EZB-Chef Mario Draghi bringt angesichts der geringen Inflation zusätzliche Zinssenkungen und weitere Anleihekäufe ins Spiel. Die Märkte jubeln.
Sintra, Frankfurt Bei seinen Reden auf dem Notenbankertreffen im portugiesischen Sintra ist Mario Draghi immer für eine Überraschung gut. 2017 hatte der Chef der Europäischen Zentralbank dort erstmals vor der Weltöffentlichkeit ein Ende des Anleihekaufprogramms angedeutet.
Es war ein erster Schritt hin zu einer strafferen Geldpolitik. Nun, zwei Jahre später, hat Draghi abermals in Sintra die Märkte überrascht – diesmal mit einem kompletten Kurswechsel. Am Dienstag signalisierte Draghi, dass er bereit ist, im Kampf gegen niedrige Inflationsraten zu einer ultralockeren Geldpolitik zurückzukehren.
Der EZB-Chef stellte einen „zusätzlichen Stimulus“ in Aussicht, sollten die Inflationserwartungen nicht steigen und sollte sich die Konjunktur nicht erholen. Der EZB-Rat werde bereits in den kommenden Wochen darüber beraten, wie die Notenbank darauf reagieren kann. Prinzipiell könne die EZB jedoch über die gesamte Breite ihrer Werkzeuge verfügen.
So seien etwa neue Zinssenkungen und Entlastungen für die Banken möglich, sagte Draghi. „Weitere Zinssenkungen und Maßnahmen zur Eindämmung der Nebenwirkungen bleiben Teil unseres Instrumentariums.“ Draghi betonte außerdem die Möglichkeit, dass die EZB ebenjene Anleihekäufe wieder aufnehmen könnte, die er zwei Jahre zuvor beerdigt hatte.
Draghis Sintra-Rede ist ein Weckruf an die Märkte, die dem Inflationsziel der EZB zuletzt immer weniger Glauben geschenkt haben. Sie markiert zugleich einen Richtungswechsel in der Geldpolitik, der das Niedrigzinsumfeld weiter zementiert. Und sie könnte der Auftakt für einen Wettbewerb sein, bei dem sich die Notenbanken der Welt mit Zinssenkungen überbieten.
So verleitete der Auftritt des Notenbankchefs in Sintra umgehend US-Präsident Donald Trump zu einer seiner Twitter-Tiraden. „Mario Draghi kündigte gerade an, dass weitere Impulse kommen könnten, die den Euro gegenüber dem Dollar sofort fallen ließen“, schrieb er am Dienstag auf Twitter.
Dies mache es für Europa unfairerweise leichter, mit den USA zu konkurrieren. „Sie sind damit seit Jahren durchgekommen, zusammen mit China und anderen.“ Die europäischen Märkte seien in Reaktion auf Draghi gestiegen, schob Trump kurz darauf nach: „Unfair gegenüber den USA.“
Angesprochen auf die Tweets von Donald Trump, verwies Draghi in einer Paneldiskussion am Nachmittag darauf, dass das Mandat der EZB die Gewährleistung von Preisstabilität sei. Er habe lediglich gesagt, dass die Notenbank alles innerhalb ihres Mandats mögliche tun werde, um dies zu erfüllen. „Wir haben kein Ziel für den Wechselkurs.“
Im Gegensatz zu Trump reagierten die Investoren euphorisch: Die europäischen Börsen drehten am Dienstagnachmittag deutlich ins Plus, der deutsche Leitindex Dax kletterte legte um zwei Prozent zu. Auch an den Anleihemärkten lösten die Äußerungen des EZB-Chefs ein Kursfeuerwerk aus. Im Gegenzug sanken die Renditen auf neue, nie da gewesene Tiefststände. So fiel die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe zwischenzeitlich auf minus 0,3 Prozent – ein neues Allzeittief.
Erstmals in der Geschichte der Länder rutschten auch die Renditen für zehnjährige Papiere aus Frankreich und Österreich in den negativen Bereich. Das bedeutet, dass Investoren dafür bezahlen, Deutschland, Frankreich und Österreich Geld leihen zu dürfen.
Die Anleger griffen jedoch auch bei riskanteren Papieren wie italienischen oder griechischen Staatsanleihen zu. Mit rund 2,1 Prozent werfen zehnjährige italienische BTPs derzeit kaum mehr ab als amerikanische Staatsanleihen. Christian Keller, Chefvolkswirt von Barclays, sagt: „Draghi hat die Hürden für eine weitere Lockerung der Geldpolitik deutlich gesenkt.“
Damit ist ihm aus Sicht von Christoph Rieger, der bei der Commerzbank die Anleihestrategie verantwortet, eine Überraschung gelungen: „Draghi hat es geschafft, ein Signal an die Märkte zu senden, die so kurz nach einer regulären Ratssitzung so nicht zu erwarten waren.“
Der Vorstoß zeige jedoch, dass Draghi zunehmend frustriert auf die sinkenden Inflationserwartungen der Märkte blickt. „Es ist offensichtlich, dass er die Geduld verliert.“
Die EZB strebt mittelfristig für den Euro-Raum eine Inflation von knapp unter zwei Prozent an, die als optimal für die Konjunktur angesehen wird. Dieses Ziel jedoch verfehlt sie bereits seit vielen Jahren. Die Teuerung dürfte nach EZB-Prognose 2019 bei 1,3 Prozent liegen. Bis 2021 erwartet sie einen Anstieg auf 1,6 Prozent.
Angesichts der schwachen Konjunktur zweifeln die Märkte zunehmend daran, dass die EZB ihr Ziel auf absehbare Zeit erreicht. Zuletzt sind die Inflationserwartungen an den Finanzmärkten auf Rekordtiefstände gefallen.
