Nachfrageeinbruch, Hypothekenstreik, Zahlungsausfälle – die Probleme auf dem Markt spitzen sich zu. Peking will dafür sorgen, dass die Krise nicht auch noch die Banken erfasst.
Hypothekenstreik verschärft Immobilienkrise
Immer mehr Immobilienkäufer in China weigern sich ihre Hypotheken zu bezahlen, so lange ihre Wohnungen nicht fertig gestellt werden.
Bild: Bloomberg
Peking Die Verzweiflung des Immobilienkäufers ist unüberhörbar: „Ich habe 1,5 Millionen Yuan für eine Wohnung bezahlt, aber es wird nicht gebaut“, klagt er. „Wer hat mein Geld?“ Der Mann weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als auf die Straße zu gehen und zu protestieren. „Ich habe keine andere Wahl“, sagt er in einer Audioaufnahme, die auf verschiedenen Social-Media-Plattformen vielfach geteilt wurde. „Bitte setzen Sie die Hypothekenzahlungen aus und bauen Sie unser Haus“, fleht er.
Der verzweifelte Käufer ist kein Einzelfall. In mehr als 90 Städten Chinas haben Wohnungskäufer ihre Ratenzahlungen gestoppt, weil die Bauarbeiten an mehr als 300 Immobilienprojekten nicht voranschreiten. Vielen hochverschuldeten Bauträgern fehlt das Geld, um die Objekte fertigzustellen. Bei den Käufern wächst die Sorge, dass ihr Eigenheim ein Luftschloss bleibt – und sie dennoch Hypotheken inklusive Zinsen abbezahlen müssen.
Die Bankenaufsicht CBIRC hat am vergangenen Montag die Finanzinstitute angewiesen, Bauträger mit Krediten zu versorgen, damit die Projekte fertiggestellt werden können. Auf diese Weise wollen die Behörden vermeiden, dass sich die Proteste der Wohnungskäufer weiter im Land ausbreiten. Damit lockern die Aufseher erstmals die im vergangenen August eingeführten Kreditrestriktionen für hochverschuldete Immobilienkonzerne. Das verdeutlicht, wie groß die Sorge ist, mit der die Staatsführung die wachsenden Probleme in dem Sektor beobachtet.
Eine „harte Landung“ in der Immobilienbranche zu verhindern, sollte ganz oben auf der Prioritätenliste stehen, sagte der ehemalige Vize-Finanzminister Zhu Guangyao während eines Online-Termins. Vor allem müsse vermieden werden, dass sich die Boykotte „ausbreiten und eine Bankenkrise auslösen“, warnte Zhu, der jetzt den Staatsrat, Chinas Kabinett, berät.
Die Banken hätten zwar Sicherheiten für ihre an die Bauträger ausgegebenen Kredite, erläutert die renommierte Finanzexpertin Charlene Chu von Autonomous Research in einem Interview mit dem Podcast One Decision. Doch wenn die Immobilienkäufer anfangen, ihre Kredite nicht mehr zu bedienen, sei das ein großes Risiko. Die Gefahr sei durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit infolge der Lockdowns größer geworden. Eine Zunahme von Zahlungsausfällen könnte wiederum dazu führen, dass die Banken vorsichtiger bei der Kreditvergabe werden. Chu glaubt, dass die aktuellen Probleme erst der Beginn der Krise auf dem Immobilienmarkt sind.
Potenzielle Immobilienkäufer würden derzeit erst einmal „abwarten und beobachten“, meint Hu Jinghui, der frühere Vizechef des Immobilienmaklers 5i5j. Zum einen weil sich die wirtschaftlichen Aussichten infolge der wiederholten Lockdowns verschlechtert hätten. Zum anderen weil viele Bauträger derzeit mit Finanzierungsproblemen kämpften und die Unsicherheit groß sei, ob sie die Immobilien fertigstellen könnten. Dadurch würde das „Vertrauen der Hauskäufer beeinträchtigt“, betont Hu.
Einer Analyse des Thinktanks China Index Academy zufolge sind die Immobilienverkäufe der 100 größten chinesischen Entwickler in der ersten Jahreshälfte um 48,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen. Dadurch verschärfe sich das Liquiditätsproblem der Bauträger weiter, betont Immobilienexperte Hu.
Zwar haben zuletzt mehrere Entwickler die Bauarbeiten wieder aufgenommen. Doch es bleibt die Frage, wie lange ihnen das Geld reicht. Mindestens einem Fünftel der chinesischen Bauträger drohe die Insolvenz, schreibt die Ratingagentur S&P in einer aktuellen Analyse. Angesichts der zunehmenden Zahlungsschwierigkeiten verweigern immer mehr Gläubiger eine Verlängerung der Rückzahlungsfristen. Zuletzt hatten Anleiheeigner des hochverschuldeten Immobilienkonzerns Evergrande eine Fristverlängerung für einen Onshore-Bond verweigert. Insgesamt seien 30 Bauträger mit Gesamtverbindlichkeiten von rund einer Billion Dollar in Zahlungsverzug geraten, schätzt Chu.
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In China werden Immobilien typischerweise per Vorkasse bezahlt, teilweise zwei bis drei Jahre vor der Fertigstellung. Lu Ting, China-Chefvolkswirt der japanischen Investmentbank Nomura, schätzt, dass Bauträger nur rund 60 Prozent der zwischen 2013 und 2020 vorausbezahlten Wohnungen fertiggestellt haben. In diesem Zeitraum sei das Volumen der ausstehenden Hypothekenkredite in China um umgerechnet fast vier Billionen Dollar gestiegen. Laut einer Analyse der ANZ-Bank belaufen sich die Hypothekenkredite im Zusammenhang mit unfertigen Bauprojekten auf umgerechnet rund 220 Milliarden Dollar.
