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02.10.2021

13:57

Gastkommentar

Wer die richtige Struktur in die Koalitionsverhandlungen bringt, der gewinnt das Land

Von: Marcus Schreiber

Im Gegensatz zu 2017 führen Grüne und FDP zuerst Vorsondierungen. Gegenüber der SPD und der Union besitzen die beiden Parteien eine enorme Verhandlungsmacht.

2017 wollten beide Parteien partout keine Vorsondierungen führen. Nun agiert das Spitzenpersonal beider Seiten anders. dpa

Grüne und FDP

2017 wollten beide Parteien partout keine Vorsondierungen führen. Nun agiert das Spitzenpersonal beider Seiten anders.

Koalitionsverhandlungen nach Bundestagwahlen sind ein Eldorado für Verhandlungs- und Spieltheoretiker. Je komplexer und scheinbar undurchschaubarer, desto interessanter. Schon die Verhandlungen im Wahljahr 2017 waren hochspannend. Es war für Experten kaum mit anzusehen, wie Union, Grüne und FDP sie systematisch an die Wand fuhren.

Immerhin scheinen die Akteure gelernt zu haben. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es nicht nur für das Gelingen des Ganzen auf die Verhandlungsstruktur ankommt, sondern dass eine optimale Verhandlungsstruktur auch die eigene Verhandlungsmacht optimiert.

2017 wollten Grüne und FDP partout keine Vorsondierungen führen. Dieses Mal planen sie das genaue Gegenteil. Sie verweigern SPD und CDU sogar den Anspruch, zu Sondierungen einzuladen und verabredeten sich stattdessen erstmal selbst.

Idealerweise wird daraus ein echter zweistufiger Verhandlungsprozess, in dem Grüne und FDP zuerst eine gemeinsame Position und gemeinsame Forderungen formulieren, und erst in einem zweiten Schritt in Gespräche mit der SPD oder Union einsteigen.

In den letzten 20 Jahren hat sich niemand fieser gekeilt als Grüne und FDP. Ich hoffe, die Grünen lassen diesmal zu den Vorsondierungen ihre Altlinken zu Hause. 2017 wurde der eigentlich schon marginalisierte Jürgen Trittin in der Rolle des skeptischen Nein-Sagers in die vorderste Linie geschoben, um der Union zu signalisieren: „An dem müsst ihr erst mal vorbeikommen.“

Königsmacher nicht an den Katzentisch

In einer anderen Verhandlungssituation wäre es ein kluger Zug, die größten Skeptiker als „Verhandlungsbarrieren“ einzusetzen, aber eben nicht bei Verhandlungen mit drei Spielern. Das führte 2017 zu quasi-bilateralen Verhandlungen zwischen der Union und den Grünen und verfrachtete die FDP an den Katzentisch – und diese ließ dann bekanntermaßen alles platzen.

Heute wären FDP und Grüne in jedem Fall die Aufbruchsparteien einer neuen Regierung. Wenn sich die beiden Partner auf den Kern einer Agenda einigen, kann ein Momentum entstehen, dem sowohl die mögliche Kanzlerpartei – sei es die SPD oder die CDU –, als auch die eigene Basis schwer etwas entgegensetzen könnte.

Grüne und FDP können bilateral viel leichter ihre Gegensätze adressieren und gemeinsame Lösungen definieren. Ich kann ihnen nur empfehlen, Themen zu suchen, bei denen die eine Seite für eine Sache wirklich brennt, aber die Gegenseite nicht spiegelbildlich die entsprechende negative Einstellung zu diesem Thema hat. Auf dieser Basis müssen beide vereinzelt wirklich glänzen können, statt überall den lauwarmen Kompromiss zu suchen. Bei den Themen Klima und Steuern ließe sich da einiges erreichen.

Beim Klimaschutz ist den Grünen das „Wieviel“ wichtig, der FDP mehr das „Wie“. Wenn die beiden sich auf ein „Paris-Plus“ Ziel auf Basis eines holistischen europäischen Zertifikathandels einigen, wäre ein erster Anker gesetzt. Bei den Steuern ist die kalte Progression die potenzielle Schnittmenge der beiden.

Herr Lindner muss nur einen klaren Fokuspunkt setzen, dass der Einstieg in den Spitzensteuersatz im Verhältnis zu den Gehältern so gesetzt wird, wie das SPD und Grüne selbst vor knapp 20 Jahren festgelegt haben. Das hieße, der Spitzensteuersatz würde erst ab 80.000 Euro statt wie bisher schon unter 60.000 Euro greifen.