Die Inflationserwartungen lassen sich an Zinssicherungsgeschäften, sogenannten Swaps, ablesen. Die Erwartungen für die nächsten fünf Jahre waren seit Jahresbeginn von 1,6 Prozent auf 1,1 Prozent gesunken. Aus Sicht von Franck Dixmier, Chefrentenstratege bei Allianz Global Investors (AGI), hatte Draghi daher keine andere Wahl, als ein starkes Signal zu senden. „Die Inflationserwartungen befinden sich im freien Fall. Und, noch beunruhigender für die EZB, sie haben ihre Talfahrt auch nach der vergangenen EZB-Ratssitzung im Juni fortgesetzt.“
Besonders bemerkenswert sei, dass Draghi nun die Beweislast umgekehrt habe, so Commerzbank-Stratege Rieger weiter. Statt dass eine Verschlechterung der Wirtschaft als Grund für eine lockere Geldpolitik nötig sei, müsse nun schon eine Verbesserung eintreten, damit die EZB nichts macht.
„Draghi ist bemüht, nicht in Rente zu gehen, während die Inflationsrate bei einem Prozent dümpelt“, ist sich Rieger sicher. Und auch AGI-Experte Dixmier sagt: „Die Rede war eine Art Testament.“ Sie lege den geldpolitischen Kurs der EZB auf Monate fest und werde auch den Spielraum für Draghis Nachfolger einschränken.
Draghi betonte weiterhin, dass das Inflationsziel von „unter, aber nahe zwei Prozent“ symmetrisch sei, dass also die Notenbank sowohl auf Abweichungen nach oben als auch nach unten reagiert. Das bedeute auch: „Wenn wir diesen Wert auf mittlere Sicht erreichen sollen, muss die Inflation in Zukunft einige Zeit über diesem Niveau sein.“
Aus seiner Sicht hat die EZB verschiedene Möglichkeiten, um für einen weiteren geldpolitischen Stimulus zu sorgen. Im Juni bereits hatte die Notenbank ihre geldpolitische Orientierung angepasst und beschlossen, die Zinsen bis Ende des ersten Halbjahres 2020 auf dem heutigen Niveau zu belassen.
Auch Zinssenkungen und Entlastungen für die Banken seien möglich. Aktuell liegt der Leitzins im Euro-Raum bei null Prozent, der zurzeit wichtigere Satz für Bankeinlagen bei minus 0,4 Prozent. Commerzbank-Ökonom Michael Schubert erwartet, dass die EZB bereits auf ihrer nächsten Ratssitzung im Juli den Einlagenzins für Banken um zehn Basispunkte auf minus 0,5 Prozent senken wird, wie er schreibt.
Das jedoch dürfte die ohnehin unter mangelnder Profitabilität leidenden Banken weiter unter Druck bringen. Erik Nielsen, Chefvolkswirt von Unicredit, glaubt daher, dass der EZB-Chef den Banken zusätzlich unter die Arme greifen dürfte. „Am wahrscheinlichsten ist, dass die EZB den Banken durch günstige Liquidität hilft, wie sie das zuletzt mit den neuen Langfristkrediten gemacht hat.“
Draghi brachte zudem eine Wiederaufnahme der Anleihekäufe ins Spiel. Einige Ökonomen halten das für schwierig, weil sich die EZB gewisse Grenzen für ihre Käufe gesetzt hat. Diese wurden auch vom Europäischen Gerichtshof betont. So sollen die nationalen Notenbanken des Euro-Systems nach den Regeln der EZB maximal ein Drittel der ausstehenden Anleihen eines Landes halten.
Diese Grenzen sind aber für einige Länder fast erreicht. Draghi deutete jedoch an, dass die EZB im Notfall dennoch handeln könnte. Es gebe noch Spielraum für Käufe. Die Grenzen, die man sich auferlegt habe, würden von den Umständen abhängen, mit denen es die EZB zu tun habe. „Wenn die Krise etwas gezeigt hat, dann ist es, dass wir die Flexibilität innerhalb unseres Mandats nutzen, um unseren Auftrag zu erfüllen.“
„Die EZB dürfte im Juli auch die Wiederaufnahme ihrer Nettoanleihekäufe im Falle einer weiter enttäuschenden Entwicklung ins Spiel bringen, um die Markterwartungen entsprechend zu steuern“, erwartet Commerzbank-Volkswirt Schubert.
Damit dies tatsächlich passiere, müsse sich die Konjunktur in den kommenden Monaten allerdings deutlich schlechter entwickeln. Die Entscheidung, ob die Notenbank erneut Anleihen oder andere Wertpapiere kauft, wird damit voraussichtlich nicht mehr in die Amtszeit von Draghi fallen, die im Oktober endet.
Mit seiner Sintra-Rede setze Draghi nun den Chef der US-Notenbank, Jerome Powell, unter Druck, so Rieger: „Die Fed-Sitzung am Mittwochabend erhält dadurch zusätzliche Brisanz.“ Die Fed könnte sich aus seiner Sicht ebenfalls genötigt sehen, die US-Zinsen früher zu kürzen, damit ein starker Dollar die US-Konjunktur nicht abwürgt. „Die Fed hat nun ein Argument mehr, beherzter zu reagieren.“
Wie heikel die Geld- und Währungspolitik geworden ist, zeigen nicht zuletzt Trumps Twitter-Attacken. So sagt Unicredit-Volkswirt Nielsen: „Es ist einfach bizarr, dass Trump versucht, den Wechselkurs zu steuern.“
Mehr: Draghi-Rede löst Kursfeuerwerk am Anleihemarkt aus. Die Anleihe-Renditen drückt das auf nie dagewesene Tiefs.
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