Der Fachkräftemangel in der IT war zuletzt auf Rekordniveau. Abhilfe könnten Express-Ausbildungen für Quereinsteiger schaffen. Ein Besuch.
IT-Fachkräfte dringend gesucht
Bootcamps gleichen einer digitalen Druckbetankung. Doch Absolventen können sich den künftigen Arbeitsplatz aussuchen.
Bild: Sergey Nivens - stock.adobe.com
Köln Gegen den Fachkräftemangel zu kämpfen, das kann in Corona-Zeiten ganz schön einsam sein. Ein Neubau zwischen dem hippen Kölner Stadtteil Ehrenfeld und einem Industriegebiet mitten im Coronajahr 2020. Malte Bonart steht in einem Seminarraum – und blickt in zwei Gesichter. Der Rest ist per Video zugeschaltet.
Bonart ist Trainer eines sogenannten Coding Bootcamps, eines Crashkurses für Fach- und Führungskräfte, die Programmieren lernen möchten. Eigentlich, sagt der Experte, versuche er in seinen Kursen die Leute gerne auch vom Bildschirm wegzubewegen und etwas am Whiteboard oder auf Papier zu erklären.
Nun wechselt er hin und her – zwischen den Teilnehmern im Raum und denen, die ihn von einem großen Bildschirm aus anschauen. Der Ton dröhnt aus allen Laptops. Irgendwann atmet Bonart tief aus: „Wir müssen uns noch einspielen.“
Fünf junge Frauen und Männer hören dem Kurs des Trainers bei der „Spiced Academy“ virtuell und analog zu. Ein promovierter Biologe ist darunter, eine Geisteswissenschaftlerin und ein Ingenieur aus der Autoindustrie. Sie alle wollen ihrer Karriere auch – oder gerade – in Corona-Zeiten einen Schub verleihen, etwas Neues lernen.
Und das vor allem schnell. Zwölf Wochen dauert die Intensivausbildung im Bootcamp, dann dürfen sich die Teilnehmer „Data Scientist“ nennen. Ein gefragter Job; gerade im Bereich Big Data, also der Verarbeitung und Auswertung riesiger Datenmengen, herrscht in vielen Unternehmen Mangel an guten Leuten.
Und nicht nur dort: Laut Branchenverband Bitkom waren 2022 rund 137.000 Stellen für IT-Spezialisten offen – ein neuer Höchststand. Die Pandemie hat der Digitalisierung in vielen Branchen einen Schub verpasst. Dafür braucht es IT-Fachkräfte.
Genau hier springen Anbieter wie „Spiced“, „Neue Fische“, „Ironhack“, „Careerfoundry“ oder „AW Academy“ mit ihren Coding Bootcamps ein. Oft wird das Format als Alternative zum klassischen Informatikstudium beworben, das vielen ohnehin als zu praxisfern gilt. „Gerade Menschen, die schon einen anderen Beruf gelernt haben, können in Bootcamps schnell und praktisch Fachwissen lernen“, erklärt Nina Brandau, Referentin für Bildungspolitik bei Bitkom.
Der Ablauf ist dabei immer ähnlich: Zwischen zwei und fünf Monaten dauert die Schnellausbildung in den Bootcamp-Kursen, Kostenpunkt: irgendwo zwischen 4000 und 10.000 Euro. Was die Kurse neben der inhaltlichen Ausrichtung unterscheidet: Einige Anbieter wie etwa „AW Academy“ schließen mit Unternehmen, die händeringend Fachkräfte suchen, Vorabverträge und geben ihren Teilnehmern feste Jobgarantien.
Andere Dienstleister bieten an, das Kursgeld nach dem Jobeinstieg ganz oder teilweise zurückzuzahlen. Jedes Jahr spülen die großen Akademien 1000 bis 1500 neue Absolventen auf den Markt. So sind etwa schon Unternehmen wie Otto, Zalando oder Xing zu neuen IT-Fachkräften gekommen.
So weit, so verlockend. Doch was taugt die Ausbildung im Eilverfahren? Und: Für wen sind die Kurse im Schnellkochtopf wirklich geeignet? „Wer an einem Bootcamp teilnimmt, braucht den unbedingten Willen, sich durchzubeißen“, sagt Philipp Leipold, Deutschlandchef der AW Academy. Oft gehe die Arbeit am Code erst richtig los, wenn der Unterricht vorbei sei. Vorbereitung, Nachbereitung, dazu oft noch Hausaufgaben: „Das ist eine Druckbetankung, die anstrengend ist.“
Um Frustrationen zu vermeiden, haben die meisten Akademien anspruchsvolle Auswahlverfahren vor ihre Kurse geschaltet – auch um Leute auszusieben, die nur auf die hohen Gehälter in der Branche schielen. „Bootcamps sind hartes Brot“, erklärt Akademieleiter Leipold. Viele Leute unterschätzten das am Anfang.
