In einem Brief wendet sich Kanzlerin Merkel mit ihren Amtskolleginnen aus Dänemark, Finnland und Estland an die EU-Kommissionschefin.
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Angela Merkel, Kaja Kallas, Mette Frederiksen und Sanna Marin: Gemeinsamer Appell an die EU-Kommission, die digitalen Defizite Europas zu beheben.
Bild: Imago, AP, dpa
Brüssel, Berlin Es ist ein Weckruf von höchster Stelle – und er richtet sich an einen Kontinent, der um seine Zukunftsfähigkeit bangt: Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert in einem gemeinsamen Appell mit den Regierungschefinnen von Estland, Dänemark und Finnland im Handelsblatt eine Offensive zur Stärkung der digitalen Souveränität der EU.
„Digitale Wertschöpfung und digitale Innovationen finden in erheblichem Umfang außerhalb Europas statt“, schreiben Merkel und ihre Amtskolleginnen in einem Brief an EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. „Abhängigkeiten und Schwächen der europäischen digitalen Kapazitäten, Fähigkeiten und Technologien“ träten immer deutlicher zutage.
Die vier Regierungschefinnen wollen mit ihrem Appell die Anstrengungen der EU-Kommissionschefin unterstützen, Europas digitale Defizite zu beheben. Merkel, die Estin Kaja Kallas, die Finnin Sanna Marin und die Dänin Mette Frederiksen schlagen deshalb vor, einen „Aktionsplan für mehr digitale Souveränität“ vorzulegen und mit dem Wiederaufbaufonds zur Überwindung der Coronakrise Zukunftsprojekte zu fördern.
Handlungsbedarf sehen die Regierungschefinnen in den Bereichen Künstliche Intelligenz und Quantencomputing, bei Cloudangeboten und neuen Netztechnologien. Ausdrücklich stellen sie sich hinter das Vorhaben der Kommission, große Plattformbetreiber wie Facebook, Google und Amazon stärker zu regulieren.
Die EU will dafür zwei Gesetze beschließen: den Digital Services Act und den Digital Markets Act. Von der Leyen hat zudem eine „Digitale Dekade“ ausgerufen, um Europas Rückstände aufzuholen. Noch diesen Monat will die Kommissionschefin Details präsentieren.
Ob Videokonferenzen, Bürosoftware oder Halbleiter: Die Pandemie hat gezeigt, wie stark Europas Wirtschaft auf fremde IT-Anbieter angewiesen ist. Vor allem auf die Techgiganten der USA, zunehmend aber auch auf chinesische Unternehmen.
Seit Biden ins Weiße Haus gezogen ist, wächst das Interesse an einer technologiepolitischen Zusammenarbeit mit den USA in Berlin und Brüssel. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nahm sich am Montag bei einer Veranstaltung im Schloss Bellevue des Themas an. Er beschreibt eine „Konvergenz der Diskussionen“ über die Bändigung des Techsektors in den USA und in Europa. Die Amerikaner, betont Steinmeier, würden die Gefahren eines ungezügelten Daten- und Überwachungskapitalismus inzwischen ebenfalls erkennen.
Eine Tatsache, auf die auch Merkel und ihre Amtskolleginnen Bezug nehmen. „Demokratische Grundwerte stehen im digitalen Zeitalter weltweit unter erheblichem Druck“, schreiben sie. Steinmeier sieht nun sogar die „historische Chance“ gekommen, dem Modell der „digitalen Diktatur“ – eine unverhohlene Anspielung auf China – eine „demokratische Alternative“ entgegenzusetzen.
Das wird man in Washington gern hören. Die neue US-Regierung wirbt um die Europäer und will sie für gemeinsame technologiepolitische Initiativen gewinnen. Ob ein transatlantischer Techkonsens tatsächlich möglich ist, bleibt jedoch fraglich. Jedenfalls betrachten die USA mit einigem Argwohn, dass die Europäer bei der Regulierung der Techindustrie voranpreschen.
Mit dem Digital Services Act und dem Digital Markets Act will die EU die Digitalwirtschaft neuen Regeln unterwerfen. Der DSA definiert neu, welche Rechte und Pflichten Anbieter von Inhalten im Internet haben. Besonders große Plattformen, die mehr als zehn Prozent der EU-Bevölkerung erreichen, sollen viel stärker reguliert werden. Dabei geht es um das Entfernen von illegalen Inhalten und das Aufrechterhalten der Redefreiheit.
Der DMA soll das Wettbewerbsrecht auf Plattformökonomie anpassen: Trotz der vorhandenen Marktaufsicht haben die großen Anbieter wie Google, Facebook und Amazon eine große Marktmacht erreicht und haben nun eine „Gatekeeper“-Funktion. Das heißt, sie bieten kleineren Unternehmen Zugang zum Markt. Darum ist es besonders wichtig, dass sie diese Unternehmen fair behandeln und auch nicht gegenüber ihren eigenen Angeboten benachteiligen.
