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10.09.2018

17:48

Klage gegen Volkswagen

So funktioniert das Musterverfahren der VW-Anleger

Von: Laura de la Motte

Im Fall von massenhaften Schadensfällen stößt die deutsche Justiz an ihre Grenzen. Der Prozess gegen Volkswagen dürfte sich über Jahre hinziehen.

Im Musterverfahren können neben dem Musterkläger auch alle Beigeladenen Anträge stellen und eigene Erkenntnisse einbringen. dpa

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Im Musterverfahren können neben dem Musterkläger auch alle Beigeladenen Anträge stellen und eigene Erkenntnisse einbringen.

Frankfurt In den USA gibt es zivilrechtliche Sammelklagen („class action“) schon seit rund 50 Jahren. Das Besondere dort: Im Erfolgsfall verschafft diese Form des Rechtsstreits nicht nur dem Kläger Ansprüche, sondern jedem, der in gleicher Weise wie der Kläger vom Sachverhalt betroffen ist – unabhängig davon, ob er selbst geklagt hat.

In Deutschland hingegen muss jeder Kläger im Normalfall seine individuelle Betroffenheit, seinen individuellen Schaden und die Kausalität zwischen beidem darlegen und nachweisen. Bei Massenschadensfällen stößt die deutsche Justiz aber schnell an Grenzen.

Das zeigte sich 2004, als das Landgericht Frankfurt mit 17.000 Klagen von Telekom-Anlegern überrannt wurde. Die Kläger forderten Schadensersatz wegen falscher Prospektangaben beim Börsengang. Der Gesetzgeber brachte daraufhin das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) auf den Weg, das zunächst den Beinamen „Lex Telekom“ trug.

Seitdem gibt es zumindest für Anleger eine solche Art Sammelklage in Deutschland. Im Gegensatz zum US-Modell muss jedoch jeder Betroffene in eigenem Namen Klage erheben, um am Ausgang des Musterverfahrens zu partizipieren.

In dem Musterverfahren klärt ein Anleger (Musterkläger) stellvertretend für viele andere eine strittige Frage – beispielsweise, ob eine bestimmte Angabe im Verkaufsprospekt der Aktie falsch ist oder, wie im Fall von VW, ob das Unternehmen die Kapitalmärkte zu spät informiert hat.

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Stellt das Gericht ein Vergehen fest, können sich auch die anderen Anleger in ihren Prozessen darauf berufen. Ob sie aber auch alle weiteren Voraussetzungen für Schadensersatz mitbringen, muss nach wie vor in jedem Einzelfall gerichtlich festgestellt werden.

In der Praxis läuft ein solches Verfahren immer gleich ab: Häufen sich vor einem Landgericht (LG) die Klagen, können die Kläger ein Verfahren nach dem KapMuG beantragen. Finden sich mindestens zehn Kläger, die das Musterverfahren wünschen, wird es vor dem zuständigen Oberlandesgericht (OLG) eingeleitet.

Sechsmonatige Frist für Aktionäre, die sich noch anschließen wollen

Das OLG bestimmt daraufhin einen Musterkläger und einen (oder mehrere) Musterbeklagten. Alle Kläger, die nicht ausgewählt wurden, werden im Musterverfahren zu beigeladenen Klägern. Sämtliche LG-Verfahren werden ausgesetzt – auch diejenigen, bei denen sich die Kläger nicht für das Musterverfahren entschieden hatten.

Anschließend gibt es eine sechsmonatige Frist, während der sich weitere Aktionäre, die bisher nicht vor dem LG Klage eingereicht hatten, durch Eintrag in ein Register dem Musterverfahren anschließen können. Für diese „Trittbrettfahrer“ wird die Verjährung der Ansprüche gehemmt. Eine Klage müssen sie aber noch nicht einreichen.

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Auch nach Ablauf der Sechsmonatsfrist können sich Aktionäre – vorausgesetzt, der Ausgangsfall ist noch nicht verjährt – noch an das Musterverfahren anhängen, indem sie Klage vor dem LG einreichen. Im Fall von VW ist das bis zum Ende dieses Jahres möglich. Diese Verfahren ruhen wie alle anderen LG-Prozesse bis zum Abschluss des Musterverfahrens dann sofort. 

Im Musterverfahren können neben dem Musterkläger auch alle Beigeladenen Anträge stellen und eigene Erkenntnisse einbringen. So verbessert sich nach Meinung von Rechtsexperten das Kräfteverhältnis gerade gegen einen mächtigen Gegner wie einen Großkonzern im Vergleich zu einer Einzelklage.

Der zweite Vorteil sind die geringen Kosten für jeden einzelnen Kläger; jeder Kläger zahlt nur die Gebühr für die erste Instanz, obwohl er ein höchstrichterliches Urteil erhält. Denn nach der Entscheidung des OLG versucht die unterlegene Partei in der Regel noch eine Revision vor dem Bundesgerichtshof (BGH). Im Fall der Telekom wurde das Verfahren sogar erneut vom BGH an das OLG zurückverwiesen und ist bis heute nicht entschieden.

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Christian Wolf, Juraprofessor an der Universität Hannover, hält das VW-Verfahren für weniger komplex als den Telekom-Fall. Trotzdem dürfte sich auch der VW-Prozess über Jahre hinziehen. „Weil die Justizverwaltung für komplexe Verfahren zu wenig Personalressourcen zur Verfügung stellt, dauern diese Prozesse so lange“, sagt Wolf.

Das ist nicht nur für die Kläger, sondern auch für die Beklagten sehr frustrierend. Der Experte begrüßt in diesem Zusammenhang, dass es seit einer Novellierung des KapMuG nun möglich ist, auch im Verfahren einen Vergleich zu schließen.

Der Musterentscheid ist bindend für alle

Das abschließende Urteil, der Musterentscheid, ist bindend für alle Aktionäre. „Mit dem Musterentscheid ist für den einzelnen Anleger noch nichts entschieden“, warnt jedoch Wolf. Denn jeder Kläger muss anschließend seinen individuellen Schaden nachweisen.

Im schlechtesten Fall bekommt ein einzelner Kläger nichts, obwohl das Musterverfahren gewonnen wurde. Die Trittbrettfahrer müssen dann ebenfalls vor dem Landgericht noch eine Klage einreichen, um Ansprüche geltend zu machen.

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