Julia Bangerth ist COO im Vorstand des Nürnberger Software- und IT-Dienstleisters Datev. Sie hatte ein Heimspiel und traf in der Frankenmetropole am Johannes-Scharrer-Gymnasium Nürnberg die Zehntklässler mit den Schwerpunkten Wirtschaftsinformatik sowie Wirtschaft und Recht.
„Chef zu gewinnen“
Julia Bangerth (3. v.l.) ist COO im Vorstand des Nürnberger Software- und IT-Dienstleisters Datev. Sie hatte ein Heimspiel und traf in der Frankenmetropole am Johannes-Scharrer-Gymnasium Nürnberg die Zehntklässler mit den Schwerpunkten Wirtschaftsinformatik sowie Wirtschaft und Recht.
Bild: Bernd Telle für Handelsblatt
Alle Chef-Besuche fanden vor Ausbruch der Corona-Pandemie statt.
Die Handelsblatt-Aktion „Chef zu gewinnen“ bringt jedes Jahr Topmanager in deutsche Schulen, wo sie sich den Fragen der angehenden Abiturienten rund um Berufs- und Karrierechancen stellen, aber auch ihre ganz persönlichen Erfolgstipps verraten.
Der Chef-Besuch in der Schule ist aber längst nicht alles: Bei einem Gegenbesuch auf der Chefetage erfahren die Oberstufenschüler, wie der Alltag „ihres“ Managers aussieht, wie in seinem Unternehmen gearbeitet wird – und ob es vielleicht sogar ein künftiger Arbeitsplatz für sie selbst sein könnte.
Die „Chef zu gewinnen“-Aktion ist ein fester Bestandteil der Initiative „Handelsblatt macht Schule“, mit der die Tageszeitung Wirtschafts- und Managementthemen stärker im Unterricht deutscher Schulen verankern möchte. Mehrere Dutzend Topmanager haben auf diese Weise schon ihre Erfahrungen mit Tausenden von Schülern geteilt.
Lust mitzumachen und einen Chef zu gewinnen? Hier geht es zu den Teilnahmebedingungen.
Frau Bangerth, Sie haben einen sehr bunten Lebenslauf. War das mal ein Problem?
Nein, im Gegenteil, ich empfinde das als großes Glück. Ich habe dadurch unheimlich viele unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Was immer sehr nützlich ist. Aber Sie haben Recht, früher hat man einen Beruf gelernt und viele sind damit auch in Rente gegangen. Heute und in Zukunft wird es aufgrund der hohen Veränderungsdynamik immer weniger geradlinige Lebensläufe geben.
Klassische Bewerbungsgesprächsfrage: Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
Gute Frage. Auf die ich leider keine einfache Antwort habe. Ich denke, diese Frage kann im Moment niemand wirklich beantworten. Realistisch kann man heute vielleicht noch die nächsten zwei Jahre abschätzen. Oder ein grobes Fernziel angeben. Zurzeit ist einfach so viel im Wandel, dass es unmöglich ist zu sagen, wie die Welt, wie die Wirtschaft in zehn Jahren aussehen wird. Für mich war und ist immer wichtig, Dinge zu tun, die mir Spaß machen – und die einen Wert stiften fürs Unternehmen, für Kunden. Wert stiften, das ist für mich ein ganz relevanter Punkt.
Dann mal anders gefragt: Wo wollen Sie mit der Datev in zehn Jahren sein?
Unser Vorteil ist, dass Software schon immer unser Thema war und ist. In den 1950ern waren wir in der Datenverarbeitung mit Lochstreifen führend und haben technologische Entwicklungen kontinuierlich aufgegriffen. Die Digitalisierung ist für uns also keine Überraschung. Die technologischen Sprünge kommen aber exponentiell schneller. Im Jahr 2000 gab es beispielsweise weltweit erstmals mehr Mobilfunkverträge als klassische Telefonanschlüsse. Wobei das klassische Telefon da schon 100 Jahre existierte, Mobilfunk gerade mal 10 Jahre.
Unternehmen müssen in der Lage sein, dieses rasante Tempo mitzugehen. Deshalb ist es aus meiner Sicht wichtig, die Datev dynamikrobust zu machen. Anpassungsfähig, veränderungswillig. Das ist mein Ziel fürs Unternehmen: Es dauerhaft so flexibel zu halten, dass wir auch zukünftig unsere Kunden mit unseren Produkten begeistern und auf ihre sich verändernde Bedürfnisse reagieren können.
Sie haben einige tausend Mitarbeiter. Wie macht man ein so großes Unternehmen flexibel und anpassungsfähig?
Das ist ein Mix aus vielen Bausteinen. Wir haben zum einen Scouts, die die Märkte beobachten, die die Themen in Politik und Gesetzgebung im Auge behalten, die wissen, welche Gesetzgebungsverfahren und welche rechtlichen Anforderungen für uns relevant werden.
