Experten sagen: Für Arbeitgeber kann es sich lohnen, Talente zu hamstern, um der Konkurrenz zuvorzukommen. Bestimmte Jobprofile sind dabei offenbar besonders begehrt.
Mitarbeiter finden
„Immer mehr Unternehmen sichern sich vorzeitig Talente, damit sie nicht von der Konkurrenz weggeschnappt werden“, sagt eine Expertin von Indeed.
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Berlin, Düsseldorf Nach einer „Unexpected Awesome Person“ sucht das Berliner Fintech Lemon Markets aktuell: einer „unerwarteten, großartigen Person“. Es gehe nicht um ein spezielles Profil, sondern darum, spannende Charaktere anzuziehen, heißt es in der Stellenanzeige. Aktiv nach Talenten suchen, obwohl es noch keine maßgeschneiderte Stelle gibt – warum macht ein Unternehmen das?
„Das Schlimmste, was passieren kann, wäre, dass jemand auf unsere Karriereseite geht und sagt: ,Da finde ich nichts‘“, erklärt Jasmin Blum, Recruitingchefin bei Lemon Markets. „Wir wollen jedem und jeder die Möglichkeit geben, sich hier zu bewerben – und unser Netz so weit wie möglich spannen.“
Auch abseits dieses Einzelfalls setzen immer mehr Unternehmen bei der Talentsuche auf ein möglichst breites Spektrum – ohne dass es für die Gesuchten schon eine feste Verwendung gäbe. Das verdeutlicht eine exklusive Umfrage der Stellenbörse Indeed: 82 Prozent der 400 dafür befragten Personaler haben demnach schon mal jemanden eingestellt, der damals in ihrem Unternehmen noch nicht gebraucht wurde.
Als „Fridge-Hiring“ bezeichnet man diese Strategie bei Indeed: Unternehmen stellen Talente „kalt“, bis sie eine adäquate Tätigkeit für sie finden. „Immer mehr Unternehmen sichern sich vorzeitig Talente, damit sie nicht von der Konkurrenz weggeschnappt werden“, sagt Annina Hering, Ökonomin vom Indeed Hiring Lab. „Angesichts des Personalmangels ist diese Entwicklung folgerichtig und auch nachvollziehbar.“
Auch wenn noch keine konkrete Stelle für solche „gehorteten“ Mitarbeiter besteht: Die Einsatzmöglichkeiten für sie sind in Unternehmen vielfältig, meint Hering. „Viele Personalabteilungen adaptieren bei den sogenannten ,Fridge-Hires‘ ihr Konzept für Initiativbewerbungen.“ Bedeutet: Sie bekommen zunächst die Gelegenheit, die Strukturen im Unternehmen kennenzulernen, und unterstützen in anderen Abteilungen, die ihrem Fachgebiet zumindest nahe sind.
Zudem sei bekannt, dass viele Beschäftigte aktuell verstärkt Überstunden leisten müssten. „Neue Kolleginnen und Kollegen ohne festes Einsatzgebiet können als Springer fungieren und so Belegschaften entlasten.“
Im zurückliegenden Jahr ist der Trend zum Hamstern von Mitarbeitern offenbar größer geworden. Mehr als zwei Drittel der von Indeed befragten HR-Verantwortlichen hat nach eigener Auskunft die vorzeitige Talentakquise verstärkt. Laut den Personalern der Nummer-eins-Grund fürs Hamstern: Die Personaldecke sollte ausgebaut werden.
Mehr als ein Fünftel der Personaler gibt außerdem an, ohne akuten Bedarf eingestellt zu haben, weil ihr Unternehmen Expansionspläne verfolge. Und 16 Prozent der Befragten hamsterten 2021 Talente, um ein anvisiertes Mitarbeiterwachstum zu erreichen.
Zahlen, die für den Arbeitsmarktexperten Tobias Zimmermann vom Stellenportal Stepstone nicht allzu überraschend kommen. „Das ‚Horten‘ von Mitarbeitenden ist eine Strategie, um Ressourcen und Zeit für die Personalgewinnung einzusparen“, erklärt Zimmermann. „Das Phänomen ist gerade dann zu beobachten, wenn Unternehmen eine kurze Episode ökonomischer Abkühlung befürchten.“
Die aktuelle Phase werde in der Rückschau vielen Arbeitgebern wie eine Zeit der großen Chancen vorkommen – eine Phase, in der es noch etwas einfacher war, bestimmte Mitarbeitergruppen zu gewinnen. „Unternehmen, die diese Chance genutzt haben, werden sich dann glücklich schätzen“, meint Zimmermann. „Denn die Zeit der Arbeiterlosigkeit wird in Zukunft noch viel gravierender werden.“
Vor allem wenig bis mittelmäßig erfahrene Mitarbeiter stehen hoch im Kurs bei hamsternden Unternehmen: Mehr als die Hälfte der „gehorteten“ Kandidaten verfügt über ein bis fünf Jahre Berufserfahrung, weitere 45 Prozent der Personaler konzentrieren sich beim „Fridge-Hiring“ vor allem auf Berufsanfänger.
Bei Führungspositionen oder gar im C-Level wird hingegen kaum gehamstert: Nur ein Zehntel der Personaler gab an, Kandidaten für solche Profile auf Vorrat einzustellen.
