Die Digitalisierung zwingt Millionen von Beschäftigten, sich neu zu qualifizieren. Konzernlenker aus ganz Europa tun sich zusammen, um Tempo zu machen.
Mobile Life Campus von Volkswagen
Viele Konzerne gründen eigene Einrichtungen zur Fortbildung ihrer Beschäftigten. Mittelständische Unternehmen können sich das in der Regel nicht leisten.
Bild: Volkswagen AG
Kiel SAP-Chef Christian Klein ist Mitglied in dem exklusiven Klub, ebenso Volvo-Lenker Martin Lundstedt und Leif Johansson, CEO von Astra-Zeneca. Insgesamt 60 Vorstände und Konzernchefs aus ganz Europa haben sich zusammengetan, um ein Problem anzugehen, das sie als eine der größten Bedrohungen für die Zukunft ansehen: den Fachkräftemangel.
Drei Viertel aller Unternehmen in der EU haben nach Angaben der Europäischen Kommission schon heute Schwierigkeiten, ausreichend qualifiziertes Personal zu finden. Gleichzeitig werden in den nächsten Jahren im Zuge der digitalen und grünen Transformation unzählige Jobs sich radikal verändern. Die Folge ist ein gigantischer ‧Bedarf an Weiterbildung. Bis zu 20 Millionen Menschen in der EU müssen nach Berechnungen der Unternehmensberatung McKinsey umgeschult werden, um langfristig beschäftigungsfähig zu bleiben. In der Theorie ist das lange bekannt. In der Praxis passiert zu wenig.
„R4E“ lautet die Antwort der Konzernlenker auf diese Diskrepanz, kurz für „Reskilling 4 Employment“. Die im Mai 2021 gegründete Weiterbildungsinitiative will Wirtschaft und Politik an einen Tisch bringen, um dem wachsenden Fachkräftemangel besser zu begegnen – und Tempo bei der Fortbildung zu machen. „Die Qualifizierungslücke ist eine Zeitbombe“, sagte Telefónica-Chef José María Álvarez-Pallete auf einem Treffen des R4E-Klubs vor gut zwei Wochen in Portugal.
Der Topmanager leitet den Arbeitsmarktausschuss des European Round Table for Industry (ERT), aus dem die Idee für R4E hervorging. Den Sprengsatz zu entschärfen sei nicht nur eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch der sozialen Verantwortung. „Wir müssen eine Kultur schaffen, in der Reskilling zum Normalfall wird – für Unternehmen und für jeden Einzelnen“, so der 59-Jährige.
Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Einer Untersuchung der EU-Kommission zufolge bildet sich nur rund ein Drittel der Erwerbstätigen in Europa regelmäßig weiter. Um die Quote auf mindestens 60 Prozent anzuheben, hat die EU 2023 zum „Europäischen Jahr der Kompetenzen“ erklärt und will eine breite Palette von Maßnahmen fördern. Doch genau das ist oftmals Teil des Problems: Es gibt zu viele Einzelmaßnahmen und Projekte, die zusammenhangslos nebeneinander herlaufen. Jedes Land, jeder Betrieb plant für sich.
Großunternehmen investieren schon seit Langem verstärkt in Corporate Learning. So hat Telefónica in Madrid gerade einen neuen Lerncampus eingeweiht, ausgestattet mit modernster Technologie. Bis zu 10.000 Lernwillige können dort gleichzeitig an digitalen Weiterbildungen teilnehmen. Auch deutsche Firmen wie Bosch, Deutsche Telekom, Otto, SAP oder Volkswagen sind auf diesem Gebiet sehr aktiv.
Doch die Arbeitswelt besteht nicht nur aus Konzernen, die es sich leisten können, einen solchen Aufwand für die Qualifizierung der eigenen Beschäftigten zu treiben. Zwei von drei Erwerbstätigen in Europa arbeiten für kleine und mittlere Unternehmen mit begrenzten Ressourcen. „In wenigen Jahren Millionen von Erwachsenen mit überholten beruflichen Qualifikationen zu dringend benötigten Fachkräften umzuschulen ist eine komplexe Aufgabe“, sagt Julia Klier, Professorin für Wirtschaftsinformatik an der Universität Regensburg und Partnerin bei McKinsey in München (siehe Interview mit Julia Klier).