US-Konzerne wie Facebook, Google und Amazon versuchen, beide Gesetzesvorhaben zu verwässern. Die EU dagegen erhofft sich eine Vorbildwirkung für die ganze westliche Welt. Denn die Macht der Digitalkonzerne ist nicht nur in Europa ein Thema. Zuletzt zeigte der Konflikt zwischen der australischen Regierung und Facebook, dass Staaten und Konzerne zu harten Maßnahmen bereit sind. Auch die EU will vor hohen Strafen nicht zurückschrecken. So sieht der aktuelle Entwurf des DMA Strafen von bis zu zehn Prozent des weltweiten Jahresumsatzes vor.
Moritz Koch, Thomas Sigmund, Christoph Herwartz
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Ursula,
die Digitalisierung ist entscheidend für die wirtschaftliche Erholung in Europa – für Wohlstand, Sicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und das Wohlergehen unserer Gesellschaften. Wir haben in den vergangenen Monaten in Europa mit vereinten Kräften die Aufbau- und Resilienzfazilität verabschiedet, um damit zügig umfangreiche, zusätzliche Investitionen in digitale Projekte zu ermöglichen, wir haben die Zusammenarbeit in der Digitalpolitik gestärkt und ein gemeinsames Vorgehen in der Datenpolitik, bei Künstlicher Intelligenz und der Plattformregulierung vorangebracht.
Gleichzeitig sind jedoch die Abhängigkeiten und Schwächen der europäischen digitalen Kapazitäten, Fähigkeiten und Technologien deutlicher zutage getreten. Digitale Wertschöpfung und digitale Innovationen finden in erheblichem Umfang außerhalb Europas statt. Daten sind die neue Währung, aber sie werden überwiegend außerhalb Europas gesammelt und gespeichert. Und demokratische Grundwerte stehen im digitalen Zeitalter weltweit unter erheblichem Druck.
Es ist daher an der Zeit, dass Europa seine digitale Souveränität stärkt. Wir müssen den digitalen Binnenmarkt in all seinen Dimensionen stärken, damit Innovationen gedeihen und Daten frei fließen können. Wir müssen Wettbewerb und Marktzugang in einer datengetriebenen Welt wirksam sicherstellen. Kritische Infrastrukturen und Technologien müssen resilient und sicher werden. Es ist an der Zeit, dass Regierungen bei der Digitalisierung voranschreiten, um Vertrauen und digitale Innovation zu fördern.
Wir wollen unsere Kapazitäten und Fähigkeiten in Bereichen ausbauen, in denen wir stärker selbstbestimmt sein wollen – zusammen mit demokratischen Partnern in der ganzen Welt und auf der Basis eines starken transatlantischen Verhältnisses. Gleichzeitig wollen wir die wechselseitige Zusammenarbeit stärken und Synergien ausbauen.
Digitale Souveränität heißt für uns, auf unseren Stärken aufzubauen und unsere strategischen Schwächen zu reduzieren, nicht andere auszugrenzen oder protektionistisch zu handeln. Wir sind Teil einer globalen Welt mit globalen Lieferketten, die wir zum Wohle aller gestalten wollen. Wir bekennen uns zu offenen Märkten und freiem, fairem und regelbasiertem Handel. Das ist es, was digitale Souveränität für uns ausmacht.
Wir wollen daher, dass die Europäische Union sich an die Spitze des digitalen Wandels setzt, so wie wir es im Europäischen Rat im Oktober 2020 gefordert haben. Wir sind überzeugt, dass Europa seine digitale Transformation neu beleben und durch eine selbstbestimmte, offene Digitalpolitik flankieren muss, mit digitaler Souveränität als Leitmotiv. Eine solche Digitalpolitik umfasst gleichermaßen die Belange der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Staats, und sie begünstigt den Übergang zu einer grünen Wirtschaft.
Wir appellieren daher an die Europäische Kommission, die erforderlichen Initiativen zu ergreifen, um die digitale Souveränität der Europäischen Union zu stärken. Nach unserer Überzeugung sind dazu drei Schritte nötig:
In einem ersten Schritt muss die Europäische Kommission kritische Technologien und Systeme sowie strategische Sektoren ermitteln. Wir brauchen Klarheit darüber, worin Europas Stärken liegen und wo möglicherweise strategische Schwächen oder risikoreiche Abhängigkeiten bestehen, die zu Versorgungsengpässen und Cybersicherheitsrisiken führen können. Von entscheidender Bedeutung ist dabei eine gründliche Analyse, bei der globale Herausforderungen, Sicherheitsimplikationen, Ressourcenmangel und Marktstrukturen zu berücksichtigen sind.
Dieser Prozess muss transparent sein, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und der Wirtschaft sicherzustellen. Er muss langfristig angelegt sein, weil der digitale Wandel dazu führen kann, dass der Fokus sich in unseren Gesellschaften, unseren Volkswirtschaften, bei unserer Sicherheit und für unsere Bürgerinnen und Bürger verändert: Einige Bereiche werden stärker in den Vordergrund treten, während andere an Bedeutung verlieren werden.
