Das Insolvenzgutachten von Verwalter Jaffé, das dem Handelsblatt vorliegt, offenbart das ganze Ausmaß des Anlegerskandals bei P&R. Für die Ex-Chefs wird es eng.
München „Roth“, steht an der Klingel. Einfach nur „Roth“. Die Adresse stimmt also. Wir klingeln. Einmal, zweimal. Keine Antwort. Beim dritten Mal knackt es in der Leitung. „Wer ist da?“ Wir stellen uns vor. „Ja, ich kenne Ihre Berichte. Nein, mit Ihnen spreche ich nicht. Was Sie schreiben, ist nicht die Wahrheit. Es ist alles falsch.“ Stille. Das war’s.
Heinz Roth, 75, wohnt in einer weißen Villa im vornehmen Grünwald bei München. Dort, wo die Häuser große Grundstücke mit hohen Mauern haben. Rund elf bis 13 Millionen Euro betrage sein Vermögen, gab er kürzlich an. Er hat es sich hauptsächlich mit dem Verkauf von Seefrachtcontainern an private Sparer erarbeitet: Roth gründete 1975 P&R, das Unternehmen wurde zum Marktführer bei Direktinvestments mit Containern. Früher war er dort der starke Mann. Heute versteckt sich Roth hinter Mauern.
Die Presse berichte falsch. Das sagt einer, dessen eigenes Lebenswerk sich gerade als gigantisches Lügengebäude herausstellt. Im März ist Roths P&R-Imperium in Deutschland krachend zusammengestürzt – mit verheerenden Folgen für 54.000 Sparer. Sie haben Heinz Roth und seinen Firmen 3,5 Milliarden Euro anvertraut und werden ihr Geld in großen Teilen nie mehr wiedersehen: P&R ist pleite.
Roth hatte P&R groß gemacht. Er herrschte über den Konzern mit vier Vertriebsfirmen in Deutschland und ist hundertprozentiger Anteilseigner einer Schwesterfirma in der Schweiz.
Im Detail beschreibt nun das Insolvenzgutachten von Verwalter Michael Jaffé, wie es zu der Katastrophe kam. Das Dokument liegt dem Handelsblatt vor. Eine Kernaussage darin: Während Anleger glaubten, von ihrem Ersparten würden Seefrachtcontainer gekauft, die über die Weltmeere schippern und monatliche Mieten einbringen, diente das Geld neuer Anleger zehn Jahre lang vor allem dazu, Löcher im System zu stopfen.
Statt vom frisch investierten Geld Container zu kaufen, habe P&R seit 2007 zunehmend die Einnahmen genutzt, um „unter Täuschung der Neuanleger“ die Ansprüche von Altkunden zu bedienen, ihnen Mieten zu zahlen und Rückkäufe zu finanzieren, formuliert es Jaffé. Betriebswirtschaftlich gesehen wäre laut Gutachten P&R schon seit Ende der 2000er-Jahre nicht mehr überlebensfähig gewesen. Es gab „keine positive Fortführungsprognose mehr“, heißt das im Juristendeutsch.
Damit hätten Roth und seine Manager die Insolvenz fast zehn Jahre lang verschleppt und sich straffällig gemacht.
Getroffen hat es Menschen wie Alois Moosmeyer (Name geändert) aus München-Neubiberg, knappe 25 Autominuten von Grünwald entfernt. Der freundliche Mann mit einem prächtigen weißen Bart empfängt uns in seinem Garten in München, an den Apfelbäumen reifen die Früchte. Es blüht überall, ein Springbrunnen plätschert. Moosmeyer ist 75, genau wie Heinz Roth. Und so wie Roth hat er alles auf P&R gesetzt. Doch Roth und Moosmeyer sind sich nie begegnet.
Moosmeyers Leben ist anders verlaufen. Er hat körperlich gearbeitet, Fußböden verlegt, bis der Rücken nicht mehr mitmachte. Neun Operationen hat Moosmeyer hinter sich: „Ein Leben lang wurde gebuckelt, jetzt geht’s nicht mehr.“
Alois Moosmeyer investierte erstmals 2006 bei P&R. Rund 300.000 Euro hatte ihm damals die Lebensversicherung ausbezahlt. Sein Berater und auch Freunde rieten ihm zu.
Ein Bekannter hatte sogar Heinz Roth täglich um halb neun in der unscheinbaren P&R-Firmenzentrale in Grünwald vorfahren sehen. Etwas Solideres als P&R gebe es nicht, riet man ihm. Moosmeyer vertraute seine ganze Altersvorsorge dem Containerriesen an. Frei werdende Beträge investierte er stets neu.
Während Moosmeyer spricht, kämpft er immer wieder mit den Tränen. Er schäme sich, sagt er. 200 Euro Rente hat er. Von P&R seien regelmäßig alle drei Monate 6.000 Euro gekommen. „Das hat gerade so für mich und meine Frau gereicht.“
Bis im Dezember 2017 ein Anruf von seinem Steuerberater kam: „Alois, setzen Sie sich erst mal“, sagte der. „P&R kann nicht mehr zahlen.“ Jetzt stehen die Moosmeyers vor dem Nichts.
