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20.06.2019

12:12

Karriere

Führung durch die Mitarbeiter: Die größten Irrtümer über agiles Management

Von: Claudia Obmann

Alle Mitarbeiter entscheiden mit und tragen Verantwortung. Klingt zu schön, um wahr zu sein? Ist es oft auch. Über die Stolpersteine von New Work.

In vielen Unternehmen herrscht zur Zeit der Ruf nach mehr Freiheit – ohne Hierarchien. Ikon Images via AP

Führen ohne Chef

In vielen Unternehmen herrscht zur Zeit der Ruf nach mehr Freiheit – ohne Hierarchien.

Düsseldorf Und plötzlich war Schluss. Kein Einzelbüro mehr, kein klangvoller Titel. Als sich die rund 100 Mitarbeiter der für den Vertrieb der Deutschen Bahn zuständigen Personalabteilung entschieden, künftig ohne Chefs zu arbeiten und sich lieber selbst zu organisieren, traf das so manchen bisherigen Vorgesetzten hart.

Von ursprünglich neun Führungskräften in der Abteilung wurde nur noch einer von allen Kollegen zur Führungskraft gewählt: Die disziplinarische Verantwortung obliegt seither jenem Manager, zu dem die Mitarbeiter das größte Vertrauen haben und von dem sie die fairste Beurteilung erwarten. Die übrigen Ex-Vorgesetzten wurden das, was sie mehrheitlich schon waren: versierte Fachleute – aber nun ohne Personalverantwortung.

2017 begann das Bahn-Experiment „Kai“ zur Autonomie am Arbeitsplatz. Nach zweieinhalb Jahren zeigt sich eine große Herausforderung, wie ein Erfahrungsbericht formuliert: „Ohne agiles Mindset geht es nicht.“ Wer sich jahrelang in einer ausgeprägten Unternehmenshierarchie bewegt hat, wird als ehemaliger Vorgesetzter nicht über Nacht zum Teamplayer. Und auch so mancher Mitarbeiter tut sich mit der neuen Verantwortung schwer.

Der Ruf nach Freiheit erklingt momentan in vielen Unternehmen, von Bosch über Zalando bis Daimler. Immer mehr Organisationen experimentieren mit dem Abbau von Hierarchien. Sie erhoffen sich schnellere Entscheidungen, mehr Innovation, höhere Effizienz. Und übersehen häufig, dass jede Veränderung erst mal Reibungsverlust bedeutet. „Selbstorganisation wird gehypt als Allheilmittel gegen Komplexität, aber die Probleme bei der Umsetzung sind immens“, sagt André Häusling, Veranstalter der Agile HR Conference, eines wichtigen Treffens der Agilitätsanhänger.

2014 übertrug Frederic Laloux den Gedanken des flexiblen Selbstmanagements von Teams bei der Softwareentwicklung auf das gesamte Unternehmen. Das Buch „Reinventing Organizations“ des früheren McKinsey-Beraters wurde ein Bestseller. Inzwischen mehren sich aber die Stimmen, die von Problemen berichten, wenn Hierarchien geschliffen und Vorgesetzte abgeschafft werden.

Laloux, der Vater der Idee, wundert sich darüber, „wie naiv Führungskräfte diesen Riesenwandel forcieren und welchen Irrtümern sie unterliegen“. So blendeten Manager vielfach aus, dass auch von ihnen selbst eine enorme Veränderung verlangt wird – denn konsequenterweise wird auch ihre eigene Position obsolet.

Wer hierarchische Strukturen abbaut ohne neue Regeln vorzugeben, landet im Chaos. Frederic Laloux, Autor von „Reinventing Organizations“

Hinzu kommt: „Es wünschen sich nicht alle Menschen Autonomie am Arbeitsplatz“, so Neurobiologe Gerhard Roth. Der Professor forscht an der Uni Bremen zur Veränderbarkeit des Menschen. Roth: „Etwa die Hälfte der Beschäftigten sind zufrieden damit, Anweisungen auszuführen.“ Das läge an ihrem Persönlichkeitstyp, der auf Sicherheit und Risikovermeidung ausgerichtet sei.