Davon sollte sich auch die Europäische Kommission in ihrem Vorschlag für eine digitale Dekade mit Zielen für 2030 und einem Monitoring leiten lassen, wie wir es im Oktober 2020 im Europäischen Rat erbeten haben.
In einem zweiten Schritt muss die Europäische Union ihre Politik in Bezug auf kritische Technologien und Systeme sowie strategische Sektoren verstärken und präzisieren. Um Abhängigkeiten zu vermeiden, müssen offene Märkte und Lieferketten gewährleistet sein.
Ist dies nicht möglich, sollten wechselseitige Abhängigkeiten geschaffen werden (also keine einseitigen Abhängigkeiten von Monopolen oder Ländern). Ist auch dies nicht möglich, so können als letzte Option europäische Kapazitäten und Fähigkeiten aktiv gefördert und ausgeweitet werden.
In diesem Sinne muss das politische Instrumentarium für die Digitalpolitik auf EU-Ebene und national differenzierte politische Maßnahmen für verschiedene Bereiche enthalten: Es wird entscheidend sein, auf allen Dimensionen unseres Binnenmarkts (Gesundheit, Energie, Transport usw.) aufzubauen.
Wir müssen die gesamte Palette der Politik ausschöpfen und Instrumente aus der Industrie-, Handels- und Wettbewerbspolitik sowie der Forschungs- und Innovationspolitik mit langfristigen Finanzierungsinstrumenten und den Regeln für „Wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI)“ kombinieren.
Wir müssen den digitalen Binnenmarkt ausbauen, um Wachstum von Unternehmen zu erleichtern sowie Innovation und Investitionen zu fördern. Wir müssen Fertigkeiten und Kompetenzen über die gesamte Gesellschaft hinweg ausbauen, mit einem Fokus auf strategische Sektoren. Schließlich muss auch die Digitalisierung von Staat und Verwaltung ein wichtiger Innovationsmotor sein, der Vertrauen für die Erprobung, Umsetzung und Verbreitung von Innovationen schafft.
Zu all diesem sollte die Kommission neue Initiativen vorschlagen und laufende Initiativen verstärken. Wir brauchen solide Rahmenbedingungen für eine innovative, verantwortungsvolle und sichere Digitalwirtschaft mit einem EU-weiten Ökosystem für digitale Identitäten, einem Rechtsrahmen für Künstliche Intelligenz, Exzellenz bei Quantencomputing, EU-basierten Cloud-Lösungen und einem europäischen Vorgehen zur Förderung der Virtualisierung von Kommunikationsnetzen und neuer Technologien (openRAN).
Überdies sprechen wir uns für eine neue globale Initiative zur Plattformregulierung aus, die auf unserer internen Diskussion über das Gesetz über digitale Dienstleistungen („Digital Services Act“) und das Gesetz über digitale Märkte („Digital Markets Act“) in der EU aufbauen sollte.
Die Europäische Kommission sollte auf dieser Grundlage einen Aktionsplan für mehr digitale Souveränität erarbeiten, möglichst als Teil ihrer für März 2021 angekündigten Initiative für die europäische digitale Dekade. Um eine Verfestigung kritischer Abhängigkeiten zu verhindern, sollte darin ein Set von Sofortmaßnahmen enthalten sein, das es Europa erlaubt, in kritischen Bereichen seine digitale Souveränität zu stärken.
Der dritte Schritt sollte ein Monitoringsystem in der EU sein – die rasante Entwicklung in der digitalen Welt macht dies erforderlich. Dieses Monitoring sollte dauerhaft und regelmäßig erfolgen und auf einer breiten gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Grundlage stehen. Damit können wir digitale Entwicklungen voraussehen, unsere Stärken und Schwächen erkennen und entsprechend konkrete Maßnahmen und Instrumente bestimmen. Das Monitoring sollte Innovation und Entwicklung unterstützen, damit Europa souverän, sicher und wettbewerbsfähig bleibt und bei der Entwicklung digitaler Technologien vorangeht.
Die digitale Transformation ist eine der größten Chancen und Herausforderungen für Europas Zukunft. Sie muss den Menschen, unseren Gesellschaften und unseren Volkswirtschaften dienen.
Als Europäerinnen und Europäer haben wir den Anspruch, unsere demokratischen Werte und Regeln auch im digitalen Zeitalter aufrechtzuerhalten – in Europa und in der Welt.
Gleichzeitig wollen wir an der digitalen Wertschöpfung teilhaben, um künftigen Wohlstand in Europa zu sichern und unsere Gesellschaften in das digitale Zeitalter zu führen. Das wird nur gelingen, wenn wir kontinuierlich auf dem Pfad der digitalen Souveränität voranschreiten – selbstbestimmt und offen.
Wir rufen Sie dazu auf, dieses gemeinsame Vorhaben mit dem ganzen politischen Gewicht der Europäischen Kommission zu unterstützen.
Mit freundlichen Grüßen,
Angela Merkel, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland
Mette Frederiksen, Ministerpräsidentin des Königreichs Dänemark
Sanna Marin, Ministerpräsidentin der Republik Finnland
Kaja Kallas, Ministerpräsidentin der Republik Estland
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