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03.07.2022

15:52

CGM-System

Ärzte sehen große Vorteile in digitaler Diabetestherapie

Von: Lukas Hoffmann

Diabetikern erleichtert die kontinuierliche Blutzuckermessung via Sensor ihren Alltag. Für die Barmer sind die Messgeräte aber ein hoher Kostenfaktor.

Die Sensorpflaster erleichtern das Leben der Patienten. imago images/Panthermedia

Diabetes

Die Sensorpflaster erleichtern das Leben der Patienten.

Köln Das Sensorpflaster ist nur so groß wie eine Zwei-Euro-Münze. Es könnte das Leben von Ümit Sahin erheblich erleichtern. Der 39-jährige selbständige Verkäufer hat Diabetes. Vor und nach den Mahlzeiten muss er sich mit einer feinen Lanzette in den Finger piksen. Der Tropfen Blut kommt auf einen Teststreifen, ein Blutzuckermessgerät verrät Sahin seinen Zuckerwert.

„Ich komme oft zu Kunden nach Hause, um Elektrogeräte anzuschließen“, sagt er. „Meist kenne ich meine Blutzuckerwerte dann nicht, und muss das selbstgebackene Stück Kuchen ablehnen.“ Seine Zurückhaltung stoße auf Unverständnis, aber er könnte sich nicht bei jedem Essensangebot zurückziehen, um seinen Blutzucker zu messen.

Ein digitales System würde die Kundenbesuche für Sahin einfacher machen. Es heißt Continuous Glucose Monitoring (CGM). Dabei misst ein Sensor, der auf den Oberarm oder den Bauch geklebt wird, rund um die Uhr den Glukosegehalt in der Gewebeflüssigkeit des Unterhautfettgewebes. Das Ergebnis wird an ein Anzeigengerät oder das Smartphone gesendet. Sahin hat es getestet. „Ein Handy hat man immer in der Hand“, sagt er. „Ich nehme es raus, halte es an den Arm, und bekomme den Wert angezeigt.“

Kosten für CGM-Systeme werden im Einzelfall übernommen

Noch nutzt Sahin das CGM-System nicht im Alltag. Sein Diabetologe muss bei seiner Krankenkasse erst einen Antrag stellen. Und selbst dann ist nicht sicher, dass sie es bezahlt. Die Kosten werden nur im Einzelfall übernommen. Der medizinische Dienst der Krankenkasse prüft die Notwendigkeit und stimmt zu oder lehnt ab.

Bei rund acht Millionen Menschen in Deutschland wurde Diabetes laut der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) sicher diagnostiziert. Hinzu kommt eine Dunkelziffer von rund zwei Millionen Menschen, die nichts von ihrer Erkrankung wissen. Man unterscheidet zwei Typen. Von Diabetes-Typ-1 sind vor allem Kinder betroffen, ihr Körper produziert kein Insulin. Etwa 95 Prozent der Betroffenen leiden an Diabetes Typ 2. Hier wird der Körper mit zunehmendem Alter unempfindlicher gegenüber Insulin.

Kassen erstatten die CGM-Systeme vor allem bei Typ-1-Diabetikern. Der hier zum Teil stark ansteigende oder abfallende Blutzuckerspiegel kann für Betroffene lebensgefährlich sein. Bei Menschen, die an Diabetes-Typ-2 erkrankt sind, prüft die Kasse nur eine Erstattung, wenn eine Insulintherapie durchgeführt wird. Bei Sahin könnte es inzwischen so weit sein. „Ich habe eine Insulinresistenz aufgebaut, die Tabletten wirken nicht mehr. Deshalb muss ich mir Insulin spritzen“, sagt er.

Das CGM-System soll Standard für alle Diabetiker werden

Für Bernhard Kulzer, leitender Psychologe an der Diabetes Klinik Bad Mergentheim, kommt die Antragsprüfung in diesem Krankheitsstadium zu spät. Er ist davon überzeugt, dass CGM in Zukunft die Blutzuckermessung ablösen wird und der neue Standard für alle Menschen mit Diabetes sein wird. Auch Baptist Gallwitz, stellvertretender ärztlicher Direktor der Medizinischen Klinik IV am Universitätsklinikum Tübingen und Pressesprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), sieht im CGM-System einen „eindeutig großen Vorteil für den Patienten und den Arzt“. Dank der kontinuierlichen Messung sehe man, wohin sich die Werte entwickeln und könnte als Patient früh gegensteuern.

Gallwitz sieht insbesondere bei geriatrischen Patientinnen mit Insulintherapie große Vorteile: „Das CGM-System kann Pflegedienste oder Angehörige bei der Betreuung von pflegebedürftigen Menschen helfen“, sagt er. Bei Unter- oder Überzuckerung könne ein entsprechendes Alarmsignal auch auf ein viele Kilometer entferntes Smartphone gesendet werden.

Die Technik beschäftigt nicht nur Ärztinnen, sie ist auch ein dominierendes Thema bei Patienten. Im aktuellen Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes des Forschungsinstituts der Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM) wurden im vergangenen Herbst 2700 Personen mit Diabetes beziehungsweise deren Eltern online befragt. Auf Platz 1 der wichtigsten digitalen Themen für Patienten mit Diabetes Typ 2 ist die Software zur Analyse von Glukosedaten.

