Der mutmaßliche Angreifer in einem Regionalzug war bereits wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Gegen ihn wurde nun ein Haftbefehl erlassen.
Innenministerin Nancy Faeser gedenkt den Toten in Brokstedt
Die zwei Todesopfer waren ein 17-jähriges Mädchen und ein 19-jähriger Junge.
Bild: dpa
Hamburg, Brokstedt Die Fahnen auf öffentlichen Gebäuden im Norden wehen auf halbmast; im Kieler Landtag sind am Donnerstag viele der bedrückt wirkenden Abgeordneten und Kabinettsmitglieder schwarz gekleidet. „Ich bin tieftraurig“, sagt Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) angesichts des tödlichen Messerangriffs in einem Regionalzug am Mittwoch. Sie dankt dem „mutigen, ja heldenhaften Einsatz einiger Mitreisender“, die den Täter in dem Zug überwältigt hatten.
Bei der Attacke in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg starben eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger. Fünf weitere Menschen wurden verletzt. Drei von ihnen lagen am Donnerstag noch im Krankenhaus, zwei mussten operiert werden. Gegen den mutmaßlichen Täter, einen 33 Jahre alten staatenlosen Palästinenser, wurde am Donnerstag Haftbefehl erlassen. Ihm werde zweifacher heimtückischer Mord und viermal versuchter Totschlag vorgeworfen, sagte Oberstaatsanwalt Peter Müller-Rakow. Das Motiv des Mannes blieb zunächst unklar.
„Wir sind mit Hochdruck dabei, sämtliche Fakten zusammenzutragen“, sagt die Innenministerin auf die Frage nach einem Tatmotiv. „Ich möchte zudem ausdrücklich sagen, dass die Taten zu frisch sind und die Erkenntnisse noch nicht ausreichen, um bereits heute politische Schlussfolgerungen anzustellen oder Forderungen aufzustellen.“
In Brokstedt, wo der Zug nach der furchtbaren Attacke stehenblieb, sind die Menschen tief erschüttert. Im Zug nach Hamburg fahren an diesem Tag bewaffnete Polizisten mit und gehen durch die Abteile. Auf dem Bahnhof stehen drei Mitarbeiter der DB Sicherheit. Mit ihrer Anwesenheit wollten sie Reisenden ein Sicherheitsgefühl vermitteln, sagt einer von ihnen.
Im Wartehäuschen am Gleis Richtung Hamburg legen Menschen Blumen und Kerzen nieder. Ein ganz in schwarz gekleideter junger Mann hält einen Strauß weißer Tulpen in der Hand. Er sei ein Freund des Getöteten, sagt er. „Never forget my Man“ steht neben einem Herz auf einem Zettel, den er mit den Blumen im Wartehäuschen ablegt. Jürgen Schröder ist auf dem Rückweg nach Kiel, wartet am gegenüberliegenden Gleis auf den Zug. Heute steige er mit einem mulmigen Gefühl ein, sagt der 59-Jährige. Angst habe er aber keine.
Über den mutmaßlichen Täter wurde unterdessen bekannt, dass er 2014 nach Deutschland kam. Bis Ende 2020 war er in Nordrhein-Westfalen gemeldet. Nach dpa-Informationen wurde er in dieser Zeit mehrfach wegen verschiedener Straftaten auffällig. Laut Sicherheitskreisen ging es unter anderem um Verfahren wegen Bedrohung, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Ladendiebstahls und sexueller Belästigung. Mehrere Medien hatten zuvor berichtet.
Mitte August 2021 sei die Zuständigkeit dann auf die Ausländerbehörde in Kiel übergegangen. Zuletzt war der 33-Jährige nach Polizeiangaben ohne festen Wohnsitz. Als staatenloser Palästinenser wurde ihm der sogenannte subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Das heißt, der Mann konnte Gründe vorbringen, warum man ihn nicht abschieben sollte. 2021 sei ein Verfahren auf Rücknahme des subsidiären Schutzes eingeleitet worden. Wie dieses ausging, blieb zunächst unklar. Der Innen- und Rechtsausschuss habe vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Bericht zu dem Fall angefordert.
Der Mann saß zuletzt wegen eines anderen Messerangriffs in Hamburg ein Jahr in Untersuchungshaft. Er sei im August 2022 vom Amtsgericht Hamburg-St. Georg zu einem Jahr und einer Woche wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahls verurteilt worden, teilte Gerichtssprecher Kai Wantzen mit.
