Zielscheibe
Neben Google nutzen inzwischen auch andere Silicon-Valley-Größen wie Twitter, LinkedIn oder Oracle das Managementwerkzeug OKR.
Bild: Getty Images
Im Zeitalter agiler Führung haben übliche Zielvereinbarungen in deutschen Unternehmen ausgedient. Die Alternative bietet eine Methode aus dem Silicon Valley.
Guxhagen Wie im Silicon Valley sieht es beim Medizintechniker Sartorius nicht unbedingt aus. Die freundliche Frau am Empfang stellt zur Begrüßung erst einmal den Fernseher leiser. In der Kantine werden als Beilage zum Salat noch Pommes aus der Fritteuse feilgeboten. Und statt Programmierern stehen ältere Herren in Latzhosen in der Produktionshalle des Pharmazulieferers. Bei Sartorius scheint die Zeit stillzustehen – mag man meinen.
Doch seit knapp zwei Jahren passieren interessante Dinge in Guxhagen, einem Örtchen südlich von Kassel. Mehrere Mitarbeiter treffen sich seither regelmäßig auf einem der großen Flure des dortigen Sartorius-Werkes und stellen Flipcharts mit bunten Klebezetteln auf, um ihre Ziele miteinander abzustimmen.
Sie reden dazu nicht nur mit ihren Vorgesetzten, sondern auch mit Kollegen; loten aus, was genau sie in den letzten 90 Tagen geleistet haben und was sie in den nächsten Tagen erreichen wollen. Die einzelnen Teams tragen ihre Ziele in einer Software ein. Dort kann jeder Mitarbeiter bis zum nächsten Treffen sehen, wer welches Ziel erreicht hat – und wer nicht.
Radikale Transparenz, bei der auch der Anlagenmechaniker sehen kann, wie der Chef abschneidet; und Mitarbeiter, die ihre eigenen Ideen einbringen, um das Unternehmen voranzutreiben – das sind die Kernelemente von OKR, einer neuen Zielsetzungsmethode, die vor allem ein Unternehmen groß gemacht hat: Google. „Das hat bei so manchem erst einmal Skepsis ausgelöst“, erinnert sich Thorsten Peuker, Geschäftsführer bei Sartorius, an die Einführung der Methode – die für die Firma einige wirtschaftliche Erfolge brachte.
OKR steht für „Objectives and Key Results“ – also Ziele und Schlüsselergebnisse. Die Methode gilt derzeit als die neue Wunderwaffe moderner Führungskräfte. Neben Google nutzen inzwischen auch andere Silicon-Valley-Größen wie Twitter, LinkedIn oder Oracle das Managementwerkzeug. „OKR hat uns dabei geholfen, nicht in Dimensionen von zehn Prozent, sondern in Dimensionen des Zehnfachen zu wachsen“, sagte Google-Gründer Larry Page in „Measure What Matters“, einem Buch des Google-Investors John Doerr, der die Methode vor 20 Jahren bei dem Tech-Giganten vorgestellt und eingeführt hatte.
Seit Kurzem schwappt das Google-Prinzip auch nach Deutschland, erst zu Start-ups wie Zalando, Trivago oder MyMüsli. Nun entdecken auch immer mehr Konzerne wie Sartorius die Methode für sich. „Die meisten Zielsetzungsmethoden, die in Unternehmen aktuell verwendet werden, sind nicht mehr zeitgemäß“, meint Marco Alberti, der Firmen bei der Einführung von OKR berät.
Marco Alberti, Gründer der OKR-Beratung Murakamy
„OKR ist ein bisschen wie Yoga. Jeder muss seinen eigenen Stil finden.“
Bild: MURAKAMY
Während selbst Konzerne in ihren Organisationen inzwischen agile Arbeitsstrukturen einführten und auf selbst organisierte Teams setzten, scheint für strategische Planung und Zielvereinbarungen noch das genaue Gegenteil zu gelten. Ziele werden in deutschen Unternehmen häufig noch nach dem Wasserfallprinzip vereinbart, Motto: Der Chef gibt seine Ziele einfach nach unten weiter. Ein anderer Schwachpunkt ist der Zeitraum von einem Jahr, der noch immer für viele Ziele gilt. So hat die Managementberatung Saaman aus Freiburg bereits 2010 in einer Studie herausgefunden, dass am Jahresende gerade einmal noch 27 Prozent der Mitarbeiter und 51 Prozent der Führungskräfte wussten, welche Ziele sie ursprünglich einmal vereinbart hatten.
Die neue Google-Methode will der Zielamnesie in Unternehmen entgegenwirken, indem sie die abstrakt formulierten Visionen der obersten Konzernbosse in verdauliche Häppchen auf Team- oder Mitarbeiterebene aufteilt. Diesen Zielhappen (Objectives) werden dann mehrere messbare Schlüsselergebnisse (Key Results) zugeordnet, die binnen eines Quartals erreicht werden sollen.
