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04.07.2022

14:38

Geldpolitik

Türkische Inflation steigt auf 78 Prozent – doch die Wirtschaft brummt

Von: Ozan Demircan

Die Preise haben sich in einem Jahr fast verdoppelt, aber der Kollaps der türkischen Wirtschaft bleibt aus. Die Restaurants sind voll, Handwerker werden knapp.

Die Preise in der Türkei steigen immer weiter. Bloomberg

Fußgängerzone in Ankara

Die Preise in der Türkei steigen immer weiter.

Istanbul Die Inflation in der Türkei steigt auf einen neuen Rekordwert. Im Juni erhöhten sich die Lebenshaltungskosten gegenüber dem Vorjahresmonat auf 78,62 Prozent, wie das nationale Statistikamt am Montag in Ankara mitteilte. Im Vormonat hatte die Teuerungsrate 73,5 Prozent betragen.

Das klingt nach sozialem Sprengstoff, nach Krise und nach Kollaps. Doch die Wirtschaft brummt. In der größten türkischen Metropole sind die Restaurants gefüllt. Die Arbeitslosigkeit ist seit Monaten konstant, Flugzeuge im gesamten Land sind oft bis auf den letzten Platz gefüllt. Und wer Handwerkern einen Auftrag geben will, bekommt immer häufiger zu hören, dass sie zunächst eine Reihe anderer Arbeiten abzuschließen haben.

Für die Dynamik gibt es verschiedene Gründe; einer davon hat unmittelbar mit den Nachholeffekten infolge der Coronapandemie zu tun. Viele Menschen und Unternehmen investieren nun und wollen wieder Geld für Güter und Dienstleistungen ausgeben, auf die sie in den vergangenen zwei Jahren verzichtet hatten.

Und eine hohe Bereitschaft, Geld auszugeben, findet sich auch bei den Touristen. Urlauber bekommen derzeit in Istanbul kaum noch Hotelzimmer unter 100 Euro pro Nacht. Vor der Pandemie lagen die durchschnittlichen Übernachtungskosten in der Metropole am Bosporus deutlich niedriger. „Wir haben seit 2019 keinen Urlaub mehr gemacht, der Preis war uns egal“, erzählt ein deutsches Paar, das den bekannten Galata-Turm im Stadtteil Beyoglu besucht.

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Die erhöhte Nachfrage im Tourismus treibt die Preise und damit die Einkünfte von Hoteliers und deren Angestellten. Das Gleiche gilt in anderen Bereichen der Industrie und des Handels. So lässt sich erklären, dass viele Menschen weiter einkaufen, obwohl die Preise ständig steigen.

Viele Firmen verdienen so prächtig, dass sie ihre Mitarbeitenden daran teilhaben lassen können. Die türkische Garanti Bank, die der spanischen BBVA gehört, hat die Löhne und Gehälter bereits zum Jahreswechsel deutlich angehoben.

Auch der Mindestlohn ist seit Januar in zwei Schritten um insgesamt 94 Prozent angehoben worden. Fast die Hälfte aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in dem Land erhält diesen Monatslohn.

Noch kann der Staat die Preise ausgleichen

Ein weiterer Effekt der hohen Preise: Die Steuereinnahmen des Staates sprudeln. Wenn die Verkaufspreise ansteigen, steigen die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer gleich mit. Das Gleiche gilt für die Einkommensteuer bei steigenden Gehältern. Der Staat nimmt derzeit genug ein, um die hohen Kosten für Importe abzufedern.

Schon im Jahr 2021 stiegen die Steuereinnahmen des Staates um fast 40 Prozent an und lagen um 26 Prozent höher als das Budget für denselben Zeitraum des Vorjahrs. Für das aktuelle Jahr erwarten Experten eine ähnliche Entwicklung.

Unter diesen Umständen findet Staatschef Recep Tayyip Erdogan genügend Argumente, seine äußerst unorthodoxe Wirtschaftspolitik beizubehalten. Er befiehlt der nationalen Notenbank, die Leitzinsen niedrig zu halten. Dadurch sind Kredite vergleichsweise billig – es lohnt sich, auf Pump einzukaufen.

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Doch der von Erdogan angetriebene Boom bleibt riskant. Wenn die globale Konjunktur aufgrund des Ukrainekriegs oder einer neuen Corona-Infektionswelle wieder abkühlt, dann steht die türkische Wirtschaft ohne Aufträge und trotzdem mit hohen Preisen da. Ökonomen warnen bereits vor einer möglichen Stagflation.

Dass es zu einem solchen Szenario kommt, ist angesichts der galoppierenden Inflation nicht auszuschließen. Besonders in den Sektoren Transport und Lebensmittel verteuerten sich die Preise im Juni mit 123 und 94 Prozent auf Jahresbasis deutlich. Auch die für Produzenten und Hersteller stiegen weiter: Auf Jahressicht erhöhten sich die Preise, die Produzenten für ihre Güter erhalten, laut Statistikamt im Juni um rund 138 Prozent. Im monatlichen Vergleich ist das ein Anstieg von rund 6,8 Prozent.

Die Erzeugerpreise fließen in der Regel zeitverzögert in die Verbraucherpreise mit ein. Das bedeutet, dass die Inflation in der Türkei in den kommenden Monaten weiter steigen dürfte. Von der Finanzagentur Bloomberg befragte Ökonomen rechneten im Durchschnitt sogar mit einer Inflation von 79,95 Prozent. Die Opposition wirft der Regierung vor, die Inflationszahlen zu schönen, und geht von einer deutlich höheren Rate aus.

Die in Istanbul ansässige Inflations-Forschungsgruppe Enag bezifferte die Teuerung für Juni im Jahresvergleich sogar auf 175,55 Prozent. Zum Vergleich: Das Statistische Bundesamt schätzt die Inflationsrate in Deutschland im Juni auf 7,6 Prozent. Damit steigen die Preise in der Türkei pro Monat fast so schnell wie in Deutschland in einem Jahr.

Seit Längerem sorgt die schwache Landeswährung Lira für erheblichen Preisauftrieb, da Importe in die Türkei dadurch verteuert werden. Auch steigen die Preise vieler Rohstoffe, nicht zuletzt wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine. Ein Beispiel veranschaulicht, dass die Preissteigerungen in der Türkei in einigen Bereichen sogar deutlich höher ausfallen. Vor einem Jahr kostete eine Tankfüllung mit rund 60 Liter Diesel zwischen 350 und 400 Lira. Inzwischen sind es 1700 Lira – das ist mehr als das Vierfache im Jahresvergleich und würde einer Inflation von 300 Prozent entsprechen.

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Ein Großteil der Industrie und der Verbraucher, vom Landwirt bis zum Logistiker, vom Pendler bis zum Produzenten, ist auf Transportfahrzeuge angewiesen. Entsprechend hoch ist der Preisdruck, den gerade die gesamte türkische Volkswirtschaft aushalten muss.

Weitere Indikatoren bestätigen diesen Eindruck. So ist das Handelsdefizit im Mai im Vergleich zum Vorjahr um 155 Prozent gestiegen. Der Wert aller importierten Waren lag in dem Monat um 10,6 Milliarden US-Dollar höher als der der exportierten Güter. Das Defizit kommt vor allem durch die gestiegenen Energiepreise zustande, die seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine Rekordhöhen erreichen. Diese Lücke müssen Firmen und Haushalte sowie der Staat mit Krediten und anderen Finanzinstrumenten schließen.

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