Erster Strategiewechsel seit fast 20 Jahren: Die EZB peilt mit zwei Prozent nun eine etwas höhere Teuerungsrate an und will zudem vorübergehende Überschreitungen dieses Ziels tolerieren.
EZB-Chefin Christine Lagarde
Die EZB-Chefin, hier ein Archivbild aus Juni, verantwortet die erste große Strategieänderung der Zentralbank seit zwei Jahrzehnten.
Bild: Bloomberg
Frankfurt Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihre Strategieüberprüfung beendet. Die wichtigste Änderung: Das Inflationsziel wird angepasst. Die Währungshüter peilen mit zwei Prozent nun eine etwas höhere Teuerungsrate an und wollen zudem vorübergehende Überschreitungen dieses Ziels tolerieren. Das gab die EZB am Donnerstag bekannt.
Die EZB, die 1998 gegründet wurde, hatte bei der Inflation zunächst zwei Prozent als oberen Wert definiert. Im Jahr 2003, im Rahmen einer strategischen Überprüfung unter maßgeblicher Beteiligung des damaligen Chefvolkswirts Otmar Issing, wurde daraus dann die bisherige, etwas umständliche Formulierung von „nahe an, aber unter zwei Prozent“. Manche Währungshüter hatten zuletzt bemängelt, diese Formulierung verleite zu der Interpretation, zu hohe Inflationsraten bereiteten der Notenbank mehr Sorgen als zu niedrige.
„Die neue Formulierung macht klar, dass zwei Prozent keine Obergrenze sind,“ sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde in ihrer Pressekonferenz. Mit dieser symmetrischen Auslegung des Inflationsziels bricht die EZB mit einer wesentlichen Tradition der alten D-Mark-Bundesbank, vor allem eine zu hohe Inflation bekämpfen zu wollen. Ausdrücklich heißt es jetzt sogar, dass die Preissteigerung für einen gewissen Zeitraum das Ziel moderat übertreffen darf. Das könnte es der EZB erlauben, eine länger anhaltende ultra-lockere Geldpolitik zu verfolgen.
In der Diskussion des EZB-Rats, der aus sechs Direktoren und den 19 Chefs der nationalen Euro-Notenbanken besteht, waren Meinungsverschiedenheiten in der Frage spürbar, wie lange, wie weit und unter welchen Bedingungen das Inflationsziel überschritten werden kann. Die jetzt gefundene Kompromissformel lautet: „Wenn die Wirtschaft sich am unter Ende der nominale Zinsskala bewegt, erfordert das eine besonders kraftvolle oder ausdauernde Geldpolitik, um zu verhindern, dass eine Inflation unterhalb des Ziels zur Gewohnheit wird. Das kann für vorübergehende Zeit auch moderate Überschreitung des Inflationsziels bewirken.“
Die Idee, nach amerikanischem Vorbild nach einer längeren Zeit zu niedriger Inflation eine entsprechend höhere Inflation anzustreben, ist dagegen nicht explizit erkennbar, obwohl es dafür auch bei einigen Ratsmitgliedern Sympathie gegeben hat. Neben der Neudefinition des Inflationsziel hat sich der EZB-Rat aber auch geeinigt, künftig Wohnkosten stärker bei der Inflationsberechnung zu berücksichtigen und einen Aktionsplan zum Klimaschutz vorzulegen.
Ein Überblick über weitere wichtige Anpassungen:
Eine weitere wichtige Neuerung ist, dass die EZB die Kosten des Wohnens im Eigentum künftig in der Inflationsmessung berücksichtigen will. Bislang fließen im Euroraum lediglich Mieten ein. Dadurch machen Wohnkosten im europäischen Inflationsindex einen vergleichsweise geringen Anteil aus. Für viele Haushalte sind sie aber der wichtigste Ausgabenposten. Außerdem steigen die Preise für Immobilien in einigen Euro-Ländern wie Deutschland, Frankreich und den Niederlanden deutlich. Das sorgt für Debatten, dass die Inflationsrate zu niedrig ausgewiesen wird. Um solchen Vorwürfen entgegenzutreten und sich stärker an der Lebenswirklichkeit der Menschen zu orientieren, will die EZB das nun ändern.
Die Umsetzung ist aber in der Praxis kompliziert. Zum einen sind Häuser und Wohnungen auch Vermögenwerte. Menschen kaufen Häuser nicht nur, um darin zu wohnen, sondern auch, um wie bei Aktien oder Anleihen Wertsteigerungen damit zu erzielen. In die Inflationsrate sollen aber keine Vermögenspreise einfließen. Außerdem braucht man zeitnahe Werte für die Schätzung der Kosten für selbst genutztes Wohnen.
Zuständig ist außerdem nicht die EZB selbst, sondern das europäische Statistikamt Eurostat. Die Änderungen muss die EU-Kommission auf den Weg bringen - mit Zustimmung der EU-Staaten. Dies kann Jahre dauern. Bis dahin will sich die EZB damit behelfen, dass sie auf ihren geldpolitischen Sitzungen Inflationsmaße heranzieht, die bereits jetzt die Kosten des Wohnens im Eigentum berücksichtigen.