Dem nicht rechtskräftigen Urteil zufolge hatte der Mann im Januar 2022 einen Mann vor einer Hamburger Obdachlosenunterkunft mit einem Messer angegriffen und verletzt. Beide hätten in einer Schlange zur Essensausgabe gestanden und seien in Streit geraten.
Gegen das Urteil hatte der 33-Jährige Berufung eingelegt. Das Landgericht habe zunächst Nachermittlungen veranlasst, außerdem habe es terminliche Schwierigkeiten mit einem Sachverständigen gegeben. Deswegen habe ein Termin für einen neuen Prozess nicht angesetzt werden können. Weil die Dauer der Untersuchungshaft die Strafe des Amtsgerichts zu überschreiten drohte, habe das Landgericht den Haftbefehl am 19. Januar aufgehoben. Da nur der Verurteilte Berufung gegen das Urteil eingelegt hatte, hätte das Landgericht keine längere Haftstrafe aussprechen dürfen, erklärte Wantzen.
Dass er dann freikam, wurde der Stadt Kiel laut Stadtrat Christian Zierau nicht mitgeteilt. In Schleswig-Holstein gab es den Ermittlern zufolge keine Verfahren gegen den Verdächtigen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat den Umgang der Behörden mit dem zuvor bereits straffällig gewordenen Verdächtigen infrage gestellt. Es müsse aufgeklärt werden, „wie konnte es sein, dass ein solcher Täter noch hier im Land war“, sagte sie bei einem Besuch in Brokstedt. „Wie konnte das passieren, dass er trotz so vieler Vorstrafen nicht länger in einer Justizvollzugsanstalt war. Wie konnte es passieren, dass er so früh aus der Untersuchungshaft wieder entlassen wurde.“
Wenige Tage vor der tödlichen Messerattacke ist der mutmaßliche Täter psychiatrisch beurteilt worden – ohne dass dabei besondere Auffälligkeiten festgestellt wurden. Schon im Rahmen seiner knapp einjährigen Untersuchungshaft wegen eines Gewaltdelikts sei er in der Hamburger Justizvollzugsanstalt Billwerder psychiatrisch betreut worden, teilte die Hamburger Justizbehörde am Donnerstag mit. Grund für die Betreuung seien Tätlichkeiten gewesen, in die er zwei Mal während der Haft verwickelt gewesen sei.
„Ein Psychiater hat kurz vor der Entlassung keine Fremd- und Selbstgefährdung festgestellt“, sagte eine Behördensprecherin. Deshalb habe es auch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür gegeben, eine rechtliche Betreuung zu beantragen oder den Sozialpsychiatrischen Dienst einzuschalten. „Anders als bei der Außervollzugsetzung eines Haftbefehls bestehen bei der Aufhebung eines solchen keine Möglichkeiten, Auflagen oder Weisungen zu erteilen.“
Ausreisepflichtig war der 33-Jährige laut Kieler Integrationsministerium im Übrigen nicht. Noch am Mittwoch war der Verdächtige bei der Kieler Ausländerbehörde, um eine Aufenthaltskarte zu beantragen, wie Innenministerin Sütterlin-Waack sagte. Von dort sei er zum Einwohnermeldeamt geschickt worden. Wenig später stieg er in den Zug Richtung Hamburg.
Wichtige Fragen blieben noch offen. Aus welchem Land war der 33-Jährige 2014 nach Deutschland gekommen? Wo hielt er sich 2021 monatelang auf? Wie ist das eingeleitete Verfahren auf Rücknahme des subsidiären Schutzes ausgegangen?
Ohne all dies zu wissen, fahren Sütterlin-Waack und Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) am Nachmittag nach Brokstedt, wo sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) angekündigt hatte. Sie gedenken dort der Opfer. Gemeinsam mit Sütterlin-Waack und Brokstedts Bürgermeister Clemens Preine legen sie am Wartehäuschen auf dem Bahnsteig weiße Rosen nieder. Im Anschluss wollten sie mit Polizisten, Feuerwehrleuten und Rettungssanitätern sprechen, die an dem Einsatz am Mittwoch beteiligt waren. Es sei ihr wichtig, „den Menschen danken zu können, die hier waren und so schnell geholfen haben“, sagte Faeser.
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