Oft bestimmen starre Regeln die Arbeit in der Fabrik. Doch erste Unternehmen bringen die Mechanismen der neuen Arbeitswelt auch in die Fertigung.
Produktion bei Continental
Im Werk Regensburg setzt Continental auf neue Methoden bei der Schichtplanung.
Bild: Continental
Köln Agiles New Work in den Büros, aber feste Schichtpläne im Werk? Davon hält Ariane Reinhart, Personalvorständin bei Continental, nichts. „Wir wollen bei Continental keine Zweiklassengesellschaft“, sagt sie.
Um die Arbeit in den Fabriken neu zu gestalten und auch im Interesse der Beschäftigten zu flexibilisieren, wurde viel investiert. Weltweit testet der Automobilzulieferer in Fabriken neue Teilzeitmodelle, Jobsharing, Mini-Sabbaticals und selbst organisierte Schichtpläne per App – und das schon vor Corona.
In der Pandemie verschärfte sich die Notwendigkeit, den Schichtbetrieb flexibel zu gestalten. Lieferengpässe brachten die Produktion in der Autoindustrie gehörig durcheinander.
Am Standort Regensburg setzt Continental nun auf eine App. Mit ihr lässt sich sehr kurzfristig automatisiert auf einen schwankenden Personalbedarf reagieren.
Die Digitalisierung der Elektronikfabrik schafft die Voraussetzung. Maschinen bestellen dort eigenständig Material, Menschen und Cobots genannte kollaborative Roboter arbeiten Hand in Hand. Aus Daten der vernetzten Fabrik entstehen Produktionspläne, aus denen wiederum per Algorithmus ein Schichtplan hervorgeht.
Continental plant in Regensburg neuerdings mit einer gewissen Unterbesetzung. Die übrigen Schichten werden bei Bedarf sehr kurzfristig vergeben. Für Continental ist das auch eine Möglichkeit, Kosten durch Überbesetzungen zu senken. „Wenn Schichten spontan besetzt werden mussten, fragte ein Schichtleiter in der Vergangenheit fast immer dieselben Leute an, ob sie einspringen“, sagt Standortleiter René Krahn. Das soll jetzt anders ablaufen.
Die App fragt zuerst die Beschäftigten, die in der Vergangenheit nicht so viel Flexibilität gezeigt haben oder wenige Stunden auf dem Arbeitszeitkonto haben. Ein Anreizsystem soll sicherstellen, dass sich auch für unbeliebte Schichten Freiwillige finden. Fehlen produktionsseitig enge Fristen, können Mitarbeiter den Zeitpunkt ihrer Arbeit auch frei wählen.
Mehr als eineinhalb Jahre hat Continental das Tool gemeinsam mit den Beschäftigten und Betriebsräten entwickelt und getestet. „Unser administrativer Planungsaufwand hat sich erheblich reduziert“, lobt Krahn. „Und wir haben den Eindruck, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch motivierter sind.“ Continental ist mit solchen Erfahrungen nicht allein.
Messestand Atoss
Das Münchener Unternehmen stellt Software für Personalmanagement her.
Bild: PR
Fertigungsbetriebe spüren wachsenden Druck, sich flexibler aufzustellen. Mit schwankenden Kundenaufträgen und Lieferproblemen variiert auch der Personalbedarf in der Produktion. „Starre Schichtpläne kollabieren in vielen Firmen“, berichtet Guido Zander, der Unternehmen zur Personaleinsatzplanung berät. Gleichzeitig zwingt der Fachkräftemangel viele Unternehmen, ihren Mitarbeitern attraktivere und flexiblere Arbeitsbedingungen zu bieten.
Diese Zwänge könnten Werksangehörigen künftig zu mehr Freiheiten verhelfen. Während die Kolleginnen und Kollegen im Büro immer freier entscheiden, wann und wie sie arbeiten, geben in Fabriken meist noch enge Produktionspläne und Hierarchien den Takt vor.
„Die wenigsten Mitarbeiter können flexible Arbeitszeitmodelle wählen oder ihre Aufgaben selbstverantwortlich organisieren“, sagt Zander. „Wenn Firmen hier nicht umdenken, bekommen sie massive Probleme.“
So erwägen in Deutschland vier von zehn Angestellten eine Kündigung, wenn der Arbeitgeber nicht ausreichend Flexibilität bietet, ergab eine LinkedIn-Umfrage. Gravierend sei die Situation im Schichtbetrieb, sagt Zander. „Fast alle Kunden sagen mir, dass sie dafür einfach keine Leute finden.“
Er rät Betrieben, neue Lösungen zu suchen. So habe einer seiner Kunden die Wachstumspläne nicht über Schichtbetrieb realisiert, sondern über den Bau eines zweiten Werks. „Firmen haben nicht immer die gesamten Kosten durch den Schichtbetrieb im Blick. Viele Mitarbeiter kündigen, melden sich krank, es fließt viel Geld in die Personalsuche oder Nachtzuschläge“, sagt Zander.
Bei einem anderen Kunden, einem Maschinenbauer, organisieren Teams selbstständig, wann sie die Aufträge produzieren – und wie sie die Arbeitszeit auf einzelne Tage verteilen.
Die alte Vollzeit-Denke stößt an Grenzen. „Produktionsbetriebe müssen sich viel individueller auf ihre Mitarbeiter einstellen“, sagt Zander. In der Fertigung arbeiteten oft ältere Menschen, die nicht mehr acht Stunden am Stück produktiv sind. Auch Jüngere würden abgeschreckt. Viele möchten Arbeitszeit temporär reduzieren – etwa um mehr Zeit für die Familie zu haben.