Auch Bonarts Kursteilnehmer Hichem Chakroun verfolgte die Datenanalysen bis in den Schlaf. „Es fühlt sich an, wie eine neue Sprache zu lernen“, erklärt der 30-Jährige aus Düsseldorf. Begonnen hat der studierte Physiker und Elektrotechniker als Testingenieur beim Autozulieferer ZF. Später wechselte er zu einem Konkurrenten im Bergischen Land, wo sein Verantwortungsbereich wuchs – aber eben auch die Organisations- und Koordinierungsaufgaben.
Für Chakroun ist der Kurs ein Befreiungsschlag. Er will wieder stärker fachlich arbeiten. Der junge Experte ist überzeugt: „In Zukunft werden alle Entscheidungen datengetrieben sein.“ Da nimmt er gerne in Kauf, dass er nachts von Datenbanken träumt. Einen Job, ist sich Chakroun sicher, finde er mit seiner neuen Qualifikation bestimmt. Der Vertrag bei seinem alten Arbeitgeber ist bereits ausgelaufen.
Dass man nach dem Abschluss eines Coding Bootcamps in der IT unterkomme, sei in der Tat recht wahrscheinlich, weiß Lucas Fischer vom IT-Headhunter Paltron in Hamburg. „Aber das heißt noch lange nicht, dass es auch ein Topjob ist.“ Als Absolvent eines Bootcamps müsse man bereit sein, erst mal einen Job anzunehmen und sich von dort weiterzuentwickeln. Das Ganze sei „eher Prozess als schneller Erfolg“, erklärt der Personalmanager.
Hichem Chakroun
Bis zum Besuch beim Bootcamp war er Testingenieur für die Automobilindustrie. Er sieht dort aber keine Zukunft und will mit dem Zertifikat Data Science die Branche wechseln.
Bild: privat
Und das spiegele sich mitunter auch im Gehalt wider – was zum Einstieg schon mal 15 bis 20 Prozent niedriger sein kann als bei einem Bachelor-Informatikabsolventen von der Uni, was im Durchschnitt je nach Branche und Berufsbild etwa zwischen 40.000 und 50.000 Euro liegt.
Für Quereinsteiger mit erhöhtem Sicherheitsbedürfnis könnten die Jobgarantien einiger Anbieter zwar sinnvoll sein, meint der Headhunter. „Aber, die Gefahr ist trotzdem real, irgendwo anzufangen, wo man am Ende des Kurses vielleicht doch gar nicht mehr hin will.“
Irem Nasir hat es ganz ohne Jobgarantie geschafft, neu durchzustarten. Die Biochemikerin arbeitete nach einem Bootcamp bei einem Berliner Start-up, mittlerweile ist sie Data Scientist bei Bayer und hilft dem Unternehmen dabei, die eigenen Daten mithilfe von Künstlicher Intelligenz besser zu verstehen und zu nutzen.
Irem Nasir
Die Biochemikerin wechselte nach dem Bootcamp von einem Forschungsinstitut in San Diego in ein Berliner Start-up. Heute ist sie Machine Learning Scientist.
Bild: privat
In ihrem alten Berufsleben hat Nasir in den USA zur Biophysik von flexiblen Proteinen geforscht – unter anderem an der renommierten Forschungseinrichtung Scripps Research in San Diego. Doch so schön das Leben in Kalifornien war, die Arbeit war oft sehr langwierig. Nasir fehlten sichtbare Ergebnisse. „Ich habe mich immer häufiger gefragt, welchen Sinn mein Job eigentlich hat“, erinnert sich die heute 32-Jährige.
Als sie und ihr Mann Anfang 2020 aus privaten Gründen beschlossen, nach Berlin zu ziehen, war das für Nasir die Chance, etwas Neues zu wagen. Doch trotz hoher Qualifikationen fand die gebürtige Türkin keine passende Stelle, auch weil die Deutschkenntnisse fehlten.
Also wagte sie den Karrierewechsel und tauchte für gut drei Monate beim Anbieter "Spiced" ins Bootcamp Data Science ab. Ihr Mann und ihre Mutter hielten ihr in dieser Zeit den Rücken frei, zudem engagierte sie zusätzliche Betreuung für ihren damals einjährigen Sohn. Der Aufwand lohnte sich. Nur wenige Wochen, nachdem sie die Schnellausbildung beendet hatte, begann sie ihren ersten IT-Job.