Dabei gilt: „Die kleinste autarke Einheit in einem Unternehmen weiß nun einmal am besten, wie sie ein Unternehmensziel in ihrem Bereich zu einem positiven Ergebnis bringt“, sagt Alberti. Seine OKR-Faustregel: 40 Prozent der Inhalte sollen „von oben“ kommen, 60 Prozent aus der Belegschaft.
„Der größte Vorteil von OKR ist, dass sich die Mitarbeiter mit den Zielen stark identifizieren, weil sie sie selbst mitgestaltet haben“, sagt Peuker. Bei Sartorius in Guxhagen kommen die sogenannten Objectives in der Regel vom Management, während die Schlüsselergebnisse in jenen Teams entwickelt werden, die ein konkretes Ziel bearbeiten.
In dem Werk südlich von Kassel fertigt Sartorius Einwegbioreaktoren, aus denen Pharmahersteller Wirkstoffe aus Zellkulturen entwickeln. „Ein Schlüsselprodukt unserer aktuellen Strategie“, erklärt Standortgeschäftsführer Peuker. Bis 2025 will Sartorius das Geschäft weiter ausbauen. „Unsere Herausforderung lag darin, eine Methodik zu finden, mit der es uns gelingt, die Gesamtkonzernstrategie auf jeden Mitarbeiter und die einzelnen Produktionsschritte herunterzubrechen.“
Thorsten Peuker, Sartorius
„Gut ist, wenn wir am Quartalsende 70 oder 80 Prozent erreicht haben.“
Bild: Sartorius
Ein externer Berater stieß Peuker schließlich auf die neue Managementmethode mit den drei Buchstaben. Er half auch bei der Einführung von OKR in der Produktion und gab Schulungen für das Führungspersonal.
Mit der Methode will Peuker unter anderem die Lieferzeiten des strategisch wichtigen Produkts, des Bioreaktors, verkürzen. „Es dauert aktuell schlichtweg zu lange, bis die Geräte beim Kunden sind“, erklärt der Manager. Mit Zahlen ist Peuker vorsichtig, auch weil Konkurrenten an seinen Zielwerten interessiert sein dürften. Schematisch beschreibt er die OKR für seinen Standort so:
Ziel (Objective): „Wir haben keinen Auftragsrückstand. Rückfragen können wir umgehend beantworten, da unser gesamter Auftragsabwicklungsprozess schlank und transparent ist.“
– Schlüsselergebnis 1 (Key Result 1): „Wir reduzieren den Ausschuss um X Prozent.“
– Schlüsselergebnis 2 (Key Result 2): „Wir verringern Leerzeiten, in denen die Produktion stillsteht, um X Prozent.“
– Schlüsselergebnis 3 (Key Result 3): „Wir nehmen Kontakt mit X Lieferanten auf, die den größten Einfluss auf unsere Liefertreue haben.“
Allein die Lieferverfügbarkeit für bestimmte Teile habe sich seither im mittleren zweistelligen Prozentbereich verbessert, berichtet der Manager. Für die einzelnen Teams in der Fertigung werden die Ziele dann noch einmal konkreter. So will Peuker die Prozesse in der Produktion so organisieren, dass die Mitarbeiter möglichst wenig verschwenden und Materialien schnell finden. In ein OKR-Schema übersetzt, heißt das:
Ziel (Objective): „Unser Produkt wird im Fluss getaktet gefertigt.“
– Schlüsselergebnis 1 (Key Result 1):„Ein Implementierungsplan ist in drei Produktionsbereichen umgesetzt.“
– Schlüsselergebnis 2 (Key Result 2):„Standardisierte Arbeitsplätze sind nach der 5S-Methode aufgebaut.“ [Anm. d. Red.: 5S ist eine Methode für eine möglichst effiziente Organisation von Arbeitsgeräten und Materialien.]
– Schlüsselergebnis 3 (Key Result 3):„Unsere Arbeitspläne sind auf die neuen Prozesse abgestimmt und aktualisiert.“
Derzeit arbeitet von den 350 Mitarbeitern in Guxhagen etwa die Hälfte mit OKR. „Wir binden nach und nach andere Bereiche ein“, sagt Manager Peuker. Dennoch komme es hin und wieder vor, dass zum Beispiel Kollegen aus der Produktion auf die Hilfe eines anderen Bereichs angewiesen seien, der noch nicht nach der neuen Managementmethode arbeite.