Viele Chinesen haben in den vergangenen Jahrzehnten angesichts der stetig steigenden Preise und aufgrund fehlender alternativer Anlagemöglichkeiten in Wohneigentum investiert. Schätzungen zufolge stecken rund drei Viertel des Vermögens privater Haushalte in Immobilien. Diese Investitionen waren die Grundlage für den Bauboom der vergangenen zwei Jahrzehnte und ein maßgeblicher Treiber des Wirtschaftswachstums.
Der Immobiliensektor trug zuletzt direkt und indirekt rund ein Drittel zur chinesischen Wirtschaftsleistung bei. Die Wohnungsbauinvestitionen hätten seit Anfang der 2000er-Jahre stetig zugenommen und machten inzwischen „einen viel größeren Anteil am BIP aus als in anderen großen Volkswirtschaften“, stellt die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) im jüngst erschienenen Jahresbericht fest. Entsprechend negativ sind die Auswirkungen der wachsenden Probleme in dem wichtigen Sektor. Für das Gesamtjahr 2022 rechnen die Experten des Thinktanks China Index Academy mit einem Rückgang um 13 Prozent.
Um die Nachfrage anzukurbeln, lassen sich Chinas Immobilienentwickler teils kuriose Aktionen einfallen. Der Baukonzern Central China Real Estate etwa bietet Landwirten in der zentralchinesischen Provinz Henan an, einen Teil des Wohnungspreises in Naturalien wie Knoblauch oder Weizen zu entrichten. Nichtsdestotrotz prognostiziert die Denkfabrik Beike Research Institute, dass die Nachfrage nach Eigenheimen in China auch in den kommenden Jahren weiter sinken wird.
Ein wichtiger Grund für den erwarteten Nachfragerückgang ist die schnelle Alterung der chinesischen Gesellschaft. Schon jetzt schrumpft die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, also der potenziellen Immobilienkäufer. Während das Angebot an Häusern und Wohnungen weiter wächst, sei die Nachfrage zunehmend erschöpft, warnt der Kapitalmarktanalyst Hong Hao. Er hält den Versuch der Staatsführung, die Probleme auf dem Immobilienmarkt durch eine Ausweitung der Kreditvergabe zu lösen, daher für wenig zielführend. „Ein voraussichtliches Überangebot, Druck auf die Immobilienpreise, Risiko von Zahlungsausfällen. Das sind die wahren Gründe für die Probleme auf dem Immobilienmarkt“, so Hong.
Die sinkende Nachfrage nach Immobilien hat auch negative Auswirkungen auf die Finanzen der Provinzregierungen. Für sie ist der Verkauf von Landnutzungsrechten an Immobilienentwickler eine der wichtigsten Einnahmequellen. Doch im ersten Halbjahr haben sich die Erlöse aus den Verkäufen mehr als halbiert, wie aus Daten der Maklerfirma China Industrial Securities hervorgeht. Gleichzeitig steigen ihre Ausgaben, um die wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns abzufedern. Dadurch könne eine Finanzierungslücke von bis zu sechs Billionen Yuan entstehen, schätzen die Nomura-Analysten.
Angesichts dieser Probleme rechnen Experten mit weiteren politischen Stützungsmaßnahmen. Die bisherigen Bemühungen würden möglicherweise nicht ausreichen, um zu verhindern, dass die Krise von den Bauträgern auf das Finanzsystem übergreift, warnt Robert Carnell, Forschungsleiter Asien-Pazifik der niederländischen ING Bank. Er kann sich vorstellen, dass chinesische Banken und Provinzregierungen schon bald einen Fonds einrichten, der eine Notfinanzierung für unfertige Immobilienprojekte bereitstelle oder gar die Projekte übernehme, um eine schnelle Fertigstellung zu sichern.
Eine solche Auffanglösung kündigte am Mittwoch der Bauträger Zhengzhou Real Estate gemeinsam mit dem Vermögensverwalter Henan Asset Management an, beide in staatlicher Hand. Es ist der erste staatlich unterstützte Rettungsversuch in der aktuellen Krise. In der Stadt Zhengzhou in der zentralchinesischen Provinz Henan gab es die meisten Boykottaufrufe für Hypotheken, wie aus den Daten des Forschungsinstituts E-House hervorgeht.
Zhang Bin vom Institut für Weltwirtschaft und Politik bei der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (CASS), einem staatlichen Thinktank, hatte zuletzt für eine stärkere geldpolitische Unterstützung plädiert: Der Zinssatz sei der wichtigste Preishebel für makroökonomische Operationen, betonte er auf einer Konferenz des Wirtschaftsmagazins Caixin Mitte Juli. Das könnte die Finanzprobleme der hochverschuldeten Immobilienkonzerne mildern.
Das Wichtigste aber sei eine wirksame Kontrolle der Pandemie, betont Immobilienexperte Hu. Nur wer einen Job und ein sicheres Einkommen hat und auch erwartete, dass das so bleibt, wird den Kauf einer Immobilie erwägen. Wenn dies nicht der Fall sei, wird „niemand eine Immobilie kaufen“, ist er überzeugt. Daran würden auch staatliche Unterstützungsmaßnahmen nichts ändern.
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