Ein umstrittenes Thema ist auch die Rolle der EZB im Kampf gegen den Klimawandel. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat sich das Thema seit ihrem Amtsantritt auf die Fahne geschrieben. Beschlossen hat die EZB nun einen Aktionsplan zu dem Thema.
Dabei geht es unter anderem darum, transparenter zu machen, wie Unternehmen von den Risiken des Klimawandel betroffen sind. Das würde den Weg ebnen, um diese bei den Käufen von Unternehmensanleihen stärker zu berücksichtigen und bei den Sicherheiten, die die EZB für ihre Refinanzierungsgeschäfte akzeptiert. Das könnte dazu führen, dass die EZB weniger Papiere von Unternehmen kauft, die besonders CO2 intensiv produzieren. Oder die Abschläge auf Anleihen solcher Unternehmen erhöht, wenn sie als Sicherheiten für Refinanzierungsgeschäfte hinterlegt werden.
Auf diesem Weg könnte sie künftig beim Kauf von Wertpapieren mit Hinweis auf den Schutz ihrer Bilanz zum Beispiel Anleihen von Unternehmen mit hohem Anteil an klimaschädlichem Geschäft meiden. Dieser Argumentation verschließen sich auch Kritiker einer „grünen“ Geldpolitik, wie etwa der Wirtschaftsweise Volker Wieland, nicht grundsätzlich . Mauricio Vargas von Greenpeace geht der Wandel allerdings nicht schnell genug. Er kommentiert: „Um den Beschlüssen Glaubwürdigkeit zu verleihen, muss die EZB sie zügig umsetzen. So sollte sie klimaschädliche Unternehmen im Anleihekaufprogramm ab heute nicht weiter begünstigen.“
Die EZB will diese Klimarisiken jetzt explizit in ihrer Geldpolitik berücksichtigen. Unterschiedliche Meinungen gab es offenbar auch zu der Frage, wie die EZB grundsätzlich ihre klimapolitischen Ambitionen begründen soll. Eine Option wäre gewesen, sich hier das sogenannte sekundäre Mandat zu berufen, das eine Unterstützung der Wirtschaftspolitik der Europäischen Union (EU) verlangt, so weit dadurch das primäre Mandat der Preisstabilität nicht gefährdet wird.
Die EZB hat sich aber entschlossen, ihre Klima-Engagement strikt durch das Mandat der Preisstabilität zu begründen. Das hatte Lagarde im Vorfeld auch getan. Dabei kam zum Teil allerdings Kritik auf, dass sich auf dem Weg auch sehr viele andere politische Ziele in die Geldpolitik einbeziehen ließe, weil es ja aus vielen Bereichen heraus Einfluss auf die Preisstabilität geben kann. Um sich möglichst wenig angreifbar zu machen, argumentiert die EZB jetzt ausdrücklich mit finanziellen Risiken, die die Folge von Klimarisken sein können.
Auch mit einer zweiten Tradition der Bundesbank bricht die Strategieüberprüfung: Die EZB will künftig nicht mehr die Analyse von Geldmengen als selbstständige zweite Säule neben der ökonomischen Analyse betreiben. Beide Bereiche werden integriert, womit die monetäre Analyse, die für alte Bundesbank zentral war, strategisch nicht mehr eigenständig in Erscheinung tritt.
Bereits in den vergangenen Jahren spielte diese Analyse nur noch eine Nebenrolle. Künftig will die EZB aber bei ihren Diskussion noch ausdrücklicher als bisher auf mögliche Nebenwirkungen ihrer Geldpolitik, etwa auf die Finanzstabilität, eingehen, und dabei das Kriterium der Angemessenheit herausstellen. Im vergangenen Jahr hatte das Bundesverfassungsgericht ihr vorgeworfen, diese Angemessenheit zu wenig zu begründen. Volker Wieland kritisiert aber: „Ich vermisse eine Analyse, ob die lockere Geldpolitik eine Rolle beim Aufbau der Finanzstabilitätsrisiken vor der Finanzkrise gespielt hat und ob sich aus der Erfahrung der Finanzkrise somit Lehren ergeben, wie die Geldpolitik derzeit und in Zukunft mit Finanzstabilitätsrisiken umgehen sollte.“
Zudem hat die EZB auch eine Reihe kleinerer Änderungen beschlossen. So will sie künftig regelmäßig in kürzeren Abständen ihre geldpolitische Strategie überprüfen. Der nächste Check ist für das Jahr 2025 vorgesehen. Außerdem will sie das Format ihrer Pressekonferenz, auf der sie geldpolitische Beschlüsse verkündet, anpassen. Die langen technischen Statements sollen künftig kürzer ausfallen. Außerdem will die Notenbank einen regelmäßigeren Dialog mit der breiten Bevölkerung organisieren, so wie bei ihren Zuhör-Veranstaltungen zur neuen Strategie.
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