Container
Von den 1,6 Millionen verkauften Containern sind heute nur 618.000 vorhanden. Eine Million Container existiert nur auf dem Papier.
Bild: dpa
Sie sind die typischen P&R-Anleger: Jeder zweite Sparer dort ist über 60, jeder dritte sogar über 70. Bei den meisten Investoren hätten nicht Renditegesichtspunkte im Mittelpunkt gestanden, sondern der Wunsch nach Sicherheit, schreibt Verwalter Jaffé in seinem Gutachten. Schließlich war P&R über 40 Jahre im Geschäft. Heute muss Moosmeyer erfahren, dass das Drama ungefähr begann, als er seine gesamte Altersvorsorge in P&R investierte.
Damals erschütterte die Finanzkrise auch den Schifffahrtsmarkt. Container standen ungenutzt herum, sie kosteten nur. Teilweise zum Schrottpreis habe P&R Container auf den Markt geworfen, steht im Bericht. In den Jahren danach sei der weltweite Bedarf an Seefrachtboxen zwar wieder gestiegen.
Aber die Verpflichtungen, die P&R aus bestehenden Verträgen mit Anlegern eingegangen war, waren so hoch, dass die Gesellschaften neu angelegtes Anlegergeld vor allem brauchten, um die Verträge mit den Altanlegern einzuhalten. Hohe, teils weit über den Marktpreisen liegende Mieten hatte P&R den Anlegern versprochen. Dazu einen ansehnlichen Rückkaufswert nach fünf Jahren.
Der Vertrieb des Investments und das Management der Container liefen voneinander getrennt. Aus dem schweizerischen Zug werden bis heute die Container an Reeder und Verwalter vermietet, neue angeschafft oder alte verwertet. Die vier insolventen deutschen Vertriebsgesellschaften dagegen kümmerten sich um das von Anlegern investierte Geld.
Das schweizerische und das deutsche Datensystem waren nie miteinander verbunden. Zug überwies, was immer aus dem Containergeschäft hereinfloss, als Ausschüttung nach Grünwald. Deutschland wiederum schickte pauschal Beträge für Neuanschaffungen in die Schweiz. Sofern überhaupt frisches Geld dafür übrig war.
P&R beschäftigt weiter die Gläubiger. Vorausgefüllte Forderungslisten sollen es ihnen einfacher machen – doch Anwälte warnen vor der Unterschrift.
Während Anleger immer mehr Verträge abschlossen, sei die Containerzahl über Jahre weitgehend konstant geblieben, berichtet Jaffé. Ab einem gewissen Zeitpunkt habe P&R fast nur noch mit Gebrauchtcontainern gearbeitet. Das Durchschnittsalter der Boxen beträgt heute sieben bis neun Jahre, sagen Personen, die mit der Materie vertraut sind. Nach zwölf bis 15 Jahren ist ein Container schrottreif.
Was ahnungslose Investoren am meisten schockierte: Von 1,6 Millionen verkauften Containern sind heute nur 618.000 vorhanden. Eine Million Container existiert nur auf dem Papier. Jaffés Ausführungen sind vernichtend für das P&R-Management.
Treffen sie zu, haben die Verantwortlichen die Katastrophe ein Jahrzehnt lang vor sich hergeschoben. Unwahrscheinlich ist auch, dass die Chefs nichts von dem Drama bemerkten. Denn selbst in den Jahren 2011 bis 2013, als P&R Rekordumsätze schrieb und von Anlegern Milliarden kassierte, überwies die Grünwalder Zentrale nur „verhältnismäßig geringe Beträge“ an die Schweizer Schwestergesellschaft. Aber wovon sollte die dann Container kaufen?
Das Ende nahte, als die Anleger vorsichtiger wurden und weniger Verträge abschlossen. Neue Liquiditätszuflüsse reichten nicht mehr, um die Verträge der Altanleger zu erfüllen. Im März 2018 dann knallte es. 84 Millionen Euro Miete hätten an Anleger verteilt werden müssen. Doch es war nicht mehr genug Geld da. P&R habe nur einen Teilbetrag an die Anleger ausgeschüttet und damit die Konten der deutschen Gesellschaften „leer geräumt“, schreibt Jaffé.
Alois Moosmeyer ging damals zum ersten Mal leer aus.
Am 19. März, als der Insolvenzantrag bekannt wurde, hatte Jaffé schon in Grünwald übernommen. Unzählige, teils böse E-Mails trafen laut Bericht in der Zentrale ein. Ein Vermummter beschimpfte auf dem Firmengelände die anwesenden Mitarbeiter. Mehrere Tage war die Telefonanlage lahmgelegt, weil Anrufer es nicht nur in der Zentrale versuchten, sondern alle Endziffern ausprobierten.