Und in welchen Branchen wird besonders gern gehamstert? Auch das wollte man bei Indeed von den teilnehmenden Personalern wissen. Platz eins geht an die IT: Tech-Talente werden von einem knappen Drittel der Personaler regelmäßig eingestellt, bevor sie überhaupt benötigt werden.
Auch Sales-Mitarbeiter stehen hoch im Kurs: Mehr als ein Fünftel der Personaler rekrutiert Vertriebstalente auf Vorrat. Den dritten Platz belegt die HR-Branche: Auch hier geben knapp 20 Prozent der befragten Personaler an, geeignete Kandidaten gern sehr frühzeitig einzustellen.
Ein Konzern, der wegen altersbedingter Abgänge und akuten Personalmangels schon lange sehr aktiv rekrutiert, ist die Deutsche Bahn. Rund 27.500 Neueinstellungen hat der Staatskonzern laut eigener Angabe in diesem Jahr getätigt. 2023 sollen es noch einmal ähnlich viele werden, sagte Personalvorstand Martin Seiler Mitte November im Handelsblatt-Interview.
Die Frau, die dafür sorgen soll, dass das klappt, heißt Kerstin Wagner. Als Recruitingchefin ist sie bei der Bahn deutschlandweit für die Personalgewinnung zuständig. Spielt das Hamstern von Mitarbeitern in ihrer Arbeit eine Rolle?
Zumindest, erklärt Wagner, achten sie und ihre 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stärker als früher darauf, Kandidaten nicht vorschnell von der Angel zu lassen. Auch dann nicht, wenn es gerade keine passende Stelle für sie gibt. Konkret könne das zum Beispiel bedeuten: Jemand mit einem gefragten Profil bewirbt sich, es ist gerade kein Job für ihn vakant – Wagner weiß aber, dass sich das bald ändern wird. „Zum Beispiel weil die Person, die noch auf der Stelle sitzt, absehbar in Rente geht. Oder weil ein bestimmtes Projekt in der Planung ist, für das die Person gut geeignet wäre.“
In solchen Fällen appelliere sie an den entsprechenden Fachbereich, bei dem betreffenden Kandidaten zuzugreifen. Es ist gewissermaßen eine Light-Version des „Fridge-Hiring“. Mit einer Einschränkung: „Wir sprechen dann immer noch von einer konkreten Stelle, die entstehen soll.“
Wagner und ihr Team sind außerdem mehr denn je bestrebt, Talente in ihrer „Pipeline“ zu behalten. „Wenn wir beispielsweise einen Kandidaten haben, der im Rekrutierungsprozess für eine bestimmte Stelle nicht genommen wurde, machen wir eine Alternativprüfung.“ Heißt konkret: Es wird geschaut, ob es für den Bewerber eine andere, passendere Stelle im Unternehmen gibt.
Das kann bedeuten, dass ein Bauingenieur, der sich in Berlin beworben hat, vielleicht von einer besser qualifizierten Kollegin ausgestochen wurde – es aber eine ganz ähnliche Stelle in Potsdam gibt, für die er sich eignen würde. „Dann haken wir nach: Ist der Bewerber bereit zu pendeln?“ Selbst wenn die Antwort darauf „nein“ laute, behalte man die Person auf dem Schirm. Man ist flexibler geworden, was eine Art Zweitverwertung abgelehnter Talente angeht. „Wir wollen geeignete Kandidaten nicht verlieren.“
Obwohl die Bahn händeringend Leute sucht: Vom reinen „Rekrutieren auf Vorrat“ hält Wagner nicht viel. „Mit generischen Stellenanzeigen erreicht man Bewerber meiner Erfahrung nach nicht“, sagt sie. „Kandidaten wollen schließlich wissen, was sie in einem Job später machen und mit welchen Kollegen oder Chefinnen sie es zu tun haben.“
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Natürlich müssten Unternehmen gerade in Krisenzeiten wie der jetzigen prüfen, ob sie sich Einstellungen „auf Vorrat“ in großem Stil leisten können, räumt auch Indeed-Ökonomin Annina Hering ein. „Unternehmen werden in nächster Zeit sicherlich abwägen, ob sie diese Strategie angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheiten konsequent weiterverfolgen oder etwas zurückfahren.“
Hering ist trotzdem sicher: „Langfristig ist davon auszugehen, dass dieser Trend noch zunimmt.“ Der demografische Wandel und der sich zuspitzende Wettbewerb um die besten Mitarbeiter lasse vielen Unternehmen kaum eine Wahl.
Zu einer erfolgreichen Personalstrategie werde dennoch immer mehr gehören als das Auffüllen eines Mitarbeiter-Vorratsschranks, sagt Stepstone-Arbeitsmarktexperte Tobias Zimmermann. Zwar könnten viele Unternehmen das angesichts des Rekordarbeitsmarkts zunächst attraktiv finden. „Fridge-Hiring allein ist aber kein Erfolgsrezept.“ Talente müssten auf lange Sicht möglichst passgenau zu ihren Fähigkeiten eingesetzt werden – sonst arbeiteten sie weder gern noch produktiv.
Auch Recruiterin Jasmin Blum, die für ihr Fintech Lemon Markets nach einer „unerwarteten, großartigen Person“ sucht, stimmt zu. Einfach nur „unerwartet“ und „großartig“ zu sein: Das reiche dann doch nicht, sagt sie.
Erstpublikation: 30.12.2022, 10:00 Uhr.
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