Ukrainekrieg, Energiekrise und Inflation – 2022 war ein großes Krisenjahr. Glück und Unglück konstruieren wir uns aber oft selbst in unseren Köpfen, meint Marcus Schreiber.
Glücksklee
Wir haben noch viel Nachholbedarf, in Krisen die Chancen zu sehen, sagt Marcus Schreiber.
Bild: dpa
Als ich mit meiner Tochter das englische Internat für ihr Auslandsjahr aussuchte, ging ich völlig selbstverständlich davon aus, dass die Schüler jeden Morgen vor der Schule bei Wind und englischem Wetter zum Laufen gehen würden. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, ist doch klar, plus ein bisschen Abhärtung gegen das Internatsessen.
Stattdessen trafen sich die Schüler jeden Morgen vor Schulbeginn, um über ihr psychologisches Wohlbefinden zu reden. „Wenn zwanzig Teenager jeden Tag in sich reinhören, ob es ihnen auch wirklich gut geht, dreht jeden Tag eine andere am Rad und sie stecken sich auch gegenseitig mit ihrer Hysterie an. Eine kleine Depression gehört bei uns zum guten Ton“, spottete meine Tochter, die ich bis dahin eher auf der sensiblen Seite verortet hatte.
Ich sah mich in meinem „Hintern zusammenkneifen“-Weltbild bestätigt. Doch dann kam das Jahr 2022. Nicht nur in meinem engsten Umfeld hatten Kinder und Jugendliche nach den Covid-Jahren schwerste psychische Probleme. Auch ein befreundeter Vorstand eines Großkonzerns – für mich einer der besten in seiner Funktion – gab seinen Job wegen Angststörungen auf.
Angststörungen? Als Vorstand eines Weltkonzerns? Das entsprach nicht meinem Weltbild. Wer einen solchen Job machte, hatte einen psychischen Selektionsprozess schon hinter sich und schien für mich vor so etwas gefeit zu sein.
Gleichzeitig bewunderte ich ihn, wie offen er mit mir im Vorfeld und Nachgang seiner Entscheidung über dieses Thema sprach. Ich hielt anfangs einen, für meine Generation nicht untypischen „Durchhaltesermon“, dass er seinen Vorstandsvorsitzenden ohnehin überleben werde, dass er Konflikte wie olympisches Ringen sportlich nehmen müsse. Er tat das alles mit einem milden Lächeln ab. Letztendlich hatte er den Mut, scheinbar Schwäche zu zeigen, eine über 30-jährige Karriere in einem Unternehmen, Geld und Status aufzugeben, um sich ohne Plan B um sich und seine Familie zu kümmern.
Marcus Schreiber ist Gründungspartner und Chief Executive Officer bei TWS Partners. Er verfügt über langjährige Erfahrung im strategischen Einkauf und breites Branchen-Know-how. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich strategischer Einkauf, angewandte Industrieökonomik und Market Design. Außerdem unterstützt er Unternehmen dabei, spieltheoretisches Wissen in komplexen Vergabeentscheidungen anzuwenden.
Diese beiden Extrempunkte hatte ich im Kopf, als wir zu entscheiden hatten, wie wir in der Zukunft in unserem Unternehmen mit dem Thema mentale Gesundheit umgehen. Wie in weiten Teilen der Wirtschaft forderten nach den Covid-Jahren die Umstellung auf virtuelle Meetings, die reduzierten persönlichen Kontakte mit Kunden und Kollegen und das Arbeiten von zu Hause ihren Preis.
Meine Kollegen und ich wussten aus unserer professionellen Expertise in Verhandlungen, welch unglaublich psychologische Macht Fokuspunkte und gutes „Agenda Setting“ haben können. Ein Thema auf die Tagesordnung zu setzen, macht es unter Umständen erst wirklich groß. Totschweigen und „Psychomachismo“ lässt Mitarbeiter, die Hilfe brauchen, dagegen allein.