Auf sich allein gestellt seien nicht nur der Mittelstand, sondern auch die Politik und selbst viele größere Unternehmen überfordert. Gemeinschaftsprojekte wie R4E oder die „Allianz der Chancen“, zu der sich knapp 50 deutsche Großunternehmen zusammengeschlossen haben, seien daher dringend nötig. Klier und weitere Kollegen von McKinsey begleiten beide Initiativen ohne Honorar. Erklärtes Ziel: praxistaugliche, skalierbare Lösungen für den wachsenden Weiterbildungsbedarf zu entwickeln.
Wie das funktionieren könnte, lässt sich an ersten R4E-Projekten in Portugal und Spanien studieren. So schaffte es 2022 der Stromproduzent Iberdrola, mehr als 1000 Arbeitslose zu Fachkräften für Wind- und Solarenergie umzuschulen und anschließend nahezu alle an mittelständische Installationsbetriebe im ganzen Land zu vermitteln.
Der Clou: Der Energiekonzern kooperierte bei der Aktion mit regionalen Arbeitsämtern und einer gemeinnützigen Bildungsorganisation. „Bildungsanbietern oder staatlichen Stellen allein fehlt oft die technische Expertise, um passgenaue Weiterbildungsprogramme zu entwickeln“, sagt Eduardo Ferran, der in Madrid Iberdrolas R4E-Aktivitäten verantwortet. Umgekehrt sei es für einzelne Unternehmen sehr aufwendig, landesweit geeignete Kandidaten zu identifizieren und zur Teilnahme zu motivieren.
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Auch in Portugal erproben Unternehmen wie Nestlé, SAP oder der Mischkonzern Sonae und das staatliche Institut für Beschäftigung neue Formen der Zusammenarbeit. Gemeinsam haben sie verschiedene mehrmonatige Umschulungen entwickelt, die Quereinsteiger in stark nachgefragte Berufe vermitteln sollen, beispielsweise in der Fertigung, im IT-Bereich oder im Gesundheitswesen.
Bei Kooperationen zwischen privaten Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen bestünden auf beiden Seiten anfangs oft Zweifel und Vorbehalte, berichtet Marta Cunha, die das R4E-Projekt bei Sonae managt. Da die neuen Programme auch mehrmonatige bezahlte Praktika beinhalteten, hätten sie bereits zu guten Vermittlungserfolgen und zu mehr Verständnis und Vertrauen auf allen Seiten geführt.
Unternehmen, die wissen, welche Qualifikationen und Fertigkeiten sie brauchen, Bildungsanbieter, die auf dieser Basis Programme entwickeln, und staatliche Stellen, die solche Maßnahmen gezielt fördern: Das könnte ein Weg aus dem Fachkräftemangel sein, glauben die R4E-Initiatoren. Und sie planen groß: Bis 2030 wollen sie fünf Millionen Menschen aus überholten oder stark rückläufigen Berufen in neue, zukunftssichere Beschäftigungsverhältnisse gebracht haben. Dazu müssen europaweit Kooperationspartner gewonnen und Pilotprogramme für große Teilnehmerzahlen ausgerollt werden.
Wie das technisch gelingen könnte, zeigt ein R4E-Modellprojekt in Schweden: Unter der Regie von Volvo und Astra-Zeneca soll dort eine durch Künstliche Intelligenz gestützte Datenbank entstehen, die Unternehmen nutzen können, um drohende Qualifizierungslücken in der Belegschaft früh zu erkennen und rechtzeitig gegenzusteuern. Jeder Schwede soll über das Portal zudem seine langfristigen Beschäftigungsperspektiven checken lassen können.
Die Idee: Anhand bisheriger Qualifikationen und des beruflichen Werdegangs schlägt das smarte Tool bei Bedarf passende alternative Berufe mit Zukunft oder geeignete Fortbildungen vor. So haben Beschäftigte Zeit zum Handeln, bevor sie ihren Job verlieren. Eine erste Version der Datenbank soll bis 2025 online sein und dann ausgebaut werden.
Die Idee eines solchen Transformationsmonitors stößt auch bei deutschen Unternehmen auf Interesse. Neben SAP sitzen bei R4E in Brüssel unter anderem auch Vorstände von BASF, BMW, Eon, Deutscher Telekom und Siemens mit am Tisch. Viele von ihnen engagieren sich auch in der „Allianz der Chancen“, andere planen Initiativen im Rahmen von R4E.
„Unternehmen brauchen Klarheit darüber, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten wo und in welchem Umfang zukünftig auf dem Arbeitsmarkt benötigt werden“, sagt Birgit Bohle, Personalvorständin und Arbeitsdirektorin der Deutschen Telekom. „Die Digitalisierung wird für eine strategische Steuerung des Transformationsprozesses noch nicht ausreichend genutzt.“
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