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26.05.2022

18:30

Gastkommentar

Darf in der aktuellen Krise nachhaltige Landwirtschaft noch Priorität sein?

PremiumDer Angriff auf die Ukraine verschärft den Hunger weltweit, zeigt aber auch ungerechte Agrarstrukturen. Die müssen jetzt geändert werden, fordert Renate Künast.

Die Autorin ist Mitglied des Deutschen Bundestages und war von 2001 bis 2005 Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. imago images/Christian Thiel

Renate Künast

Die Autorin ist Mitglied des Deutschen Bundestages und war von 2001 bis 2005 Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft.

„The World is on fire“ – mit Corona, dem Angriff auf die Ukraine, Klimakrise, dem massiven Verlust an Biodiversität und rapide steigenden Kosten in der Versorgungskette haben sich mehrere Krisen bedrohlich übereinandergelegt.

Es braut sich ein sogenannter „perfect storm“ zusammen. Die Lebensmittelversorgung von Millionen Menschen ist zunehmend in Gefahr. Der russische Angriffskrieg führt aktuell zu Preissteigerungen, die vor allem auf Kosten der Ärmsten gehen, da sie den höchsten Anteil ihres Budgets für Lebensmittel ausgeben.

Das gilt für Deutschland und ganz besonders für die Ärmsten der Armen in Afrika, dem Nahen Osten und Südostasien. In diesen Ländern geben Familien schon jetzt etwa 70 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus. Selbst das World Food Programme kommt unter finanziellen Druck.

Putin setzt den Hunger als Waffe ein

Ich denke, dass Putin diese Fakten genau kennt. Er setzt den Hunger als Waffe zur Destabilisierung von Gesellschaften und als moralischen Druck ein. Gegen die auf Importe existenziell angewiesenen Länder, aber auch gegen die EU.

Manche fordern nun, darauf mit einem Rollback der Ökologisierung der Landwirtschaft zu reagieren. Das aber würde heißen, die Augen vor den massiven mittelfristigen Auswirkungen der Krisen zu verschließen.

Ein Blick auf die Fakten: Wir haben ein Verteilungs-, kein Mengenproblem. Es wäre genug für alle da. In Deutschland nutzen wir von den knapp zwölf Millionen Hektar Ackerfläche etwa 60 Prozent für Futtermittel, aber nur 20 Prozent direkt für die menschliche Ernährung.

Die Lebensmittelversorgung von Millionen Menschen ist zunehmend in Gefahr. dpa

Traktor mit Mähwerk

Die Lebensmittelversorgung von Millionen Menschen ist zunehmend in Gefahr.

Hinzu kommen weitere zwölf Millionen Hektar, die in anderen Ländern für Deutschland „belegt“ sind, ebenfalls vor allem für Futtermittel wie etwa Soja aus Südamerika. Fakt ist: Schon seit Jahren produzieren wir auf die Kalorien gerechnet ausreichend Lebensmittel und trotzdem hungern im Moment 800 Millionen Menschen.

Die hungernden Menschen brauchen erst einmal akut Hilfe, aber als nächsten Schritt eine andere Agrarpolitik, damit sie sich besser als heute in ihren Regionen selbst ernähren können. Dazu müssen dort andere Ernährungssysteme aufgebaut werden.

80 Prozent der Entwaldung gehen auf die Lebensmittelproduktion zurück

Damit steht aber auch unser Ernährungssystem und die EU-Agrarpolitik vor einer immensen Herausforderung: Die Klimakrise wartet nicht, das Artensterben schreitet voran, die Degradation ehemals fruchtbarer Böden ist dramatisch.

Heute schon sind 20 bis 40 Prozent der globalen Landfläche degradiert, was zu jährlichen Kosten von etwa 50 Milliarden Euro führt. Eine Klimaerhitzung um zwei Grad Celsius würde in weiten Teilen der Welt zu einer Reduktion der Weizenernten um zehn bis 50 Prozent führen.

Wetterkatastrophen führten seit dem Jahr 1980 laut Munich Re zu etwa 4200 Milliarden US-Dollar an Kosten (unterbrochene Lieferketten sind nicht einberechnet) und niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, dass dies durch die Klimakrise schlimmer werden wird.

Die Krisen verstärken sich noch gegenseitig. 80 Prozent der Entwaldung, etwa 30 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen und 70 Prozent der Süßwassernutzung gehen auf die Produktion von Lebensmitteln zurück.