Marcus Schreiber ist Gründungspartner und Chief Executive Officer bei TWS Partners. Er verfügt über langjährige Erfahrung im strategischen Einkauf und breites Branchen-Know-how. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich strategischer Einkauf, angewandte Industrieökonomik und Market Design. Außerdem unterstützt er Unternehmen dabei, spieltheoretisches Wissen in komplexen Vergabeentscheidungen anzuwenden.

Olaf Scholz: Nach außen Verhandlungsmacht verloren, nach innen gewonnen

In der Verhandlungstheorie bestimmt die Qualität der eigenen Alternativen die Struktur und das Ergebnis der Verhandlung – was auf zwei Ebenen relevant ist für die Koalitionsverhandlungen und die SPD.

Natürlich ist die SPD wegen Scholz‘ Popularität in der Kanzlerfrage und der Zugewinne im Vergleich zu 2017 der natürliche Verhandlungspartner der beiden Kleineren. Die CDU bleibt aber weiterhin eine Option, auch wenn Herr Laschet seit Sonntagabend weiter in der öffentlichen Wahrnehmung geschrumpft ist. Aber eine Option bleibt eine Option für Grüne und FDP – und dies gibt beiden enorme Verhandlungsmacht oder, andersherum gedacht, schwächt die Position der SPD, insbesondere wenn die CDU fast alle Forderungen der zukünftigen Koalitionspartner schlucken würde, um nur an der Macht zu bleiben.

Während des Wahlkampfes wollte Scholz Rot-Rot-Grün nicht ausschließen. dpa

Olaf Scholz

Während des Wahlkampfes wollte Scholz Rot-Rot-Grün nicht ausschließen.

Mit dem Wahlergebnis hat Scholz zwar Verhandlungsalternativen verloren, dadurch aber innerparteilich Verhandlungsmacht gewonnen. Obwohl die Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung der Linken den Endspurt der Union noch einmal befeuert hat, hat er Rot-Rot-Grün nicht ausgeschlossen. Diese Option hätte ihn in die Position gebracht, die Struktur der Sondierungen zu bestimmen und letztendlich der FDP ein Ultimatum zu stellen.

Ich bezweifle dennoch, dass Scholz zu traurig ist, dass ihm diese Option nun nicht zur Verfügung steht. Jeder in der SPD weiß, dass die Union nur den Kanzler stellen wird, wenn die SPD sich nicht mit der FDP einigen kann – ein fantastisches Disziplinierungsinstrument für Scholz gegenüber seiner Partei, die bisher noch jedem ihrer Anführer in den Rücken gefallen ist.

CDU/CSU: Die Verhandlungsmacht der SPD schwächen

Und die Union? Abgesehen davon, dass sie sich schleunigst entscheiden sollte, ob sie Laschet bis zu einer Regierungsbildung uneingeschränkt stützt oder Söder zu ihrem Gesicht macht, sollte sie keinesfalls versuchen, die Verhandlungen gegen die Dynamik der öffentlichen Meinung an sich zu ziehen, sondern vor allem Scholz‘ Verhandlungsmacht gegenüber der FDP schwächen. Söder hat dafür das Wort „Angebotsauftrag“ erfunden.

Ich wäre deutlicher und würde klipp und klar sagen, „die Union hat nur den Anspruch auf das Kanzleramt, wenn die SPD es vermasselt“. Das erhöht den Druck auf Scholz. Entweder scheitern die Ampelverhandlungen, dann steigt die Akzeptanz eines unionsgeführten Kanzleramtes, oder SPD und FDP einigen sich letztendlich auf Basis schmerzhafter Kompromisse, was der Union wiederum den Raum zu programmatischen Erneuerung und zur Rückgewinnung vieler Wähler gibt.

Im Klartext, wenn die Union es gut spielt, kann sie aus dem Desaster sogar einen strategischen Vorteil für die Zukunft ziehen.

Obwohl es, schon um die Interessen Deutschlands entsprechend zu vertreten, aus meiner Sicht zum Aufgabenprofil eines Spitzenpolitikers gehört, strategisch zu denken und zu verhandeln, ist eine solche Denkweise in der Öffentlichkeit unter der Kategorie „Machtspielchen“ eher verpönt. Deshalb muss die faktische Härte beim Kampf um Verhandlungshoheit und Struktur mit noch mehr Charme eingekleidet werden; oder wie die Lateiner sagten: „Fortiter in re, suaviter in modo“ – hart in der Sache, mild in der Form.

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