei ihr Verstöße gegen den deutschen Governance-Kodex zeitnah geahndet werden und spätestens nach weiteren 30 Tagen bei andauernder Nichtvorlage des Geschäftsberichts ein Ersatz im Index stattfindet“, mahnte Strenger.

Es sei das erste Mal in der mehr als 30-jährigen Geschichte des Dax, dass ein Mitglied des Leitindexes Insolvenz anmeldet, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Laut Regelwerk dürfte Wirecard trotzdem bis zur nächsten regulären Überprüfung im September im Dax bleiben. Denn der Insolvenzantrag an sich ist noch kein Grund für einen sofortigen Rauswurf.

Unter Punkt 5.1.1 heißt es: „Unternehmen, für die ein Insolvenzverfahren mangels Masse abgelehnt wird oder die sich in Liquidation befinden, werden sofort aus den entsprechenden Auswahlindizes entfernt.“ Im Gegensatz dazu werden Unternehmen, die einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt haben, erst im Zuge der nächsten vierteljährlichen Überprüfung der Indexzusammensetzung aus den Auswahlindizes gestrichen. Dies gilt auch, wenn das Insolvenzverfahren eröffnet wurde.

Wirecard-Kunden suchen Ersatzdienstleister

Bei einigen Wirecard-Kunden hat unterdessen die Suche nach einem Ersatzdienstleister für ihren Zahlungsverkehr bereits begonnen. Der Markt ist stark umkämpft, was für die Händlerkunden angesichts der Wirecard-Krise gut ist. Sie können rasch zu einem anderen Zahlungsdienstleister wechseln – auch wenn das unter Umständen technisch anspruchsvoll und nicht binnen Tagen erledigt ist.

Gleichwohl gilt Wirecards Bedeutung für den deutschen Markt als vergleichsweise klein. Das ist vor allem beim Bezahlen an der Ladenkasse so. Horst Rüter, Zahlungsexperte des EHI Handelsforschungsinstituts, sagte dazu: „Wir haben relativ wenige Unternehmen, die im stationären Bereich mit Wirecard zusammenarbeiten.“ Das liegt auch daran, dass Wirecard Zahlungen mit der zusehends genutzten Girocard, besser bekannt unter ihrem alten Namen „EC-Karte“, selbst nicht abwickeln kann.

Die Coronakrise hat dafür gesorgt, dass viele Verbraucher mehr mit Karte und weniger mit Bargeld zahlen. Das EHI rechnet damit, dass der Anteil der Kartenzahlungen am Umsatz gemessen bis 2022 auf rund 58 Prozent steigt. Zuletzt lag er bei knapp 51 Prozent.

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