Schichtbetrieb per App steuern
Die Wünsche von Mitarbeitern an ihre Arbeitszeiten sollen auch in der Produktion berücksichtigt werden.
Bild: Continental
Dass die Ressource Personal in Produktionsunternehmen oft extrem knapp geplant ist, sagt auch Stefan Gerlach, Teamleiter Produktionsmanagement am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation. Er entwickelt Konzepte, die Firmen mehr Luft in der Schichtplanung verschaffen. Kunden wollten oft Auftragsschwankungen besser auffangen. „Wer Schichten nicht mehr mit einer so knappen Personaldecke plant, kann auch flexibler auf die Wünsche der Beschäftigten eingehen“, so Gerlach.
Er rät, flexible Arbeitszeiten mit einem vielseitigeren und zeitlich flexiblen Personalpool zu kombinieren. Mittel seien etwa mehr Altersteilzeit, studentische Ferienaushilfen oder Zeitarbeit. Ein weiterer großer Hebel: Mitarbeiter so fortzubilden, dass sie auch an einer anderen Produktionslinie arbeiten können. „Viele Firmen unterschätzen, wie viel ihnen das bringt.“
Beschäftigten wird also einerseits mehr Flexibilität abverlangt, andererseits aber auch mehr zugestanden. „Wahlfreiheit ist im Sinne der Beschäftigten“, sagt Gerlach. Einige wollten die klassische, planbare 40-Stunden-Woche. Andere seien bereit, öfter spontan Schichten zu übernehmen – wenn sie dafür zum Beispiel mit einer geringeren Wochenarbeitszeit belohnt werden.
Dennoch: Gerlach erlebt Skepsis bei etlichen Unternehmen, wenn es um individuelle Arbeitszeitmodelle geht. „Oft aus einem simplen Grund: Ihnen ist dann die Schichtplanung zu aufwendig.“
Dabei gibt es längst digitale Tools, die dabei unterstützen. Anbieter wie Atoss, Plano, Inform, Gfos oder Interflex helfen, den Produktionsbedarf, verschiedene Arbeitszeitmodelle und Wünsche der Mitarbeiter zusammenzubringen. In Schichtplan-Apps können Beschäftigte spontan Schichten tauschen – oder sich absprechen, wenn jemand in der Spätschicht eine Stunde später anfangen will. Ohne solche Tools fehlt oft die Möglichkeit, schichtübergreifend zu kommunizieren.
Fabrikation in Regensburg
Mitarbeiter sollen Schichten bei Continental unkompliziert getauscht werden können.
Bild: Continental
Gewerkschafter raten dennoch zur Vorsicht. Die smarten Tools könnten Druck auf Mitarbeiter erzeugen – insbesondere, wenn es Arbeitgebern nur um mehr Effizienz gehe. Umso wichtiger ist es, betroffene Mitarbeiter und Betriebsräte früh einzubeziehen.
Continental hat vor der Einführung der neuen App Mitarbeiter aus der Produktion um Feedback gebeten. In Zukunft können die Beschäftigten auch inhaltlich flexibler arbeiten und ihr Tun über die App steuern, sagt Standortleiter Krahn. Mal springt ein Facharbeiter dann auch bei einfachen Tätigkeiten ein – oder bringt sein Wissen in der Entwicklung oder im Bestellwesen ein. „Die Grenzen zwischen Büro und Fabrik werden immer weiter verschwimmen“, so Krahns Prognose.
Beim Mittelständler Allsafe können Mitarbeiter schon jetzt freier entscheiden, welche Aufgaben sie übernehmen. In Engen, einer Kleinstadt in der Nähe des Bodensees, stellt das Unternehmen Transportsicherungen her. Die Beschäftigten entscheiden immer wieder selbstorganisiert, ob sie montieren, verpacken oder logistische Aufgaben übernehmen. Die Tätigkeit wird so abwechslungsreicher. Ein Linienverantwortlicher vermittelt bei Uneinigkeiten.
„Viele melden zurück, dass ihnen die Arbeit mehr Spaß macht“, sagt Geschäftsführer Detlef Lohmann. Die meisten Aufgaben seien schnell zu erlernen. „Wer jeden Tag dasselbe machen will, kann das auch tun.“
Die Mitarbeiter in den Büros haben zwar mehr Freiheiten, doch auch in der Produktion könne man ungewöhnlich viel mitentscheiden. Fertigungsmitarbeiter, Lageristen und Logistiker bringen sich etwa in Einstellungsgesprächen ein und organisieren Urlaubszeiten selbst. „Meistens klappt das gut“, sagt Lohmann – allerdings nur mit konkreten Vorgaben der Teamleiter, wann wie viel produziert werden muss.
Egoismus gebe es überall. „Manche glauben, dass sie bestimmte Urlaubszeiten gepachtet haben“, so Lohmann. Dann müsse die Teamleitung moderieren und im Zweifel entscheiden.
Seit zwei Jahren treffen sich die Produktionsteams nach jeder Schicht und reflektieren den Tag. Was lief gut, was kann man verbessern? Als ein Mitarbeiter bei der Gelegenheit erzählte, dass er bei einer bestimmten Bewegung ein Stechen im Rücken spürt, kaufte Allsafe ein Gerät, das beim Heben hilft. „Weil es den Raum dafür gibt, erfahren wir früher von Problemen“, sagt Lohmann. „Der tägliche Austausch führt einfach dazu, dass sich die Mitarbeiter ernst genommen fühlen.“
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