Zudem arbeiten wir in unserem Datev Lab mit anderen Unternehmen, mit Startups zusammen und schauen, welche neuen Technologien wie etwa die Blockchain spannend für uns sein könnten.
Und ganz wichtig in Sachen Anpassungsfähigkeit ist die Unternehmensorganisation. Wir waren früher klassisch in Bereiche organisiert. An der Spitze der oberste Chef und darunter dann eine Hierarchiestufe nach der anderen.
Das hat in Unternehmen viele Jahre gut funktioniert. Aber spätestens seit Beginn der Coronakrise dürfte in jedem Unternehmen die Erkenntnis gereift sein, dass dieses Modell zu langsam ist, dass die Entscheidungswege zu umständlich sind. Wir haben jedenfalls in den letzten Monaten sehr deutlich sehen können, wie sehr unsere Transformation dabei geholfen hat, schnell und flexibel in der Krise reagieren zu können.
Wie wird ein Unternehmen dann schneller?
Indem man Strukturen, Prozesse und Entscheidungswege bewusst auf den Prüfstand stellt. Wir haben uns ein Jahr Zeit genommen, analysiert und ausgetüftelt, wie wir unsere Rahmenbedingungen bestmöglich weiterentwickeln. Das muss jedes Unternehmen individuell für sich finden. Einfach Google oder Apple kopieren funktioniert nicht.
Von den 8.000 Kollegen fanden sich am Ende schätzungsweise 6.500 an anderer Stelle im Unternehmen wieder, teils mit neuen, teils mit alten Aufgaben – aber für alle hat sich unsere Form der Zusammenarbeit geändert. Wir arbeiten transparenter, entscheiden transparenter. Wir sind in diesem Modell noch nicht so lange unterwegs – seit 2019 – aber das, was wir bislang davon sehen, funktioniert sehr gut.
Wenn Sie nicht mehr hierarchisch organisiert sind, wie fallen dann jetzt Entscheidungen?
Wir haben uns zu Beginn des Prozesses gefragt: Wie müssen wir arbeiten, damit diejenigen, die das meiste Wissen zu einem Thema haben, auch die Entscheidungen treffen? Das sind in vielen Fällen die Mitarbeitenden selbst und nicht die Vorgesetzten. Wie organisieren wir uns also, damit möglichst wenig Schnittstellen entstehen?
Die Antwort lautet: Durch crossfunktionale Teams, wobei die Teams im Zeitverlauf je nach Bedarf unterschiedlich zusammengesetzte Kompetenzen und Kapazitäten umfassen. Dadurch werden wir flexibler und entscheiden schneller. Wo wir früher 60 Entscheidungsboards hatten, sind es jetzt noch drei. Eines davon ist der Vorstand. Nur die großen Rahmenbedingungen werden noch in diesen Gremien gesteckt. Die übrigen Entscheidungen fällen die Teams in ihren Arbeitsbereichen in der Regel nun selbst.
Wie sieht für Sie die ideale Führungskraft aus?
Die ideale Führungskraft ist für mich jemand, der Menschen entwickelt und der sie befähigt, sich selbst weiterzuentwickeln.
Wie hilft man Menschen sich weiterzuentwickeln?
Indem man zum Beispiel die richtigen Rahmenbedingungen schafft. Wenn Sie Menschen mit Bürokratie erschlagen, ist es für sie schwierig, eigenständig zu denken. Wenn man alles totregelt – und das ist in Unternehmen ab einer gewissen Größe eine große Gefahr – dann hören Mitarbeiter auf zu denken. Ziel muss es also sein, Regeln und Bürokratie abzubauen und durch Prinzipien zu ersetzen, um Freiräume zu schaffen.
Wichtig ist auch, diejenigen zu unterstützen, die Dinge in Frage stellen, die etwas neu oder anders machen wollen. Solchen Menschen muss ein Unternehmen Raum geben.
Haben Sie dazu mal ein konkretes Beispiel, wie Sie das machen?
Wir haben zum Beispiel Communitys, in denen sich Mitarbeiter, die sich für ein bestimmtes Thema interessieren, zwanglos und ohne Anmeldung treffen. Darunter gibt es welche, die sich über Veränderungspotenziale austauschen. Und wenn von denen Anregungen kommen, schauen wir, was wir übernehmen können und was aus bestimmten Gründen vielleicht so bleiben muss. Unterm Strich geht es immer darum, Menschen über verschiedene Kanäle die Möglichkeit zu geben, das Unternehmen aktiv mitzugestalten.
Frau Bangerth, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Mehr: Aktion „Chef zu gewinnen“ – hier finden Sie die Topmanager und Topmanagerinnen im Porträt.
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