Der Europäische Gerichtshof hat erneut Teile der deutschen Organschaftsregeln als EU-rechtswidrig eingestuft. Findet Deutschland den Mut zur Neuregelung?
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Es gibt eine Vielzahl handwerklicher Fehler bei der Umsetzung der EU-Vorgaben in das deutsche Umsatzsteuergesetz und deren Ausgestaltung in der Anwendungspraxis.
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Frankfurt Die Rechtsfigur der Organschaft ist eine Säule des deutschen Umsatzsteuerrechts. Sie ermöglicht die Zusammenfassung von zivilrechtlich eigenständigen Gesellschaften zu einem einzigen Unternehmer im umsatzsteuerrechtlichen Sinne. Dieser Unternehmer, der Organträger, nimmt sodann die Pflichten aller in den Organkreis einbezogenen Gesellschaften gegenüber dem Finanzamt wahr. Voraussetzung für diesen Zusammenschluss ist, dass die beteiligten Gesellschaften finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert sind.
Bereits in Anbetracht der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu diesen Vorgaben erinnerte diese Säule jedoch stark an ein anderes Bauwerk – den schiefen Turm von Pisa. In zwei aktuellen Urteilen hat nun der EuGH erneut der deutschen Gesetzgebung, der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Auffassung der Finanzverwaltung diesbezüglich einen deutlichen „Schiefstand“ attestiert.
Anders als in Pisa liegt das Problem aber nicht im Baugrund, da die europäischen Vorgaben des Mehrwertsteuerrechts insoweit tragfähig sind. Der Schiefstand folgt aus einer Vielzahl handwerklicher Fehler bei der Umsetzung der EU-Vorgaben in das deutsche Umsatzsteuergesetz und deren Ausgestaltung in der Anwendungspraxis.
So entschied der EuGH, dass es zwar zulässig sei, ausschließlich den Organträger als möglichen Vertreter des Organkreises anzusehen. Eine derartig restriktive Umsetzung sei allerdings nach dem EU-Recht nicht geboten, denn auch anderen Gesellschaften des Organkreises könnte diese Funktion zugedacht werden. Die Grenze des – den Mitgliedstaaten zustehenden – Umsetzungsermessens sei im deutschen Umsatzsteuerrecht aber jedenfalls hinsichtlich der Voraussetzungen zur finanziellen Eingliederung überschritten.
Denn jenseits der Frage nach der Erforderlichkeit eines Über- oder Unterordnungsverhältnisses zwischen Organträger und Organgesellschaft sieht es der EuGH als unzulässig an, dass der Organträger in diesen Fällen dann auch noch über eine Stimmrechtsmehrheit bei den einzugliedernden Gesellschaften verfügen müsse. Die deutsche Finanzverwaltung sieht dies bislang anders.
Die aktuellen Aussagen des EuGH fügen sich nahtlos in seine bisherige Beurteilung der deutschen Organschaftsregelungen ein. So hatte der EuGH auch bereits in den Jahren 2015 und 2021 unter anderem zu der Frage, welche Rechtsnatur Gesellschaften haben müssen, um in den Organkreis einbezogen werden zu können, der einschränkenden Sichtweise des Bundesfinanzhofs (BFH) und der Finanzverwaltung widersprochen.
Dennoch führte die Gesamtheit dieser Beanstandungen nicht zum Einsturz des deutschen Rechtskonstrukts. Es wurde vielmehr unterfüttert und gestützt, aber unverändert im bisherigen Geiste fortgeführt.
Für Unternehmer als Rechtsanwender erwächst hieraus eine allenfalls schwer durchdringbare Komplexität. Da Steuerpflichtige und Finanzverwaltung ohnehin unterschiedliche Auffassungen zum Vorliegen oder auch Nichtvorliegen einer Organschaft haben, wird „gefühlt“ letztlich eine Vielzahl von Fallgestaltungen ohnehin einer finanzgerichtlichen Überprüfung unterzogen.
Nunmehr stellt sich die Frage, ob die Finanzverwaltung das bisherige Flickwerk fortführen will oder ob sie – in Zusammenarbeit mit dem Gesetzgeber – eine Neuregelung schafft, welche sodann die Versatzstücke aus EuGH-Rechtsprechung und Praktikabilität berücksichtigt und in Einklang bringt. Attraktionen gäbe es, auch in der Umsatzsteuer, weiterhin genügend.
Nils Bleckmann ist Autor bei der Fachzeitschrift „Betriebsberater“ und Partner bei der WTS GmbH. Dieser Artikel stammt aus der Kooperation zwischen dem Handelsblatt und der Fachzeitschrift „Der Steuerberater“.
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