Und schließlich weist Berater Laloux darauf hin: „Wer auf einmal hierarchische Strukturen und Systeme abbaut, aber keine neuen schafft, die künftig vorgeben, wie sich selbstgesteuerte Teams bilden, wie Rollen definiert und zugewiesen werden, wie man zu einem Job kommt oder ihn wieder verliert und wie Entscheidungen getroffen werden, landet geradewegs im Chaos.“

Vor zunehmenden Machtkämpfen aufgrund unklarer Zuständigkeiten und wachsender interner Komplexität warnt auch Stefan Kühl, Organisationssoziologe der Uni Bielefeld: „Ob allumfassende Lösungen nun Lean Management oder agile Organisation heißen, sämtliche Modelle kranken an dem immer gleichen Faktor: der Koordination der autonomen Einheiten untereinander, aber auch mit der übrigen Organisation.“

Diese Probleme sind kein Grund, das Konzept des agilen Managements komplett über Bord zu werfen. Aber sie sollten Anlass genug sein, sich sorgfältig mit den Stolperfallen auf diesem Gebiet auseinanderzusetzen. Auf der folgenden Seite schildern daher drei Pioniere, wie sie die größten Gefahren in Sachen Selbstorganisation gemeistert haben. Eine Anleitung für Agilitätsfans ebenso wie -skeptiker.

Irrtum 1: Selbstorganisation ist was für alle

Die Gefahr: Selbstorganisation überfordert viele Mitarbeiter

Im beschaulichen Schwarzwald-Örtchen Engen stellt Allsafe Transportgurte und Halterungen her, um Ladung zu sichern. Seit Detlef Lohmanns Einstieg als Gesellschafter und Geschäftsführer vor zwölf Jahren experimentiert der Diplom-Ingenieur mit New Work. Er weiß inzwischen genau, wo statt schnellerer Entscheidungen Chaos ausbricht, wenn Mitarbeiter plötzlich allein verantwortlich sind: „Solch eine Transformation klappt nicht per Fingerschnippen und ist nichts für jeden Mitarbeiter.“

Die vergleichsweise hochqualifizierten Kollegen im kaufmännischen Bereich müssen längst keine Genehmigung mehr zu Urlaub, Dienstreisen und Bestellungen einholen und werden auch bei Problemen nicht mehr gleich bei einem Vorgesetzten vorstellig.

Gleichzeitig, räumt Lohmann rückblickend ein, „habe ich die Kollegen in der Werkshalle mit der Autonomie überfordert“. Seine Beschäftigten in der Produktion stammen aus 26 Nationen. Deutsch ist für die wenigsten Muttersprache, viele Kollegen sind nur angelernt. Die Folge: Absprachen klappten nicht.

Nach nur wenigen Wochen stellte Lohmann das Experiment Selbstorganisation hier wieder ein, weil er erkannte: „Wo wir produzieren, braucht es weiterhin disziplinarische Vorgesetzte, die klar vorgeben, was wann gemacht werden soll.“ Der Freiraum der Produktionsmitarbeiter beschränkt sich jetzt darauf, im Team zu entscheiden, welche Aufgabe sie als Nächstes übernehmen.

Wenn zum Beispiel der Instandhalter der Maschinen gerade nichts zu tun hat, arbeitet er an anderer Stelle im Team mit. „Zwischen einem Drittel bis 50 Prozent der Mitarbeiter finden es gut, sich dazu mehr Know-how anzueignen. Die anderen Beschäftigten lehnen das ab. Sie wollen lediglich ihre eine Aufgabe erledigen und sonst nichts“, sagt Lohmann. Der Unternehmer hat sich mit dieser Erkenntnis arrangiert: „Es ist in Ordnung, wenn nicht jeder meiner Mitarbeiter das gleiche Maß an Verantwortung übernehmen möchte.“

Hybridmodell nennt er seinen Managementmix, der im kaufmännischen Bereich auf selbst organisierte Projektteams setzt, während in der Produktion nach klassischer Linienorganisation geführt wird. Und der darüber hinaus in der Entwicklung auf agile Teams in wechselnder Besetzung baut: Wer etwa eine neue Idee umsetzen will, sucht sich interne Mitstreiter, anstatt die Idee zeitraubend vom Vorgesetzten durch die Instanzen treiben zu lassen. Damit ergibt sich sozusagen ganz nebenbei auch schon der erste Praxistest: Findet sich noch nicht mal ein Unterstützer im eigenen Betrieb, hat sich die vermeintliche Innovation schon erledigt.