Nicht alle P&R-Anleger wollen auf „ihren“ Container verzichten – und was folgt anschließend? Ein Formular sorgt für offene Fragen.
Vereinzelt haben Sparer gar versucht, ihre Container in der Schweiz zu sichern. Doch nur acht Prozent der Investoren hatten sich seinerzeit von den P&R-Vertriebsleuten ein Zertifikat auf ihren Container geben lassen. Selbst sie hätten keinen Anspruch auf einen bestimmten Container, ist Jaffé überzeugt. Seine größte Sorge: Der noch laufende Betrieb in der Schweiz werde gestört, und auch die P&R-Schwester dort müsste Konkurs anmelden.
In mehr als 80.000 vorausgefüllten Forderungsanmeldungen sollen die Anleger nun unterschreiben, dass sie auf „Absonderungs- und Aussonderungsrechte“ verzichten, sprich, dass sie nicht versuchen, auf dem Eigentum an „ihrem“ Container zu bestehen oder vertraglich zugesicherte Mietansprüche in der Schweiz einzulösen.
Anlegeranwälte sind mit solchen Klauseln nicht einverstanden. Wolfgang Schirp aus Berlin etwa setzt neue Forderungsanmeldungen ohne diese Klauseln auf. Er will bei den Mandanten, die Zertifikate haben, „alle Wege prüfen, um zum Erfolg zu kommen“ und Mieteinnahmen zu sichern. Er kündigt an, in diesen Fällen in Deutschland wie in der Schweiz vor Gericht zu ziehen.
Auch Heinz Roth hat jetzt wohl Sorge um sein Millionenvermögen. Zeitweise war er Geschäftsführer und würde somit persönlich haften. Zunächst habe Roth voll mit dem Verwalter kooperiert, schreibt Jaffé, und Vollmachten für das Geschäft in der Schweiz erteilt. Als Verwaltungsrat und Alleinaktionär hätte Roth dort alles blockieren können. Zudem verpfändete er seine Aktien am Zuger P&R-Ableger an den Verwalter. Das war wohl, bevor sich Jaffé für Roths Privatvermögen interessierte.
Im Bericht listet Jaffé Haftungsansprüche in Millionenhöhe an Roth auf. Zum Bruch zwischen beiden kam es vermutlich, als Roth sein Eigentum an der Villa auf die Ehefrau übertrug und versuchte, eine weitere Immobilie zu verkaufen. „Herr Roth wurde daher erneut dringlich darum gebeten, keine Vermögensgegenstände dem Zugriff seiner Gläubiger zu entziehen“, schreibt Jaffé. Die Vollmachten nahm Roth zurück. Jaffé glaubt, die Rücknahme sei ungültig.
Die Pleite des Hamburger Container-Anbieters Magellan 2016 gilt als Vorspiel zum Drama bei P&R. Magellan-Anleger kommen mit einem blauen Auge davon.
Dabei hat Roth einen gefährlicheren Gegenspieler als Michael Jaffé. Achim von Engel, der seinerzeit Uli Hoeneß ins Gefängnis brachte, ist Chef der Arbeitsgruppe „Container“ bei der Staatsanwaltschaft München 1. Drei Staatsanwälte und sieben Polizisten ermitteln hier gegen Roth und zwei weitere ehemalige Führungskräfte. Von Engel hat angeordnet, dass Jaffé bei P&R gesicherte Daten herausgeben muss. Seine Ermittler wühlen sich nun durch Terabytes an E-Mails und Firmendokumenten.
Sie wollen wissen, wer was wusste – und seit wann. Die Aufarbeitung des Falls wird erschwert, weil zwei der Geschäftsführer verstorben sind. Einer nahm sich nach der P&R-Insolvenz das Leben. Roth hat einmal gesagt, dass er mit dem Staatsanwalt kooperiere, seitdem äußert er sich nicht mehr.
Verwalter Jaffé stellt in Aussicht, dass die Container im besten Fall bis zu 1,6 Milliarden Euro einbringen, sollte der Betrieb in der Schweiz aufrechterhalten bleiben. Einige der Stahlboxen könnten dafür bis 2032 auf den Weltmeeren unterwegs sein. So lange müssen Anleger wohl auf die letzte Auszahlung warten – wenn sie denn kommt.
Alois Moosmeyer wäre dann 89 Jahre alt. Der Bodenleger hat sein ganzes Leben lang gearbeitet. Dann vertraute er sein Geld dem Falschen an. Der Falsche, Heinz Roth, lebt nun in einer Villa. Moosmeyer hingegen weiß nicht, wie er die Miete bezahlen soll. Arbeiten kann er nicht mehr, von seiner niedrigen Rente kann er auch nicht leben. Nun steht seine Ehefrau oft schon um vier Uhr morgens auf. Sie geht putzen.
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