Die intensive Landwirtschaft ist durch Monokulturen, den Einsatz von energieintensiven Düngemitteln und Pestiziden eine der Hauptursachen für den dramatischen Verlust der Artenvielfalt. Bestäubende Insekten sind aber eine der Grundlagen für die Zukunft der Ernährung.

Den Profiten der Agrarindustrie hat es nicht geschadet, sie erzielt weiterhin Rekordumsätze. Die Verheißungen der Agrarchemie und der Saatgutkonzerne bedienen aber allein ihre eigenen Interessen, für die Menschen vor Ort haben sich ihre Versprechen nicht erfüllt.

Südamerikanische, afrikanische und asiatische Länder haben ihr Ackerland und ihre Wälder für unsere Tanks und Tröge degradiert. Dabei sind deren eigene Ernährungsinteressen hinten runtergefallen. Es herrschen Armut und Hunger.

Wir müssen erhalten, was uns ernährt

Ernährungssicherung muss endlich das ganze System betrachten. Nicht von ungefähr geht die internationale Debatte um den Aufbau oder den Erhalt von Food Systems und nicht nur um die kurzfristige Hilfe.

Im Moment produzieren und konsumieren wir viel vom Falschen, was zu einer nie da gewesenen Umweltzerstörung und zu Hunger auf der einen Seite, zu Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Fettleibigkeit auf der anderen Seite führt.

Mit der von der EAT-Lancet-Kommission erarbeiteten Planetary Health Diet könnten zehn Milliarden Menschen gesund ernährt werden, ohne die planetaren Grenzen zu überschreiten. Dafür müsste sich aber der Konsum von Hülsenfrüchten, Obst, Gemüse und Nüssen verdoppeln, der von Fleisch und Zucker halbieren. Anstatt also allein die schiere Menge an Agrarrohstoffen zu betrachten, richten wir den Blick auf die weltweite Verteilung und die Vielfalt auf unserem Teller.

In der aktuellen Krise müssen wir ganz akut die humanitäre Hilfe, etwa für das World Food Programme, aufstocken und dafür sorgen, dass die Märkte offen bleiben. Nur so können massive Preisanstiege vermieden und den Ärmsten der Armen geholfen werden.

Wer jetzt die nachhaltige Landwirtschaft aussetzen will, gefährdet die Grundlage der Lebensmittelproduktion

Ernährungsarmut in Deutschland, einem der reichsten Staaten der Welt, ist zudem ein Armutszeugnis für uns selbst. Eine sinnvolle Maßnahme, die den Weg in ein besseres Ernährungssystem weisen kann, ist die Absenkung der Mehrwertsteuer für pflanzliche Lebensmittel wie Hülsenfrüchte, Getreide, Obst und Gemüse.

Eine weitere Maßnahme muss sein, die Beimischung von Agro-Kraftstoffen zu beenden. Der ökologische Fußabdruck von Produkten und damit die wahren Kosten für uns alle müssen endlich sichtbar werden. Wir müssen die Lebensmittelverschwendung bekämpfen und die Zahl der gehaltenen Tiere deutlich reduzieren.

Würden die in Deutschland gehaltenen Schweine durch höheren Tierschutz um 20 Prozent reduziert, so stünden rund eine Million Tonnen Getreide für den direkten menschlichen Verbrauch zur Verfügung.

Hierzu bedarf es natürlich auch eines geringeren Konsums tierischer Produkte. Die Außer-Haus-Verpflegung hat hierbei eine wichtige Vorbild- und Lenkungsfunktion, denn Millionen Menschen essen täglich in den Kantinen von Behörden, Krankenhäusern, Universitäten, Schulen, Altenheimen und Kitas.

Die hier vorhandene Nachfragekraft bestimmt heute schon entscheidend mit, was produziert wird. Es liegt in unserer Verantwortung, die vorhandene Nachfrage künftig mit allen anderen Politikzielen wie etwa den Klimazielen, der Biodiversität und der regionalen Wertschöpfung zu harmonisieren.

Wer jetzt die Ökologisierung der Landwirtschaft aussetzen will, gefährdet tatsächlich die Grundlagen der Lebensmittelproduktion und der landwirtschaftlichen Betriebe. Dabei muss das Motto lauten: Erhalten, was uns ernährt. Der Angriff auf die Ukraine verschärft den Hunger auf der Welt, zeigt aber auch schonungslos ungerechte internationale Agrarstrukturen. Die zu ändern, darauf kommt es jetzt an.

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