Unternehmer Lohmann sieht das Hybridmodell als Erfolgsrezept: „Wir sind extrem schlank und kostensparend aufgestellt.“ Der Umsatz kletterte von 24 Millionen Euro im Jahr 2006 auf 65 Millionen Euro 2018. Die Rendite des Unternehmens stieg laut Lohmann im selben Zeitraum von anfangs 7,5 Prozent um zwei bis drei Prozentpunkte. 

Irrtum 2: Selbstorganisation ist gleich Selbstverwirklichung

Die Gefahr: Jeder macht, was er will, die unbeliebten Aufgaben bleiben liegen

Lassen sich in einer hierarchischen Organisation unangenehme Dinge auch mal auf den Vorgesetzten abwälzen, muss in einem Unternehmen mit verteilter Macht jeder für seinen Verantwortungsbereich selbst geradestehen. Wie schräg sich das erst mal anfühlt, weiß Jörg Leute.

Als einer von damals drei Geschäftsführern des Tübinger Softwareanbieters itdesign beschloss er vor zwei Jahren mit den rund 40 Kollegen seines Bereichs, auf Selbstorganisation umzusteigen. Leute: „Es hat gedauert, bis wir verinnerlicht hatten, dass eine Rolle eine bestimmte Verantwortung mit sich bringt. Und der Rollenbesitzer diese übernehmen muss — auch wenn´s haarig ist.“

Konkretes Beispiel: Wer für den Kontakt zum Kunden verantwortlich ist, muss sich auch mal vom genervten Auftraggeber anmeckern lassen, wenn etwa ein Abgabetermin platzt. Sich in solch einem Fall hinter dem Vorgesetzten zu verstecken geht nun nicht mehr.

Damit sich aber auch für solche unangenehmen Aufgaben immer jemand zuständig fühlt, entschied sich die itdesign-Belegschaft für die sogenannte Holocracy-Methode. Diese recht rigide Form zur cheffreien Organisation hat der amerikanische Unternehmer Brian Robertson entwickelt. Seine Tübinger Anhänger unterzeichneten sogar die „Holocracy Constitution“, ein online verfügbares New-Work-Manifest. Nach diesem feierlichen Auftakt begann „ein teilweise schmerzhafter Lernprozess“, sagt Jörg Leute.

Das holokratische Unternehmen wird in Kreisen organisiert, die aus Rollen oder Aufgaben bestehen. Jeder Kreis ist einem Zweck zugeordnet und dem über ihm liegenden größeren Kreis verantwortlich. So gibt es bei itdesign den Kreis, der dafür zuständig ist, Software zu verkaufen. Diesem arbeiten die Kreise „konkrete Anwendung“, „Personal“, „Consulting“ und „Marketing“ zu. Ein Mitarbeiter kann gleichzeitig mehrere Rollen in verschiedenen Kreisen übernehmen, die sich alle selbst organisieren.

Und so mussten bei itdesign erst mal Rollen definiert und dann an interessierte Kollegen verteilt werden. Während der extrovertierte Jörg Leute in der „Mantel“-Rolle das Unternehmen nach außen repräsentiert, bewarb sich ein Kollege mit einem Faible für akribische Detailarbeit für die neue Rolle des Datenschutzbeauftragten. Aber Leute beobachtet zugleich: „Es bleiben viele Rollen übrig, die keiner will.“ Das Holokratie-System hat auch für diesen Fall vorgesorgt: Dann nämlich muss der jeweilige Leadlink ran. Seine Aufgabe ist es, Probleme sofort zu lösen, damit der jeweilige Zweck des Kreises erfüllt werden kann.