Psychologische Resilienz muss man sich erarbeiten und grundsätzlich in einem Leistungsprofil auch einfordern. Das bedeutet aber wiederum, mentales Wohlbefinden und mentale Stärke zu thematisieren, ohne das Thema automatisch zu pathologisieren.
Es gab noch nie so viele Psychotherapeuten in Deutschland und doch wurde noch nie so viel über einen Mangel an Therapiemöglichkeiten geredet. Schaffen sich hier die Psychologen ihren eigenen Markt? Oder sind wir sensibler und dem Thema gegenüber offener geworden oder haben wir mit unseren Kindern – bildlich gesprochen – zu viel Handball gespielt, ohne die Tore zu zählen, damit sich niemand als Verlierer fühlt und haben so eine hypersensible, nicht belastbare Generation herangezogen?
Der Grat ist unglaublich schmal. Wie kann man einerseits die mentale Resilienz erhöhen und gleichzeitig die Hemmschwelle senken, damit sich die Hilfe holen, die sie wirklich brauchen. Letztendlich sind viele unserer Jobs und das Familienleben mit Kindern psychologischer Leistungssport. Und so wie Sportler mit großer Selbstverständlichkeit an ihrer körperlichen Fitness arbeiten und sich ärztliche Hilfe holen, wenn es ein Problem gibt, so sollten wir es auch mit unserer Psyche und der Kommunikation darüber halten. Weder macht es Sinn, jeden Morgen vor dem Training in sich reinzuhören, ob man nicht doch verletzt ist, noch sollte man verletzt Wettkämpfe bestreiten.
>> Lesen Sie auch: Hybride Psychotherapie bietet Hilfe für junge Erwachsene
Zur Eigenorientierung und als Vorbereitung auf diesen Beitrag habe ich nach Jahrzehnten wieder Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“ gelesen. Mit unglaublich viel Sprachwitz macht Watzlawick, Professor für Psychotherapie, sich über unser Talent unglücklich zu sein lustig. Ich habe vor allem mitgenommen, wie wenig wir in der Lage sind, absolutes Glück zu empfinden. In anderen Worten, wir brauchen Referenzgrößen oder gar negative Ereignisse, um zu schätzen, was wir haben. Aber sogar diese Chancen lassen wir gerne ungenutzt.
Womit wir beim großen medialen Jahresendthema wären, dem Krisenjahr 2022. Wir schaffen es tatsächlich, unsere anfängliche Empathie für die Ukrainer in eine weinerliche Nabelschau zu verwandeln. Statt angesichts von Menschen, die bei Minusgraden in Kellern hausen, sich über die 19 bis 21 Grad in unseren Wohnzimmern zu freuen, sprechen wir von unzumutbaren Belastungen. Statt sich unseres Wohlstands bewusst zu sein, sprechen Politiker und Journalisten von Unruhen in Deutschland, weil wir auf das Wohlstandsniveau von 2014 zurückfallen könnten.
Wir haben eine Politikergeneration, die der Bevölkerung einredet, sie könnten jede Form von Unbill von den Menschen abhalten – das muss zu Frustration führen. Gott sei Dank sieht der Großteil der Menschen in Deutschland die persönliche Lage sehr viel besser als die Situation des ganzen Landes, was uns viel über das „Framing“ erzählt, dem wir dauerausgesetzt sind.
Es ist schon fast ein Gemeinplatz, dass das chinesische Schriftzeichen für Krise aus denen für „Chance“ und „Risiko“ zusammengesetzt ist. Glück und Unglück konstruieren wir uns weitestgehend selbst in unseren Köpfen, und wir haben noch viel Nachholbedarf, in Krisen die Chancen zu sehen. In diesem Sinne uns allen ein glückliches und mental gesundes Jahr 2023!
Auf tippen, dann auf „Zum Home-Bildschirm“ hinzufügen.
Auf tippen, dann „Zum Startbildschirm“ hinzufügen.
×