Ökonomie ist besonders spannend, wenn sie zu kontraintuitiven Aussagen kommt. Diese könnten provokant wirken, bereichern aber öffentliche Diskussionen, meint Marcus Schreiber.
Marcus Schreiber
Der Autor ist Kolumnist im Handelsblatt Expertenrat.
Bild: Joe McKendry
„Wie kannst Du nur Stierkampf unterstützen? Das ist nicht nur grausam, sondern sogar sadistisch.“ „Und wie kannst Du Dich, mit Deiner Spezialisierung auf Spieltheorie, so von deinen Emotionen statt von deinem Hirn leiten lassen?“ Beim Feierabendbier war ich mit einer meiner Lieblingsmitarbeiterinnen aneinandergeraten. Uns beiden war damals eine Diskussion über Vegetarier aus dem Ruder gelaufen.
Um es vorweg zu nehmen: ich kann Stierkampf rein gar nichts abgewinnen. Ich schaffe es höchstens, fünf Minuten am Stück im Fernsehen Stierkampf anzuschauen. Ich verschiebe seit Jahrzehnten den Besuch einer Stiefkampfarena, den ich mir aus kultureller Neugier verordnet habe. Ich finde es aber problematisch, wenn neue moralische Sichtweisen althergebrachte Traditionen über Bord werfen wollen, statt sie mit der Zeit aus der Gesellschaft rauswachsen zu lassen. Und so kam damals es zu dem Streitgespräch.
In der Diskussion mit meiner Kollegin hatte ich seinerzeit argumentiert, dass, falls es eine Wiedergeburt gäbe und ich als Nutztier wieder auf die Welt kommen solle, ich gerne als Kampfstier wiedergeboren werden würde.
Denn ich bin überzeugt, würde man eine Umfrage am Eingang des Stierhimmels machen, ob das Leben als Kampfstier denn nun summa summarum lebenswert war, erhielte man folgende Antwort: „Mein Leben fernab der Menschen war einfach großartig, ich durfte sechs Jahre leben, während normale Rinder schon nach drei Jahren geschlachtet werden. Das Ende in der Arena war in der Tat nicht schön. Ich war voller Panik aber auch voller Adrenalin, so dass ich kaum Schmerz empfand. Wenn ich höre, dass meine Artgenossen vor dem Schlachthaus anstehen und riechen müssen, was drinnen vor sich ging, war ich im Vergleich gut dran. Kurz gesagt: eine Leben als Kampfstier, nähme ich jederzeit gerne wieder.“
Mein Punkt ist klar: Wer Nutztieren ihren Tod ersparen will, raubt ihnen das Leben. Aus Ekel oder Gesundheitsgründen auf Fleisch zu verzichten – absolut verständlich! Weniger Fleisch zum Schutz des Klimas? Möglicherweise. Aber wer sich um Tierwohl sorgt, soll sich um Tierwohl kümmern und nicht die Tiere abschaffen.
Dies soll keine Anti-Vegetarismus Kolumne sein, sondern eine Jahresendkolumne als Plädoyer fürs Zuhören, Nachdenken und konstruktives Streiten.
Marcus Schreiber ist Gründungspartner und Chief Executive Officer bei TWS Partners. Er verfügt über langjährige Erfahrung im strategischen Einkauf und breites Branchen-Know-how. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich strategischer Einkauf, angewandte Industrieökonomik und Market Design. Außerdem unterstützt er Unternehmen dabei, spieltheoretisches Wissen in komplexen Vergabeentscheidungen anzuwenden.