„Gerade wo Teams übergreifend zusammenarbeiten, können Probleme bei der OKR-Zuteilung auftreten“, weiß Berater Alberti. Wer ist für das Ziel verantwortlich? Wer muss sich mit wem austauschen? Ein Ausweg könnten Teamziele statt Individualzielen sein. Doch auch dafür muss die Kommunikation untereinander klappen. Am besten funktioniere deshalb die Einführung von OKR „in Organisationen, in denen ohnehin ein Grundverständnis für Agilität vorhanden ist“, so Alberti.
Wie zum Beispiel bei der DBSystel, dem internen IT-Dienstleister der Deutschen Bahn. Seit 2014 befindet sich das Unternehmen „auf dem Weg von einer klassischen Organisation zu einem Netzwerk selbst organisierter, agiler Teams“, erklärt Doris Leinen, verantwortlich für die Strategie der DBSystel. Fast die Hälfte der knapp 4 000 Mitarbeiter arbeitet bereits nach den Methoden der neuen Steuerungsmethode OKR.
Derzeit haben etwa 45 Teams bei der DBSystel eigene OKR-Sets entwickelt. So arbeitet zum Beispiel ein Team, das 70.000 Güterwaggons der DB Cargo mit neuen Sensoren ausstattet, nach der Methode. Das Besondere ist der hohe Grad an Basisdemokratie, der in dem Tochterunternehmen des einstigen Staatskonzerns herrscht. So definieren die Teams bei der DBSystel nicht nur ihre Ziele und Schlüsselergebnisse zu 100 Prozent selbst.
Auch wer die Methode überhaupt nutzt, entscheidet jede Arbeitseinheit allein. „Wir verstehen OKR komplett als Bottom-up-Methode“, sagt Leinen, die interessierte Teams bei der Einführung von OKR mit Workshops und Gesprächen unterstützt. „Unser Ziel ist es, eine Steuerungsmethode für unsere Organisation zu haben, die angewendet wird und wertschaffend ist. OKR scheint da aktuell am besten zu uns zu passen.“ Doch das könne sich ändern. „Wir bleiben offen für das, was sich aus der Methode heraus entwickelt“, sagt Leinen.
„OKR ist ein bisschen wie Yoga“, sagt Experte Alberti. „Es gibt zwar ein paar Grundfiguren, aber man sollte sich schon für einen bestimmten Stil für das gesamte Unternehmen entscheiden.“ Bei der DBSystel scheint die große Stärke der Organisation – Mitarbeiter, die sich selbst organisieren und eigenverantwortlich entscheiden – gleichzeitig ihre Achillesferse zu sein. So gibt es nur wenige Bereiche im Unternehmen, die sich im Kollektiv für OKR als Zielvereinbarungsmethode entschieden haben. Das macht ein Abgleichen der Ziele zwischen Führungskräften und Mitarbeitern nur nach dem Flickenteppichprinzip möglich.
Dass sich Strategien auch dann noch verändern können, wenn man sich einmal auf eine Methode geeinigt hat, ist aktuell beim Energiediscounter Eprimo spürbar. Die Tochtergesellschaft der Innogy gehört derzeit noch zum RWE-Konzern – mit der Betonung auf „noch“: Vor wenigen Monaten hat der Konkurrent Eon angekündigt, Innogy zu übernehmen. Damit dürfte auch Eprimo bald den Besitzer wechseln.
Bislang habe sich die RWE-Discountertochter vor allem als „Schnellboot im Konzern“ verstanden, erzählt Finanzmanager Philipp Teipel, der sich auch um Steuerungsthemen kümmert. Vor etwa einem Jahr haben bei Eprimo alle rund 140 Mitarbeiter auf einmal ihre individuellen Zielvereinbarungen samt Boni abgeschafft und angefangen, nach der OKR-Methode zu arbeiten.
„Wir nutzen die Methode insbesondere, um uns auf neue Themen zu fokussieren“, erklärt Teipel. So setzt Eprimo OKR beispielsweise dafür ein, die Kundenbetreuung des Energieanbieters zu digitalisieren und so den Gesamtpreis für den Endverbraucher gering zu halten. Doch ob das auch noch der Fokus sein wird, wenn die Übernahme bald vollzogen ist? „Wir konzentrieren uns auf unsere Kunden und sind mit OKR in der Lage, auf veränderte Rahmenbedingungen schnell zu reagieren“, sagt Teipel.
Auch Google, der Uranwender des OKR-Prinzips, hat die Methode immer wieder neuen Gegebenheiten angepasst. Galt bis vor einigen Jahren zum Beispiel noch die Regel, dass ein Google-Mitarbeiter parallel an kurzfristigen und langfristigen OKR-Sets arbeiten durfte, hat der aktuelle CEO Sundar Pichai diese Zweigleisigkeit abgeschafft. Seither gibt es nur noch Vierteljahres-Fortschrittsberichte. Manchmal können Veränderungen im Unternehmen eben auch dabei helfen, die eigenen Ziele klarer zu sehen.
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