14 verschiedene CGM-Systeme werden von der Kasse erstattet

Kontinuierlich werden neue CGM-Systeme in die Hilfsmittelliste der Krankenkassen aufgenommen. Hersteller von CGM-Systemen sind Medizintechnik-Unternehmen wie Medtronic aus Irland, Dexcom aus den Vereinigten Staaten, auch der US-Pharmakonzern Abbott bietet zwei Systeme an. Erst vergangene Woche hat das chinesische Unternehmen Zheijang Poctech die Kassenzulassung für sein CGM-System erhalten. Inzwischen werden 14 verschiedene CGM-Systeme von den Kassen erstattet.

Die Sensoren müssen jede zweite Woche gewechselt werden und kosten zwischen 50 und 100 Euro pro Monat, schätzt Gallwitz. Hinzu kommen noch einige hundert Euro für die einmalige Anschaffung des Messgeräts. Für die Kasse seien das überschaubare Ausgaben, findet er. „Die Kosten für ein CGM-System liegen nicht viel höher, als wenn man sechs bis acht Mal am Tag den Blutzucker misst“, sagt Gallwitz. Psychologe Kulzer sieht darüber hinaus eine langfristige Kosteneinsparung: „70 Prozent der Gesamtkosten für Diabetes entstehen durch die Behandlung von Folgeschäden. CGM-Systeme verbessern die Kontrolle des Blutzuckers, reduzieren Folgeerkrankungen und vermindern akute Komplikationen."

Barmer schätzt Kosten pro CGM-System auf 2400 Euro pro Jahr

Die Barmer sieht das anders. Sie hat dem Thema in ihrem kürzlich erschienen Heil- und Hilfsmittelreport ein Extrakapitel gewidmet. Pro CGM-System würden der Kasse jährliche Mehrkosten von 2000 Euro entstehen, schreibt sie. Die Kosten mittels Teststreifen würden bei 300 bis 500 Euro jährlich pro Patienten liegen, für die CGM-Geräte und Sensoren zahle sie etwa 2400 Euro pro Patient. Die Barmer hätte im Jahr 2020 deshalb Mehrkosten in Höhe von mehr als 100 Millionen Euro tragen müssen. Hochgerechnet auf alle Kassen seien durch die CGM-Systeme im Jahr 2020 zusätzliche Ausgaben von einer Milliarde Euro entstanden.

Auch die Wirksamkeit der CGM-Messung zweifelt die Barmer an und verweist auf die Untersuchung eigener Behandlungsdaten. In den Jahren 2018 bis 2020 hat sie die Versorgung von 12.000 Diabetikern mit CGM-System mit 12.000 Diabetikern ohne Gerät verglichen. Dabei zeigte sich, dass CGM-Geräte nicht zu weniger Arzt- und Krankenhausbesuchen führen. Im Gegenteil: Die 12.000 Barmer-Versicherten mit CGM-Geräten waren laut der Untersuchung sogar öfter beim Arzt oder im Krankenhaus.

Die Barmer schlägt vor, dass Untersuchungen wie die ihrige, bei den Diskussionen über die Erstattung von CGM-Geräten zukünftig berücksichtigt werden. Für wen und ab wann ein CGM-System von der Kasse bezahlt wird, hat der zuständige gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Jahr 2016 in einer Regelung festgelegt. Auf Anfrage teilt der GB-A mit, dass derzeit keine neuen Beschlüsse für CGM-Systeme vorbereitet werden.

Gallwitz zweifelt die Kostenrechnung im Barmer Heilmittelreport an. „Die Barmer schätzt insgesamt die Kosten für die Blutzuckermessung mit Streifen sehr gering ein. Das kann daran liegen, dass davon ausgegangen wird, dass Menschen mit Typ-2-Diabetes nur ein, oder zwei Mal am Tag messen.“ Das sei eine zu niedrige Schätzung. Auch den im Barmer Bericht dargestellten häufigeren Arzt- oder Krankenhausbesuch von Diabetikern mit CGM-Systemen hinterfragt er: „Ich kann mir vorstellen, dass ein Patient mit Begleiterkrankungen eher ein CGM-Gerät verordnet bekommt“, sagt er. Solche „kränkeren“ Patienten müssten sich auch öfter beim Arzt vorstellen, ob mit oder ohne CGM-Technik.

Wenn die Kasse den Antrag auf das CGM-System negativ beurteilt, bleibt es manchen Menschen mit Diabetes verwehrt. Zumindest Ümit Sahin würde darauf verzichten, wenn er die Kosten selbst tragen muss. Er glaubt, dass sein Alltag durch den Sensor einfacher würde. Außerdem hat er beim Testen des Sensors festgestellt, dass er sich seiner Erkrankung bewusster wird, wenn der Blutzuckerwert immer verfügbar ist. „Man spürt die Krankheit im Alltag nicht und ignoriert sie gerne mal. Langfristig ist das aber nicht gesund.“

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