Ich habe mich persönlich im abgelaufenen Jahr in einem Projekt in Tansania engagiert, das mit extensiver Viehhaltung eine effektive Milchwirtschaft aufbauen will. Wem immer ich davon erzählte, entgegnete mir reflexartig: „Rinder? Mit ihrem Methanausstoß, wirklich?“
Jeder, der diesen Impuls hat, empfehle ich die Dokumentation „Kiss the Ground“ anzuschauen oder „It’s not the Cow, it’s the How“ in eine Suchmaschine einzugeben. Das größte Potential, der Atmosphäre CO2 wieder zu entziehen und den Klimawandel umzudrehen, liegt im Aufbau von kohlenstoffreichen Humusböden. Eine richtig betriebene extensive Viehwirtschaft ist eine sehr effektive Methode, dies zu erreichen. Ich habe mich, anfänglich nur mit wissenschaftlichen YouTube Videos ausgestattet, in dieses Projekt gestürzt. Ob es am Ende gelingt, eine klimaneutrale oder sogar klimapositive Milchwirtschaft zu betreiben, kann ich noch nicht sagen, aber das Schöne ist, es kommt noch nicht einmal darauf an. Warum?
Die Bevölkerung von Tansania wird sich in diesem Jahrhundert verdrei- oder vierfachen, und man kann eine gerade Linie in der Korrelation zwischen Bevölkerungswachstum und Milchverbrauch ziehen. Die Verzichtsfraktion unter den Klimaschützern würde jetzt einen geringeren Milchkonsum vorschlagen. Ich halte das in einem Entwicklungsland bei einem Grundnahrungsmittel gelinde gesagt für anmaßend, vor allem, weil der Pro-Kopf-Konsum an Milch in Afrika schon weit geringer ist als in Europa.
In einem Land wie Tansania besteht die Milchwirtschaft weitestgehend aus bäuerlicher Kleinstproduktion, bei der für die Haus-Kühe von irgendwo nährwertarmes Gras organisiert wird. Nun rülpst und flatuliert eine Kuh relativ unabhängig von ihrem Milchertrag (und stößt entsprechend Methan aus). Wem es gelingt, durch gezieltes Verfüttern von proteinreichen Weidegräser aus der Region, einen drei- bis vierfachen Milchertrag pro Kuh zu erwirtschaften, anstatt wie für Turbokühe in Megaställen üblich, das Futter von weit her anzukarren, der reduziert die Anzahl der Kühe und damit den Methanausstoß.
Ja, die Kühe stoßen den Klimakiller Methan aus, allerdings habe ich mit meinem Projekt in Tansania nicht nur ein reines Gewissen, sondern sehe es, wenn es Schule macht, sogar als sehr relevanten Beitrag zur Rettung des Planeten.
Stierkampf
"Ich finde es aber problematisch, wenn neue moralische Sichtweisen althergebrachte Traditionen über Bord werfen wollen, statt sie mit der Zeit aus der Gesellschaft rauswachsen zu lassen."
Bild: dpa
Methan-Emissionen von Kühen, Klimaschutz, Covid-Maßnahmen, kapitalistisches Wirtschaftssystem, Rassismus – alles triggert sofort ein moralisch aufgeladenes, aber de facto meist ideologisch verblendetes Trommelfeuer. Ich habe dieses Jahr in Beiträgen geschrieben, dass Elektroautos klimaschädlich sind, solange sie Braunkohlekraftwerke am Laufen halten, dass einseitige CO2-Einsparungen Deutschlands oder Europas ohne Reziprozität kontraproduktiv sind und dass eine Triage für Ungeimpfte vor allem die Leben von Ungeimpften retten könnte.
Alle Aussagen wirkten auf den ersten Blick provokant, waren aber immer nur das Ergebnis konsequenter ökonomischer Analyse. Und Ökonomie ist dann besonders spannend, wenn sie zu kontraintuitiven Aussagen kommt und so die öffentliche Diskussionen bereichern.
Spieltheorie ist eine Methode, die dies ermöglicht: Dinge vom Ende herzudenken. Der erste Schritt zur Anwendung ist es, sich in die Schuhe der anderen zu versetzen - und sei es in die eines Kampfstiers im Rinderhimmel.
Meine Mitarbeiterin und ich haben uns noch den ganzen Abend beschimpft, aber auch wirklich zugehört und zusammen gelacht. Als liberaler Zentrist wünsche ich uns allen in 2022 mehr davon.
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