Laut einer Absolventenstudie der US-Weiterbildungsplattform Coursereport führt der Weg in ein Coding Bootcamp häufig über ein Studium und ein paar Jahre Arbeitsleben. Aus Sicht von Paltron-Headhunter Fischer ist Nasirs Weg damit geradezu klassisch für den Quereinstieg. „Gerade für kleinere Unternehmen sind Bootcamper ein gutes Vehikel, um günstig an bestimmte IT-Fähigkeiten zu kommen.“ Konzerne würden Bootcamps eher als Weiterbildung für ihre eigenen Leute nutzen.
„Bootcamper sind keine fertigen Informatiker“, stellt Frank Jacobsen vom IT-Beratungshaus Capgemini klar. Doch das sei gar nicht weiter tragisch. Gerade in der Softwareentwicklung werde ohnehin seit einiger Zeit eher mit vorhandenen Code-Bausteinen gearbeitet, statt Programme von Grund auf neu zu schreiben.
Diese Expertise könnten sich Bootcamper in den Kursen „zu einem guten Teil“ aneignen, meint Jacobsen. „Die Unternehmen, die Bootcamper einstellten, dürften nur nicht dem Irrglauben aufsitzen, dass es mit einem Kurs getan sei“, ergänzt IT-Headhunter Fischer. Was die Quereinsteiger bräuchten, sei weitere Betreuung und Entwicklung – etwa in Form von speziellen Mentorenprogrammen.
Detlef Romanowski hat bereits mehrere Bootcamp-Absolventen eingestellt – und das aus Überzeugung. Romanowski ist Bereichsleiter für Softwareentwicklung beim Consulting- und Softwarehaus PPI. Allein 2019 hat er als Führungskraft rund 30 neue Leute in seinem Bereich geholt – knapp die Hälfte davon stammen aus einer Klasse des Anbieters „AW Academy“, die der Bildungsdienstleister eigens für und mit ihm gecastet hat.
„Was ich gut fand, war das Auswahlverfahren“, erinnert sich der 47-Jährige.
In einem dreistufigen Test wurden Logik, Zahlenverständnis und verbale Fähigkeiten abgefragt. Dazu kamen noch ein Persönlichkeitstest und mehrere Interviews. Am Ende blieben von den ursprünglich 490 Bewerbern, die an den Tests teilgenommen hatten, 15 Kursteilnehmer übrig. Romanowski: „Das waren dann wirklich nur die Leute mit Biss.“
Was dem Vorgesetzten außerdem auffiel: Die Leute aus der Bootcamp-Klasse seien in der Regel „menschlich reifer als zum Beispiel ein Absolvent von der Uni“. In Romanowskis Bereich steht Kundenkontakt auf der Tagesordnung. Da kommt das Klischee vom nach innen gekehrten Informatiker, der nächtelang an seinem Code herumwerkelt, an seine Grenzen. „Ich kann keine Software entwickeln, wenn ich nur diesen Stereotypen im Unternehmen habe“, sagt der Softwareexperte.
Auch Frank Jacobsen von Capgemini bestätigt: „IT-Projekte scheitern in den seltensten Fällen an technischen Fragen, sondern meist am Zwischenmenschlichen.“ Und da brächten Bootcamper mit ihren „meist sehr heterogenen Lebensläufen häufig die nötigen sozialen Fähigkeiten mit“ – im Gegensatz zu so manchem ITler, der sich über seine Rarität am Arbeitsmarkt in der Regel sehr im Klaren sein dürfte. Wer deshalb eher langfristig jemanden suche, der sich entwickeln ließe und schnell in Neues einarbeiten könne, sei mit einem Bootcamper oft besser beraten als mit einem Fach-ITler, findet der Experte.
Auch Biochemikerin Irem Nasir ist im Nachhinein glücklich darüber, das Bootcamp durchlaufen zu haben. Obwohl ihr die Entscheidung wegen der hohen Kosten anfangs schwergefallen sei. Doch sie ist nun zufriedener als in ihrem alten Job im Forschungslabor: „Wenn ich nach getaner Arbeit das Büro verlasse, fühlt sich alles richtig an.“
Mehr: Vom Strukturwandel betroffene Unternehmen, die Mitarbeiter qualifizieren, können sich die Weiterbildungskosten von der Bundesagentur erstatten lassen
Dieser Artikel erschien bereits am 12.09.2020. Der Artikel wurde erneut geprüft und mit leichten Anpassungen aktualisiert.
Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.
Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.
×