Nach zwei Jahren des Experimentierens weiß Leute: „Selbstmanagement heißt nicht Selbstverwirklichung.“ Denn auch das selbstbestimmte Arbeiten hat durchaus enge Grenzen. Dauerurlaub oder Kommen und Gehen nach Gusto sind nicht drin – die Kollegen achten untereinander darauf, dass es sich niemand zu bequem macht.

Irrtum 3: Arbeiten ohne Chef heißt führungslos

Die Gefahr: Ohne Chefs drohen Verzettelung und Ineffizienz – gerade bei neuen Kollegen

Brandschutz ist das Spezialgebiet des vor knapp 20 Jahren gegründeten Ingenieurbüros hhpberlin. Um die besten Konzepte zur Feuerverhütung zu entwickeln – etwa für das Bundeskanzleramt oder das Pudong-Museum in Schanghai – haben die 160 Mitarbeiter sehr viele Freiräume. Das Unternehmen setzt seit 2009 auf Selbstorganisation. Klar ist nur: Der Kunde muss das neue Konzept fristgerecht erhalten. Was dazu nötig ist und wann und wie es erledigt wird, legt jeder Sachverständige selbst fest. Etwa, welche Aufgaben Priorität haben, welcher Kollege zum Gegenlesen gebeten wird, um die Qualität zu sichern, oder wie der persönliche Arbeitstag verläuft.

Und genau das ist die Krux, weiß Doreen Liebenow: „Wer das nicht gelernt hat, verzettelt sich.“ Liebenow ist Personalexpertin. Sie hat vor ihrem Wechsel 2011 zu hhpberlin bei der Lufthansa gearbeitet und ist überzeugt: „Wir könnten schneller sein und mehr Umsatz und Gewinn machen, wenn wir uns bewusst machen, wo unser Optimierungspotenzial liegt.“ Regelmäßige Momente der Reflektion und Anpassung seien nötig.

Impulse dazu kommen zum Beispiel aus der sogenannten Kulturgruppe, in der sich alle sechs bis acht Wochen 15 Kollegen treffen, die ein besonderes Gespür für die Stimmung der Mitarbeiter haben und sich dazu austauschen wollen.

Denn klar ist, zwei Geschäftsführer allein können die Fürsorge für alle Mitarbeiter an den sechs deutschen Standorten des Ingenieurbüros nicht leisten. So beschlossen Stefan Truthän und Karsten Foth, einen groben Rahmen für informelle Führung vorzugeben.

Da sie ihr Ring-Modell selbst entwickelten, sind noch heute Verfeinerungen nötig. Liebenow erläutert das Prinzip am Beispiel Arbeitszeit, das die Expertenteams im Kern betrifft: „Unsere Sachverständigen entscheiden selbst jeden Tag aufs Neue, ob sie zu Hause, unterwegs oder in ihrer sogenannten Heimat, dem Standort ihres jeweils acht- bis 20-köpfigen Teams, arbeiten wollen.“

Doch diese persönliche Freiheit geht offenbar zulasten des Teamgeists, bemerkten die Teilnehmer der Kulturgruppe vor einiger Zeit: Den Neulingen in den bewusst divers zusammengesetzten Expertenteams aus alten Hasen und jungen Kräften fehle Anleitung und Zuspruch – nicht nur fachlich oder beim Umgang mit Fehlern, sondern auch dabei, wie sie sich selbst optimal organisieren.

„Klar, sollen sich diejenigen Experten von weiter her das Pendeln ersparen, aber sie haben auch die Verantwortung dafür, junge Kollegen zu unterstützen und ihnen unsere Arbeitsweise und Werte nahezubringen“, sagt Liebenow. Also schlug die Kulturgruppe folgende Lösung vor: Nicht alle erfahrenen Kollegen sollten mehr sich künftig gleichzeitig aus der „Heimat“ ausklinken. Wie die Profis jedoch den Newcomern zur Verfügung stehen, bleibt wiederum ihnen überlassen — getreu dem Selbstorganisationsgedanken.

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