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16.10.2022

11:47

Entscheidungshilfen

Digitale Tools unterstützen Anästhesisten

Von: Jan Wittenbrink

Im Ernstfall müssen Anästhesisten unter hohem Zeitdruck lebenswichtige Entscheidungen treffen. Digitale Hilfsmittel können helfen, klaren Kopf zu bewahren – und sogar Notfälle vorhersagen.

Digitale Tools können Anästhesisten bei Entscheidungen unterstützen. IMAGO/Addictive Stock

Entscheidungshilfe im OP-Saal

Digitale Tools können Anästhesisten bei Entscheidungen unterstützen.

Im Ernstfall zählt jede Sekunde: Auch wenn die Vollnarkose während einer OP in der Regel völlig problemlos verläuft, kann es in seltenen Fällen zu lebensbedrohlichen Situationen kommen – von der Lungenembolie bis hin zur Vergiftung. Die behandelnden Anästhesisten müssen dann unter hohem Druck die richtigen Entscheidungen treffen.

Für solche Szenarien ist die App eGENA entwickelt worden – eine digitale Gedächtnis- und Entscheidungshilfe für Notfälle in der Anästhesie. Menschen neigten dazu, in sehr stressigen Situationen Fehler zu machen, sagt Projektleiter Michael St.Pierre, Oberarzt an der Anästhesiologischen Klinik des Universitätsklinikums Erlangen – selbst wenn sie eigentlich genau wüssten, was zu tun ist. „Bei Ärzten kann das etwa bedeuten, dass sie vorschnell bei ihrer ersten Diagnose bleiben und Handlungsalternativen ausschließen.“

Digitale Tools können die Sicherheit im OP erhöhen, indem sie intuitiv Handlungsschritte ins Gedächtnis rufen – oder sogar voraussehen, ob ein Notfall kurz bevorstehen könnte. Noch stoßen solche Hilfsmittel bei vielen Anästhesisten eher auf Skepsis, doch an einigen Kliniken wird die Entwicklung vorangetrieben.

Vergleich mit Checklisten in der Luftfahrt

Projektleiter St.Pierre vergleicht die eGENA-App mit Sicherheitssystemen in der Luftfahrt. „Im Cockpit eines Flugzeugs orientiert man sich im Notfall an Checklisten mit klaren Handlungsempfehlungen“, sagt St.Pierre. In der Medizin dagegen seien solche Entscheidungshilfen kaum verbreitet. Schon lange trieb ihn die Frage um, in welcher Form man Anästhesisten eine Art Notfallcheckliste an die Hand geben könnte.

Ins Rollen kam das Projekt ab 2015 durch Gelder der Funk Stiftung, einer Stiftung für Projektförderung im Risikomanagement. So entstand in Zusammenarbeit mit dem Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA) und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) eine Arbeitsgruppe, welche die heute kostenlos verfügbare browserbasierte App von Grund auf entwickelte.

Die Herausforderung: „Biologische Systeme sind viel komplexer als technische Systeme wie in der Luftfahrt“, sagt St.Pierre. Wenn zum Beispiel ein Pulsoximeter während der OP ein Absinken des Sauerstoffgehalts im Blut anzeige, könne das viele unterschiedliche Ursachen haben – abhängig auch vom Körperbau und von Vorerkrankungen der Patienten sowie aktuell gemessenen Vitalwerten. „Das ist der Vorteil einer digitalen Anwendung“, sagt St.Pierre – die Nutzer könnten bestimmte Faktoren auswählen und dadurch für den jeweiligen Fall passende Handlungsempfehlungen erhalten. eGENA ist intuitiv gestaltet – mit Piktogrammen und abzuhakenden Sofortmaßnahmen.

Die App ist seit 2020 verfügbar, seit 2021 auch als Smartphone-Variante. So könnten verschiedene Personen im OP-Saal die App individuell nutzen – von der Ärztin bis zum Assistenten. Zudem können Kliniken die App an einigen Stellen individualisieren – und etwa wichtige Telefonnummern oder den Standort des Defibrillators hinterlegen. St.Pierre setzt eGENA auch im eigenen Klinikalltag ein – so wie immer mehr Kliniken.

Ziel ist es, mit Fachgesellschaften im Ausland zusammenzuarbeiten. Wurde die Verbreitung zunächst durch die Überlastung der Kliniken in der Pandemie ausgebremst, ist die App seit diesem Jahr nun auch in Österreich verfügbar und in der Schweiz in Vorbereitung, weitere Länder sollen folgen.

KI sagt Blutdruckabfall voraus

Auf Künstliche Intelligenz setzt eine in der Klinik für Anästhesiologie des Marien Hospital Herne genutzte Entscheidungshilfe: eine Technologie, die einen plötzlichen Blutdruckabfall bei Patienten vorhersagen kann, bevor er eintritt. „Wir können sozusagen in die Zukunft schauen – das revolutioniert die Anästhesie“, sagt Klinikdirektor Ulrich Frey. Die Software „Acumen Hypotension Prediction Index“ (HPI) ist vom amerikanischen Medizintechnik-Unternehmen Edwards Lifesciences entwickelt worden.

Ein Blutdruckabfall während einer OP kann schon nach kurzer Zeit zu Komplikationen führen und etwa bleibende Nierenschäden verursachen. Daher muss schnell gegengesteuert werden – je nach Ursache etwa mit der Gabe von Medikamenten oder einer Flüssigkeitszufuhr. Die Technologie misst den Blutdruck kontinuierlich über einen Katheter in der Armschlagader, ein Monitor zeichnet eine entsprechende Kurve auf. „Veränderungen der Kurve sind häufig so subtil, dass das menschliche Auge sie gar nicht wahrnehmen kann“, sagt Frey.

Die mit entsprechenden Daten trainierte Software sei jedoch in der Lage, anhand des Verlaufs der Kurve die Wahrscheinlichkeit für einen bevorstehenden Blutdruckabfall zu bestimmen. Das System kann somit Alarm schlagen – und zusätzlich die wahrscheinliche Ursache angeben. „So können wir frühzeitig reagieren.“ Eine von der Klinik selbst durchgeführte Studie habe ergeben, dass unter Einsatz der KI fünfmal weniger Blutdruckabfälle während Operationen auftraten.

Derzeit setzt die Klinik die Technologie etwa drei bis vier Mal pro Woche ein. Sie eigne sich für bestimmte Operationen, sagt Frey – etwa Hochrisiko-OPs wie die Entfernung der Blase. Auch bei Patienten mit bestimmten chronischen Krankheiten treten häufiger Notfälle auf. Die Herner Klinik war deutschlandweit das erste Krankenhaus, das die Software außerhalb klinischer Studien eingesetzt hat. Man sehe sich als Vorreiter, sagt Frey – es gelte auch Vorbehalte abzubauen. Man biete daher auch Workshops für andere Krankenhäuser an.

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